Kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex vor der Ehe und keine gleichgeschlechtliche Liebe: politikorange-Redakteurin Larissa ist Mitglied der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ und sympathisiert mit der LGBTQ*-Community. Sie hat sich lange die Frage gestellt, inwiefern sie ihren Glauben mit ihrer gesellschaftspolitischen Einstellung vereinbaren kann und möchte dieser Frage auf den Grund gehen.
Blonde Haare, schwarzer Pullover – mir gegenüber sitzt ein junger Mann mit schlanken Gesichtszügen und einem leichten Lächeln auf den Lippen. Hinter ihm eine weiße Wand. Nichts deutet darauf hin, dass er eigentlich den ganzen Tag mit Farben zu tun hat. Jonas ist Künstler, seine Bilder sind auf T-Shirts, Puzzlen und Postern zu finden.
Der Plan der Erlösung setzt die Ehe zwischen Mann und Frau voraus
Früher drehten sich seine Bilder oft um das Thema Freiheit, das ist inzwischen anders. 24 Jahre lang hat er seine Homosexualität versteckt gehalten, bis er letztes Jahr zum ersten Mal offen darüber sprach, dass er Männer liebt. Und das in einem Umfeld, in dem Homosexualität als Sünde gilt.
Die Kirche Jesu Christi zählt zu den Freikirchen, sie ist protestantisch und von den Landeskirchen unabhängig. Nach eigenen Angaben zählt sie weltweit mehr als 17 Millionen Mitglieder. Kern der Lehre ist der Plan der Erlösung, der besagt, dass das irdische Dasein dazu dient, errettet zu werden. Vollkommen erlöst würde man jedoch nur, wenn man als Mann und Frau, im Bund der Ehe in den Himmel eingehe.
„Same-sex-attraction“ statt homosexuell
In der Kirche Jesu Christi wird Homosexualität als Neigung verstanden, bei der es darauf ankommt, ob man ihr nachginge oder nicht. „Wir sprechen nicht so gerne von Homosexualität, sondern eher von ‚same-sex-attraction“, so Matthias Leben. Auch er ist seit seiner Geburt in der Kirche und war früher Kinderarzt. Heute ist er in Rente und Bischof meiner Heimatgemeinde. Ich habe ihn repräsentativ zum Thema Homosexualität befragt. Ihm ist es wichtig, dass niemand aufgrund seiner „sexuellen Neigung“ in der Kirche diskriminiert wird. Auch deswegen ist er für andere Begrifflichkeiten: Aus seiner Sicht ist Homosexualität eine Eigenschaft, bei deren Betonung andere Eigenschaften hinten angestellt würden. Dabei sei es nicht wichtig zu wissen, welche Neigung ein Mensch habe, sondern nur, dass er „ein Kind Gottes“ sei. Denn Gott werde eine Lösung für alles haben. Deshalb rät die Kirche den Mitgliedern, weiter an den Grundsätzen ihres Glaubens festzuhalten, die Gebote zu halten und ihre Homosexualität nicht auszuleben. Dann würden auch sie erlöst.
Kein richtiger Mann?
Auch Jonas hat daran geglaubt, dass seine Gefühle gegenüber dem gleichen Geschlecht „vom Teufel seien, der ihn versucht“ und dass er sich nur genug anstrengen müsse, um sie nicht zu haben. Er wirkt etwas aufgebracht, als er davon erzählt, wie schlecht er sich damals gefühlt hat. Seine Hände gestikulieren wilder als zuvor.
Er ist genauso wie seine Geschwister in die Kirche hineingeboren und mit den Lehren des Evangeliums aufgewachsen – und somit auch mit den stereotypischen Vorstellungen von Mann und Frau. Schon früh hat er jedoch gemerkt, dass irgendetwas anders war. Bereits im Kleinkindalter orientierten sich seine Interessen nicht vornehmlich an den typischen „Jungssachen“ wie z.B. Fußball spielen. Er hatte schon immer lieber gemalt und Musik gemacht. Sein Blick schweift ab, als er sich erinnert, wie er mit elf Jahren zum ersten Mal Gefühle für einen Jungen hatte. Ein paar Jahre später sei ihm dann richtig klar geworden, dass er Jungs attraktiver fand als Mädchen. Er gerät ein paar Mal ins Stocken, als er mir davon erzählt, dass er seine Gefühle damals nicht wahrhaben wollte und immer versucht hat, sie zu ignorieren. „Ich hatte Angst, dass man mich für meine Homosexualität nicht akzeptieren würde.“
Homosexualität als Sünde und doch kein Grund zur Diskriminierung?
„Alle Leute, die es als Sünde bezeichnen, haben meist nicht die Idee, dass das diskriminierend sei. Aber wir haben da den kompletten Widerspruch: Lesben und Schwule sollen bitte nicht diskriminiert werden, aber eigentlich soll ihre Homosexualität auch unterbunden werden, weil‘s nicht okay ist. Das ist, als würde ich sagen, ich habe nichts gegen Religion, aber bitte, beten muss jetzt nicht“, kommentiert Markus Ulrich, der Pressesprecher des Lesben-und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD). Trotzdem möchte sich Ulrich nicht der „Born this way“-Argumentation anschließen. „Die Frage, ob ich als Person die gleichen Rechte habe wie alle anderen, kann ich nicht daran festmachen, ob etwas angeboren ist oder nicht.“ Schließlich sei Religion auch nicht angeboren und trotzdem gäbe es Religionsfreiheit. Seiner Meinung nach müsse man erkennen, dass es beim Thema Homophobie immer um eine Auf-und Abwertung gehe. „Im religiösen Kontext: Ich bin gottgefällig und du halt nicht. Das ist ja schon eine Bestätigung und auch eine Hierarchisierung, wo ich ganz oben stehe“.
Leben in zwei Welten
Jonas ist trotz seiner Gefühle auf Mission gegangen und hat für die Kirche in einem zweijährigen Freiwilligendienst an Hilfsprojekten teilgenommen und Menschen vom Evangelium erzählt. Dabei hat er sie auch darüber belehrt, dass Liebe nur zwischen einem Mann und einer Frau existieren könne. Er schüttelt den Kopf. „Es war natürlich alles ziemlich surreal und schon wie in zwei Welten zu leben“. Auch nach seiner Mission hat er mit niemandem über seine Homosexualität gesprochen. Er lacht bei dem Gedanken daran, wie er versucht hat, Mädchen zu daten. Er hat sich niemals mehr mit ihnen vorstellen können. Drei weitere Jahre habe er versucht, seine Gefühle wegzuschieben und sich in die Kunst gestürzt. Kurz vor seinem Coming-Out entstand ein Tiger mit regenbogenfarbenen Streifen.
„Es sieht so aus, als würde er aus der Dunkelheit hervorkommen und als hätte mein Unterbewusstsein mir schon damals gesagt: Sei dein wahres Ich und lass das leuchten, was in dir steckt.“
Sex ausschließlich als Mittel zur Fortpflanzung?
In der Kirche gilt das Gesetz der Keuschheit, das Sex vor der Ehe untersagt.
Da gleichgeschlechtliche Ehen nicht möglich sind, werden homosexuelle Menschen zu lebenslanger Enthaltsamkeit angehalten. Bischof Leben erklärt jedoch, dass sexuelle Enthaltsamkeit genauso von Alleinstehenden oder verwitweten Mitgliedern erwartet wird.
Die Fortpflanzungskraft sei göttlich und sollte deshalb nur im Bund der Ehe vollzogen werden. Markus Ulrich vom LSVD sieht das kritisch: „Die religiöse Vorstellung von Sexualität wird oft auf Fortpflanzung verkürzt, dabei hätte das auch dramatische Einschränkungen für heterosexuelle Menschen. Niemand hat nur drei Mal im Leben Sex, nur um Kinder zu bekommen.“
Nichtsdestotrotz haben es homosexuelle Menschen noch immer nicht leicht, wenn sie ihre Gefühle öffentlich machen. Dabei ist heterosexuellen Menschen meist gar nicht bewusst, wie oft sie sich im Alltag outen würden. „Die Sexualität ist für sie eine banale Sache, die im Smalltalk schnell gegeben wird, wenn man z.B. als Frau davon erzählt, dass man mit dem Freund in den Urlaub fährt. Einfach weil uns Partnerschaft, Familie und Beziehung unser Leben lang begleiten“, so Ulrich.
Das Coming-Out
Deshalb hat auch Jonas nicht mehr schweigen können. Der Druck habe irgendwann so schwer auf ihm gelastet, dass er sich niedergekniet und gebetet hat. Er scheint sehr bewegt, als er von einem Besuch seiner Familie erzählt, seine Schwester und seine Mutter seien da gewesen. „Ich dachte nur, jetzt ist der Moment, nach dem du gefragt hast. Wenn du es jetzt nicht erzählst, wird dich das irgendwann kaputt machen.“ Die Situation sei sehr emotional gewesen, alle hätten geweint. Trotzdem betont er mehrmals, wie gut alle reagiert hätten – nicht nur seine Familie auch seine Freunde und die Gemeinde hätten Verständnis gezeigt. Natürlich sei es für alle ein Schock gewesen, weil niemand jemals etwas von seiner Homosexualität geahnt hatte, aber Jonas betont: „Jeder versicherte mir, dass das überhaupt nichts daran ändere, wie sie mich betrachten und dass sie mich immer noch genauso lieb haben wie vorher.“ Sein Bischof habe bekräftigt, dass es in der Kirche immer einen Platz für ihn gäbe.
Männer gedatet hat Jonas dann zum ersten Mal übers Internet. „Das war superspannend, aber auch supergruselig. Ich hatte superviele Vorurteile gegenüber der LGBTQ*-Community und dachte, dort sei alles nur oberflächlich und auf physische Sachen begrenzt.“ Das dem nicht so war, habe er früh gemerkt. Seinen Freund hat er über Tinder kennengelernt und nicht nur seine Familie, auch die Gemeinde hatte ihn herzlich empfangen.
Vergangene Zeiten, neue Ideen
„Wir haben einen Maßstab in der Kirche und das ist bedauerlich für Menschen, die sich als homosexuell betrachten und sich dadurch von einem wichtigen Teil des Lebens ausgeschlossen fühlen. Umso wichtiger ist es, dass sie wissen, dass sie Kinder Gottes sind und von ihren Mitmenschen geachtet werden.“ Auch Bischof Leben unterstreicht deutlich, wie schlimm es sei, wenn jemand aufgrund seiner „sexuellen Neigung” vorverurteilt würde.
Die Kirche hat sich in vielerlei Punkten von vergangenen Aussagen distanziert. Während vor einem Jahrzehnt noch der Teufel, der Abfall vom Glauben oder sogar psychische Krankheiten als Grund genannt wurden, hat die Kirche inzwischen keine Position mehr zur Herkunft von gleichgeschlechtlicher Liebe. In den neuesten Stellungnahmen zum Thema Homosexualität verweisen die Kirchenführer*innen auf die Wissenschaft und heben deutlich hervor, dass sie deshalb auch keine Angaben zu möglichen Therapieformen von Homosexualität, sogenannten Konversionstherapien, machen können. Dabei stellen sie auch klar, wie falsch der therapeutische Umgang mit Homosexualität gewesen sei.
Spirituell, aber nicht mehr religiös
Für Jonas ist die Kirche Jesu Christi im stetigen Wandel und er freut sich, dass sie zu vielen Dingen ihre Meinung geändert hat. Und auch wenn er inzwischen aus der Kirche ausgetreten ist, geht er immer noch gern in die Gemeinde, um die Mitglieder wiederzusehen. „Ich glaube, dass die Menschen zum großen Teil wirklich ihr Bestes geben, aber dass es in der Theologie einige Sachen gibt, die meines Erachtens nach nicht stimmen und das kann ich dann einfach nicht unterstützen.“ Trotzdem sieht er sich immer noch als sehr spirituellen Menschen an und versucht sich nun in jede Richtung weiterzubilden. Neben dem christlichen Glauben befasse er sich nun auch mit östlichen Religionen oder auch New-Age-Bewegungen. „Ich versuche, nur nach guten Prinzipen zu leben, und ich denke, dass man diese in nahezu allen Religionen und spirituellen Traditionen findet.“