Wahlkampf findet längst auch online statt. Doch in Deutschland ist dieses zunehmend wichtige Feld der Wahlwerbung noch immer erstaunlich unreguliert. FakeNews sind nur eine unerfreuliche Folge dieses Mangels. Santino Anderer beleuchtet die Thematik.
Wahlkampf via Instagram, YouTube und Co: Social Media-Kanäle, Suchmaschinen, Videoportale und Messenger-Gruppen generieren eine Reichweite von Millionen potenzieller Wähler*innen. Im digitalen Wahlkampf nutzen Parteien und politisch Werbende die Plattformen, um Positionen zu präsentieren, Wahlberechtigte zu mobilisieren, Gegner*innen zu kritisieren oder Spenden einzuwerben. Allerdings kann der Einsatz von digitaler politischer Kommunikation auch intransparent und antidemokratisch sein, kritisiert die Nichtregierungsorganisation Goliath Watch. „Wir laufen Gefahr, dass sich Trump-Methoden wie im Brexit oder bei Bolsonaro im aktuellen Bundestagswahlkampf wiederholen“, warnt Geschäftsführer Dr. Thomas Dürmeier.
How to get votes online (fast)
Die Notwendigkeit von digitaler Wahlwerbung ist offensichtlich. Der Vorteil: Neben der großen Reichweite können Plattformen wie Facebook, Instagram oder YouTube (Wahl-)Werbung kostengünstig und gezielt ausspielen. Die Pandemie hat den Ausbau und die Nutzung des Internets weiter gefördert, sodass auch politische Meinungsbildung vermehrt online stattfindet. Laut Schätzungen der Stiftung Neue Verantwortung haben allein deutsche Parteien im Wahlkampf für das Europäische Parlament 2019 rund 1,5 Millionen Euro für Online-Werbung ausgegeben.
Anders als im traditionellen Straßen- und Fernsehwahlkampf bestehen in digitalen Räumen allerdings nur schwache Regularien, die einen fairen und manipulationsfreien Wahlkampf garantieren. Personalisierte Werbung durch Microtargeting und der Einsatz sogenannter Social Bots und Trolle ermöglichen Parteien und bezahlten Influencer*innen Menschen online nach soziodemographischen Kategorien gezielt anzusprechen, einseitig zu informieren und psychologisch zu manipulieren. So wurden Social-Media-Kanäle in den Tagen vor dem Brexit-Referendum dermaßen von Pro-Kampagnen überflutet, dass oppositionelle Stimmen in der Informationsflut regelrecht ertränkt wurden.
Der*die gläserne Wähler*in
Spätestens seit dem Skandal um Cambridge Analytica ist bekannt, dass soziale Medien wie Facebook die Informationen ihrer User*innen speichern, um detailreiche personalisierte Datenprofile anzulegen. Durch die Anpassung von Informationen an das individuelle Alter, Geschlecht, die Region oder Interessen von User*innen entstehen sogenannte Filterblasen. Der Algorithmus schlägt nun Beiträge vor, die den abgeleiteten Vorlieben und Abneigungen (Likes und Suchverhalten) des Individuums entsprechen. Durch Microtargeting, also die zielgruppen-spezifische Ausspielung von Werbung, können politische Parteien im digitalen Wahlkampf gezielt in diese Filterblasen eindringen. Das erlaubt ihnen beispielsweise (nur) einzelne Inhalte des Wahlprogramms bereitzustellen oder sogar widersprüchliche Wahlversprechen abzugeben.
Wildwest-Situation in den Sozialen Medien
Die datengestützten Verhaltensprofile, von denen die politisch Werbetreibenden profitieren, basieren auf einer Fülle an Informationen, die offline nicht verfügbar sind. Politisch Werbende können Kampagnen nicht nur zielgruppenspezifisch ausspielen, sondern auch überprüfen, auf welche Inhalte besonders stark oder wenig reagiert wird und gegebenenfalls Anpassungen vornehmen. Digitale Wahlwerbung ist demnach nicht nur situativ anpassungsfähig, sondern auch vergleichsweise ressourcengünstig. Die große Reichweite digitaler Netzwerke erlaubt es außerdem, dass noch lange, nachdem eine Kampagne ausgespielt wurde, Inhalte durch User*innen auf Profilen und in Chaträumen verbreitet werden. Weil sich geschlossene Messenger-Gruppen einer rechtlichen oder institutionellen Kontrolle entziehen, öffnen digitale Räume allerdings auch vermehrt Türen für Hate Speech und Desinformations-Kampagnen. Die Schießerei infolge der Pizzagate-Verschwörungstheorie um Hillary Clinton von 2016 oder die Stürmung des Kapitols am 06. Januar in Washington veranschaulichen, wie Filterblasen und Fake News Polemik und Diskriminierung in den analogen Alltag kopieren können.
Eine Anfang September veröffentlichte Studie der Nichtregierungsorganisation Avaaz zeigt, dass im aktuellen Wahlkampf insbesondere Annalena Baerbock, Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Ziel von falschen oder irreführenden Informationskampagnen ist. Demnach entfielen unter den drei Kanzlerkandidat*innen 71% der 800 untersuchten Desinformations-Attacken auf sie.
Fairer Online-Wahlkampf ohne Union
Politische Werbung in Deutschland unterliegt Regeln, die primär für den traditionellen Straßen- und Fernsehwahlkampf erschaffen worden sind. Etwa bestehen in TV und Rundfunk Ober- und Untergrenzen für Werbespots, die verhindern, dass eine politische Interessensgruppe überproportional repräsentiert wird. Dass Regeln für Online-Werbung hingegen der Selbstverpflichtung politisch Werbender und den global agierenden High Tech-Unternehmen hinter den Sozialen Netzwerken überlassen werden, ist laut Dr. Thomas Dürmeier von Goliath Watch unzureichend. Die Hamburger NGO hat anhand von Wahlprüfsteinen den Umgang der etablierten Parteien mit digitaler Wahlwerbung untersucht:
Während Bündnis 90/Die Grünen und die SPD sich klarer Selbstverpflichtungen für einen fairen digitalen Wahlkampf auferlegt haben, verweigert die Union bis heute Auskunft über ihren Umgang mit digitalen personalisierten Werbemethoden, trotz Protest von Goliath Watch. Dürmeier bedauert: „Das ist der nächste Skandal der Intransparenz. Will die CDU ähnlich wie Donald Trump oder wie im Brexit Methoden der digitalen Verhaltensmanipulation einsetzen?“
Die Auswertung der Antworten von SPD, Grünen, FDP und der Linken verdeutlicht, dass alle Parteien im digitalen Wahlkampf Microtargeting nutzen, um gezielt Wahlberechtigte anzusprechen. Standards, Grenzen und Regulierungsvorschläge für politische Online-Werbung unterscheiden sich allerdings. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke sehen Fake News, Hate Speech, Social Bots und Diskriminierung als konkrete Bedrohung für die Demokratie im digitalen Wahlkampf an. Während die FDP die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) für ausreichend hält, um Nutzer*innen zu schützen, will die Linke proaktiv gegen Desinformation vorgehen und die Marktmachtstellung der großen Digitalkonzerne entflechten. Aufgrund des Parteispendenskandals und Falschmeldungen, die die Partei in der Vergangenheit produziert und verbreitet hat, wurde die AfD von Goliath Watch nicht befragt.
Campaign Watch fordert Regularien
Gemeinsam mit dem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis Campaign Watch hat Goliath Watch eine Petition gestartet, die die zukünftige Bundesregierung aufruft, politische Online-Werbung gesetzlich zu regulieren. „Wir erwarten von der nächsten Bundesregierung vergleichbare Regeln wie im traditionellen Straßen- und Fernsehwahlkampf“, fordert Dürmeier.
Das Bündnis, zu dem auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und Reporter ohne Grenzen zählen, fordert die konsequente Durchsetzung von Sorgfalts- und Rechenschaftspflichten für die Netzwerke, Werbefirmen und politische Kundschaft. Dafür benötige es plattformenübergreifende Begrenzungen für Microtargeting, Mindestgrößen für Werbezielgruppen und Grenzen für Online-Werbeausgaben. Im Interesse der Öffentlichkeit sollen Netzwerke und Datenarchive für Zivilbevölkerung, Forschende und Journalist*innen einsehbar gemacht werden, um die Funktionsweisen und algorithmischen Ausspielungen von Plattformen zu überprüfen. Auch das 2020 eingerichtete Europäische Gremium für Digitale Dienste arbeitet aktuell an einer Verschärfung der Regularien für digitale politische Werbung. Die parlamentarisch legitimierte und unabhängige Stelle soll die Transparenzpflichten und Kampagnenfinanzierung nicht nur von Parteien, sondern von allen politisch Werbetreibenden und das Risikomanagement der Plattformen beaufsichtigen.
Doch noch greifen die geforderten bzw. von den Parteien angekündigten Regularien nicht, sodass manipulative und personalisierte Werbemethoden in vielen digitalen Räumen Vorfahrt vor einem transparenten und fairen Wahlkampf haben. Dass Politiker*innen der AfD in Trump-Manier nun verstärkt die Integrität der Briefwahl in Frage stellen, lässt erwarten, dass mit weiteren Fake News und Desinformationskampagnen vor der Bundestagswahl zu rechnen ist.
Kommentar: My CSU Bros have never heard about Digital Democracy
von Santino Anderer
Um gleiche Chancen im digitalen Wahlkampf und einen pluralistischen Meinungsaustausch zu garantieren, benötigt es umfangreiche rechtliche Grundlagen und Kontrollgremien. Dass hierzulande Wahl-, Medien- und Parteienlandschaft noch immer als immun gegenüber personalisierter und manipulativer Online-Werbung wahrgenommen werden, ist illusorisch. Die digitalen Filterblasen teilen die politische Öffentlichkeit dabei in Werbegruppen und das demokratische Prinzip, allen Wahlberechtigten die gleichen Wahlversprechen vorzutragen, wie eine Axt auf dem Hauklotz. Homogene Gruppen, die von einem einseitigen Informationsfluss gespeist werden, sind selten immun gegen politische Polarisierung. Die Verhärtung sozialer Grenzen und Gruppierungen kann sogar demokratiefeindlich sein, wie #QAnon oder die #Querdenken-Bewegung demonstrieren.
Dass insbesondere die Stiefschwestern CDU/CSU diese Problematik verkennen, zeigt die Auskunftsverweigerung über ihren Umgang mit digitaler Wahlwerbung. Allerdings gehen die Konservativen mit ihrer Transparenz auch zuweilen schludriger um als Armin Laschet bei der Notenvergabe seiner Hochschule, wie zuletzt die neuen „Zerstörungsvideos“ des YouTubers Rezo kritisierten.
Das Grundgesetz Art. 21 Abs. 1 verpflichtet alle Parteien sich für einen demokratischen politischen Willensbildungsprozess der Bürger*innen einzusetzen. Im Wahlkampf stehen die Parteien vor der großen Herausforderung diese gesetzlich verankerte Aufgabe auch tatsächlich umzusetzen und digital faire Wahlkampfbedingungen zu garantieren und Wahlmanipulation zu verhindern.