Warum sollte man diskutieren und Reden schwingen, Kampagnen schmeißen und sich wählen lassen? Um was sagen zu dürfen und gehört zu werden? Um Einfluss zu nehmen? Dafür braucht es heute weder Partei noch Podest. Der Wandel der Zeit hat vieles geändert. Unsere Autorin Hannah Lee über die Kinder der Digitalisierung und den Weg, den sie wählen, um sich zu engagieren.
Mitspracherecht auf Regierungsebene ist ein Thema, dass Menschen schon immer bewegt. Früher ging es darum, Monarchien zu stürzen oder die Gewaltenteilung zu etablieren, Rassismus und Sexismus zu beenden. Heute kämpfen vor allem Jugendliche um Gehör. Sie verstehen sich genauso als Teil des Volkes und verlangen eine entsprechende Berücksichtigung. Fridays for Future ist wohl das bekannteste Beispiel.
Es geht jedoch nicht nur darum, gehört, sondern sondern auch darum, aktiv mit einbezogen und ernst genommen zu werden. Für ein Amt in der Politik interessiert sich dabei aber niemand so richtig. Woran liegt das? Ist vielleicht eine NGO die richtige Anlaufstelle? Vielleicht kann ja auch Twittern etwas bewirken…
Eine Welt voller Antworten.
In was für eine Zeit sind Millennials geboren? Genauer gesagt: Was geschah davor? Historische Meilensteine markieren etliche Entwicklungen der Gesellschaft, für die Menschen in der Vergangenheit unter Einsatz ihres Lebens gekämpft haben. Fast immer ging es um Gleichberechtigung von Minderheiten oder Schwächeren. Toleranz ist das Stichwort. Heutzutage wird nicht etwa gelehrt „Du musst auch Frauen respektieren, sie sind genauso viel wert wie du”, sondern: “Du musst alle respektieren, wir sind alle gleich viel wert!” Dies ist ein Unterschied zwischen Generationen, ungefähr gespalten in prä- und post-Woodstock. Vor nicht allzu langer Zeit beinhaltete der Begriff ‚alle‘ eben nicht jede*n, sondern beispielsweise nur Männer oder nur Weiße. Love, Peace and Freedom machte Satansbrut zu Atheist*innen, Rebell*innen zu Alternativen und Außenseiter*innen zu Stars. Allem, was danach auf die Welt kam, wurden diese Gedanken frisch serviert und einverleibt. Anders ist gut; Anders ist individuell; Anders ist mutig.
Faschismus ist bloß ein Kapitel im Geschichtsunterricht, Christopher Street Day ist ein nices Open Air und Frauen gehen doch fast alle arbeiten, und wählen sowieso. Die Hintergründe und Abgründe solcher Vokabeln und Phrasen sind bekannt, aber der Bezug zur Gegenwart und Realität ist ferner als man denkt. Dies müssen sich, denke ich, nicht nur Millennials bewusst machen. Aber an sich ist es doch positiv, dass solche Rechte als selbstverständlich angesehen werden, selbst, wenn es naiv ist.
Mit der Jahrtausendwende geboren und aufgewachsen, gibt es keine Existenzkrisen Darwin’schen Ausmaßes mehr. Evolution, Naturkatastrophen und Wetter sind nicht etwa Machenschaften der Götter, sondern Themenblöcke im Unterricht. Es gibt Antworten über Antworten, wissenschaftlich bewiesen und in 18 Jahren Erziehung und Schule verinnerlicht. Selbst die Frage nach dem Tod und dem Übersinnlichen scheint beantwortet: Alles ist möglich, nichts steht fest. Es ist gleichermaßen wahrscheinlich ins Paradies, die Hölle oder das Nichts katapultiert zu werden. Daher sollte man sich nicht den Kopf zerbrechen, sondern das Leben genießen, solange man die Möglichkeit dazu hat. Wozu also noch mit zurückgebliebenen Dickköpfen diskutieren, wenn es doch klare Antworten gibt? Sollen sie es doch selber googeln.
Gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung ja/nein – dies sind alles keine offenen Fragen mehr für die neuen Generationen. „An deiner Uni benutzen sie noch To Go-Becher im Café?! Komplett veraltet“, empört man sich auf Twitter, während auf Instagram gerade jemand repostet, wie Greta ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten segelt. Doch stimmt diese Empfindung überhaupt? Ist das veraltet? Wenn wir den Umschwung der Wertevorstellungen der Menschen online manifestiert sehen, liegen solche Missstände dann tatsächlich in der Vergangenheit? Sind Diskussionen und Kampf um diese Themen obsoleter Schnee von gestern?
Der Algorithmus meines Lebens.
Heutzutage haben Jugendliche durch Digitalisierung, Allzeiterreichbarkeit und Globalisierung einen einfacheren Zugang zu Wissen als je zuvor. Der Informationsfluss ist größer, schneller, stärker – einfach intensiver. Aus Instagramwerbung, viralen Tweets und Spiegel-Push-Benachrichtigungen resultiert stetig steigende globale Awareness durch alle gesellschaftlichen Schichten. Immer mehr junge Menschen machen politische Statements, online wie offline. Die Frage ist: Wo sind die ganzen Nachwuchspolitiker*innen? Und sind diese Statements überhaupt fundiert oder sind sie situativ und impulsiv gemacht? Es bedarf schließlich keiner langen Recherche und Überlegung, um drei Sätze und auf „Posten“ zu tippen. Hinzu kommt, dass niemand kontrollieren kann, welche Inhalte viral gehen und welche für die Ewigkeit mit drei Likes zurückbleiben. Das wäre auch fatal. Es ist nicht zu unterschätzen, dass Meinungsfreiheit auch online herrscht. Es ist ein Grund warum wir immer wieder mit #FakeNews zu kämpfen haben. Der Meinungsbildungsprozess passiert regelrecht passiv durch die Informationsflut. Es bleibt hängen, was wiederkehrend erscheint. Es bleibt hängen, was trended. Es bleibt hängen, was viral geht. Wo bleibt Zeit für Reflexion und Analyse, wenn permanenter Input dem Gedankenfluss entgegen strömt?
Algorithmen diktieren den Content, den man sieht, berechnet aus vorherigen Likes und Zeitspannen, die man auf Seiten verbracht hat, die einen interessierten. Kann man dazu noch ‘Discover’-Page sagen? Man wird überhäuft mit Informationen und Beiträgen, die ohnehin in das eigene Schema passen. Mit solchen Techniken und Taktiken werden Wahlen manipuliert, Märkte kontrolliert und das Bewusstsein gelenkt. Was man nicht aktiv sehen will, sieht man auch nicht. Ich like ein Bild, #gaypride – mir werden beim Neuladen der Discover-Page gehäuft Bilder von LGBTQ-Aktivist*innen vorgeschlagen. Ich like einen weiteren Beitrag; mir wird noch mehr vorgeschlagen. Ein paar Tage später sehe ich, wo ich auch hinschaue, Posts aus der Queer-Community, sie sind überall. Ich sehe sie demonstrieren, feiern, zuhause chillen oder beim kochen. Sie werden Teil meiner Realität – ich nehme die Unterdrückung in der Außenwelt vielleicht gar nicht mehr wahr. Genau wie ein Mensch in der ersten Welt die dritte Welt nicht kennt, weil er dort nicht lebt, kenne ich im Netz nur, was mein Algorithmus mir erlaubt. In meiner Welt wird etwas selbstverständlich und omnipräsent, das in der Realität für die meisten vielleicht gar nicht existiert. Meinungen verfestigen sich und Selbstverständlichkeit schleicht sich ein. Der Algorithmus stellt heutzutage das dar, was früher physische Grenzen waren. „Ich glaube, was ich sehe“, nimmt eine andere Form an, aber ist und bleibt menschlich und unabhängig von Zeit und Ort.
Nur weil jemand verstümmelte Delfine mit einem weinenden Emoticon und Herz untertitelt, heißt das leider noch lange nicht, dass es Veränderung gibt, sondern eben lediglich, dass es steigende Awareness gibt. Auch nicht, wenn man sich ein gutes Gefühl in Form von Armbändern aus Meeresplastik bestellt. Der Lichtblick: Awareness – der Schlüssel zu Veränderung. Vor allem bezüglich individuellen Verhaltens, wie es beispielsweise in der Klimasache vorwiegend behauptet wird.
Das Internet ist also auch für Digital Natives mit Vorsicht zu genießen. Das eigene Umfeld beeinflusst den lnhalt signifikant. Es scheint, dass sich etwas tut, aber einzelne Personen sind selbst oder vielleicht eben gerade in einer Demokratie nicht ausschlaggebend. Die Masse macht es. Reaktionen auf Posts können nur begrenzt widerspiegeln wie viele Menschen einen Zweck oder eine Meinung unterstützen. Mit einem inoffiziellen Format wie Social Media wird ohne organisierende, mit dem System kooperierende Akteure keine maßgebliche Veränderung erfolgen. Das bedeutet, dass früher oder später jemand das Handy weglegen und das Steuer in die Hand nehmen muss.
I don’t feel like I’m making an impact.
Das Steuer in die Hand zu nehmen ist leider nicht gerade einfach. Noch dazu wird Generation Y und Z nachgesagt, tendenziell Führungspositionen abzulehnen. Mittlerweile wurden jedoch auch andere Thesen aufgestellt. Simon Sinek, britischer Autor und Unternehmensberater, zitiert das Allzeit-Argument der Millennials, die mal wieder nach einem halben Jahr ihren Job kündigen: “I don’t feel like I’m making an impact“. Auf Deutsch: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas bewirke.
Fakt ist, dass das Internet vieles einfacher macht. Menschen fühlen sich politisch aktiv, wenn sie Jokos und Klaas‘ Männerwelten in der Story reposten. Und das, obwohl sie lediglich ihren ohnehin schon wohlgestimmten Freund*innen Denkanstöße geben, die sie womöglich einfach skippen oder kurz danach vergessen. Ganz zu schweigen davon, dass man diese sowieso besser persönlich diskutieren sollte, statt mit fliegenden Symbole oder „Reaktionen“ zu antworten. Letztere sind allerdings genau die Beute, auf die man doch beim individuellen Profilieren seiner selbst auf Social Media aus ist. Es ist minutenschnelle, direkte Bestätigung und Selbsterkenntnis. Ungeduld ist der vielleicht größte Feind eines Millennials.
Musik auf Spotify, Fernsehen auf Netflix, Einkaufen auf Amazon und last aber ganz bestimmt nicht least Glückshormone auf Social Media – alles ist mittlerweile nur noch einen Klick entfernt. Dem sind sich Jugendliche mittlerweile auch bewusst. Die Gewohnheit, dass man unbeschwert und unverzüglich nahezu alle seine Bedürfnisse stillen kann, macht Aussichten auf einen langen, frustrierenden Weg bis an die Spitze wenig schmackhaft. Dass die Gesellschaft immer individualistischer wird, macht den Befehlsposten noch weniger attraktiv. Sinek argumentiert für die Millennials damit, dass die Elterngeneration einen Fehler gemacht hat. Nämlich dadurch, dass mit der gesellschaftlichen Entwicklung im Bezug auf Chancengleichheit und einer großen, wohlhabenden Mittelklasse die Tendenz dahin ginge, den Kindern von Gen Y&Z immerzu einzubläuen, dass sie alles schaffen können, wenn sie es nur unbedingt wollten. Dabei wurde dann allerdings ausgelassen, was noch alles dazugehört.
Lars Werners Aussagen darüber, weshalb er sich lieber privat engagiert, statt Politiker zu werden, drehen sich ebenfalls um seinen „impact“. Im Interview mit politikorange sagte der Aktivist von Extinction Rebellion (XR) bei der Eine Welt-Landeskonferenz:
Unser Versuch, uns möglichst hierarchiefrei zu organisieren, trägt einen großen Teil dazu bei, dass ich mich bei der Bewegung sehr selbstwirksam fühle. Dabei steht immerzu die Sache – die Bewältigung der Klimakrise – im Vordergrund.
Man klemmt sich also hinter einen Zweck, der als würdig gilt und will dabei mit eigenen Augen sehen können, dass die eigene Arbeit Veränderung bringt. Die Geduld während der Zeitspanne zwischen Arbeit leisten und Anerkennung ernten schrumpft derweil. Es ist womöglich nicht die falsche Einstellung der Millennials, die sie vom Chefsessel fern hält, sondern ihr lebenslanges Training, das sie unbeabsichtigt übereiltes Aufgeben lehrte.
#globalcitizen
Der Weg dorthin, wo man wirklich was bewegen kann, ist also zu lang und zu beschwerlich für den Millennial, der versucht, einen impact zu machen. Außerdem ist er gelangweilt von den obsoleten Weltanschauungen der Gegenspieler. Und der Weg ist auch zu korrupt für den Millennial, der seine Werte schon verinnerlicht hat. Zwielichtige Machenschaften sind immer schon standardmäßiger Bestandteil von Politik. White Lies und Manipulation sind hier das täglich Brot. Macht und Machterhalt sind die Endziele: das Durchsetzen der eigenen Vorstellungen eines idealen Staates. Aber das ist noch nicht alles.
Streben die neuen Generationen überhaupt einen idealen Staat an? Oder streben sie vielleicht direkt nach einer idealen Welt? Globalisierung ist nicht nur physisch oder digital, sondern unweigerlich auch in den Köpfen der Menschen. Patriotismus wird immer weniger positiv konnotiert. Wir reisen öfter und weiter. Es wird zum Statussymbol, zum Coolness-Faktor, aber auch zur Normalität. An anderen Orten ist es doch viel schlimmer, was soll man hier schon großartig verbessern? Und wie viel Zeit verbringt man überhaupt noch im eigenen Land? Wie viel Zeit will ich dann eigentlich noch investieren? Die Heimat muss nicht optimiert werden. Wir fahren einfach woanders hin, wenn’s gerade nicht passt. Kiffen in Amsterdam, gefälschte Designermode in Peking, schnäppchengleiche Luxusurlaube mit Urlaubspiraten und easyJet – wozu das eigene Zuhause umkrempeln, wenn doch alles, was man wollen könnte da draußen schon existiert und in Reichweite ist?
Solche individuellen Werte und Wahrnehmungen führen zu Lebenseinstellungen und -stilen. Diese könnten sein: „Ich will wohnen, wo ich will und reisen, statt verbeamtet zu sein #globalcitizen“, oder: „Ich will nicht immer Kompromisse schließen, diplomatisch sein. Ich habe eine klare Idee von der von Gleichheit der Geschlechter und Rechten für Geflüchtete, über die ich nicht diskutieren will. Es gibt richtig und falsch. #FckAfD“. Der Einfluss des Zeitalters ist offenbar.
Generation Y Not?
Trotz allem glaube ich an die Kraft und den Spirit meiner Generation. Weil wir als Kinder der Digitalisierung unzählige Gemeinsamkeiten mit unseren Geschwistern auf der ganzen Welt haben, ziehen wir an einem Strang. Unser Alltag im Netz ist etwas, das uns alle verbindet und das unserer Kindheit und Jugend Gemeinsamkeiten verschafft. Wir lipsyncen dieselben Lieder, tanzen dieselben Challenges und versenden dieselben Memes. Wir kennen uns besser, als wir glauben.
Zusammen haben wir Cybermobbing erfahren und gelernt, damit umzugehen. „Mach dein Ding und Keiner kann dir sagen wer du zu sein hast #hatersgonnahate“ sind die Mottos dieser Generation – #beyourself, #loveyourself. Wir können und sollen sein, wer wir wollen.
Wir sind nicht Generation Y oder Generation Z. Wir sind doch eher Generation Y Not?. Wir halten niemanden auf, der versucht, sich selbst zu verwirklichen #youdoyou. Toleranz ist ein unvermeidbares Nebenprodukt der Globalisierung, die uns in den Adern fließt. Wir stellen uns vielleicht nicht gerne an die Spitze, um anderen den Weg zu zeigen. Aber wir stehen für uns selbst und unsere Werte gerade. Ob online oder offline – ob Influencer*innen auf YouTube oder Politiker*innen in Hosenanzügen – unsere Meinungen formen unsere Gesellschaft. Das Internet ermöglicht derweil Kommunikation und Zusammenarbeit mit jedem, der mindestens ein Handy und Motivation hat. Wir holen uns Politik an die Fingerspitzen und raus aus der stickigen Glaskuppel.
Ob du einer NGO oder einer Partei beitreten willst, ob du online deine Message verbreitest oder auch nicht: Es ist deine Entscheidung. Das Wichtigste ist und bleibt, dass wir die Wahl haben. Dass unsere Rechte gewahrt werden. Überall, nicht nur vor der eigenen Haustür.