Der 20. Bundestag wird noch einmal größer als der letzte. Eine Wahlrechtsreform sollte genau das verhindern. Nun drohen im schlimmsten Falle sogar Neuwahlen. Julius Kölzer erklärt die Hintergründe.
Deutschland hat gewählt. Ergebnis der Wahl ist nicht nur eine fragmentierte Parteienlandschaft mit unklarer Ausgangslage für die kommende Regierungsbildung, sondern auch ein Bundestag, der nochmal größer wird: Mit 736 Sitzen ist er nun nach dem chinesischen Volkskongress das zweitgrößte Parlament der Welt. Wahlrechtsexpert*innen wie Joachim Behnke und Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung sprechen bereits vom Phänomen eines „aufgeblähten Bundestags“. Denn weder im alten Bundeshaus am Bonner Rheinufer noch im jetzigen Reichstagsgebäude am Platz der Republik saßen jemals so viele Abgeordnete wie jetzt. 598 Abgeordnete sind normalerweise vorgesehen – 138 weniger als es in den nächsten vier Jahren sein werden. Dabei sollte die im Herbst 2020 verabschiedete Wahlrechtsreform der großen Koalition genau das verhindern. Die Ursachen hinter dem Phänomen des XXL-Bundestags sind zwar komplex, lassen sich jedoch auf drei zentrale Gründe zurückführen.
Zwischen Überhang- und Ausgleichsmandaten
Anders als es die Begriffe Erst- und Zweitstimme vielleicht suggerieren, sind für die Sitzverteilung und Kräfteverhältnisse im Bundestag alleine die Zweitstimmenergebnisse der Parteien relevant. Bei dieser Wahl kam es jedoch dazu, dass Parteien in einigen Bundesländern mehr Direktmandate erhielten, als ihnen dort eigentlich nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Diese zusätzlichen Sitze, die sogenannten Überhangmandate, müssen für die anderen Parteien ausgeglichen werden.
Der Ausgleich orientiert sich dabei an der Partei mit den meisten solcher Überhangmandate. Bei dieser Wahl ist das die CSU. Sie gewann 45 Direktmandate nach dem Zweitstimmenergebnis würden ihnen dort jedoch nur 34 Mandate zustehen. Daraus resultieren elf Überhangmandate. Die müssen entsprechend ausgeglichen werden, damit die Anzahl an Abgeordneten aller Fraktionen den Zweitstimmen entspricht. Die Sitzzahl des Bundestages wurde deshalb so lange durch Sitze für andere Parteien künstlich vergrößert, bis die 45 Mandate der CSU im Verhältnis mit den anderen Fraktionen auch ihrem Zweitstimmenergebnis entsprechen. Konkret bedeutet das für die Fraktionen folgende Zahl an Ausgleichsmandaten: SPD 26, CDU 17, Grüne 24, Linke 7, AfD 13 und FDP 16.
Kritik an der Wahlrechtsreform
Die angesprochene Wahlreform der großen Koalition konnte den Aufwuchs von 138 Sitzen des Bundestages nicht verhindern. Bereits bei der letzten Wahl war der Bundestag mit 709 Sitzen deutlich größer als vorgesehen. „Zwar wäre der Bundestag ohne die neu eingeführte Regel, dass künftig drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden, vermutlich noch größer, doch wird der Bundestag so nicht ansatzweise in die gewollte Nähe der vorgesehenen Sitzzahl von 598 gebracht“, so Wahlrechtsforscher Joachim Behnke. Durch die Reform wurden nur neun statt der elf CSU-Überhangmandate ausgeglichen, was den Bundestag entsprechend kleiner gemacht hat. Behnke hatte bereits in einer Anhörung im Innenausschuss des Bundestages bezweifelt, dass die Reform ihr Ziel erreicht. Zudem stellt er fest, dass ein Wahlrecht, dass Parteien mit vielen Direktmandaten belohnt, vor allem im Interesse der Unionsparteien sei.
Relevant seien deshalb auch die verfassungsrechtlichen Zweifel an der Reform. Schließlich könnte das Gesetz in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien eingreifen: Parteien, die jene drei unausgeglichenen Überhangmandate erhalten, haben im Verhältnis zu den anderen Parteien unbegründet mehr Stimmgewicht, was die Wahlrechtsgrundsätze in Artikel 38 des Grundgesetzes verletzen könnte. Zudem könnte eine solche Verzerrung dazu führen, dass die Sitzanteile der Parteien im Bundestag nicht ihren Zweitstimmenergebnissen entsprechen. Dass das im Zweifel sogar über Koalitionsoptionen entscheiden kann, wurde Sonntagabend bei den ersten Hochrechnungen sichtbar: Die Union hatte zeitweilig weniger Stimmen als die SPD, jedoch mehr Sitze im Bundestag, da nach der neuen Regel drei Überhangmandate der CSU bei anderen Parteien nicht ausgeglichen werden. Der Abstand zwischen Union und SPD vergrößerte sich im Laufe des Abends zwar so sehr, dass dieser verzerrende Effekt nicht mehr relevant ist, doch hätte die Reform bei einem etwas knapperen Wahlausgang über Gewinner*in und Verlierer*in entscheiden können – ohne dass das dem tatsächlichen Wähler*innenwillen entsprochen hätte. Das demokratische Grundprinzip der Volkssouveränität, das die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wäre so noch deutlicher verletzt worden als ohne hin.
Ebenso fragwürdig ist, dass nach der Reform die Erststimmen von Wählenden, die diese Überhänge verursachen, unbegründet mehr Einfluss auf die Sitzverhältnisse im Bundestag haben als sonstige Stimmen. Ein entsprechender Eilantrag der Oppositionsfraktionen gegen die Reform wurde zwar vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt, doch ist das Hauptsacheverfahren noch ausstehend. Bereits in den Ausführungen des Urteils ist zu erkennen, dass Karlsruhe die genannten verfassungsrechtlichen Einwände ernst nimmt und sogar gegebenenfalls eine Neuwahl anordnen könnte.
Darüber hinaus berührt der neue XXL-Bundestag ganz grundsätzliche Fragen des parlamentarischen Betriebs: Die zusätzlichen Sitze bedeuten jährlich Mehrkosten in Millionenhöhe, was die Gesamtkosten des jährlichen Parlamentsbetriebs auf über eine Milliarde Euro hebt. Unter einem größeren Parlament könnte auch die Funktionsfähigkeit des Parlamentsbetriebs mit seinen Fraktionen und Ausschüssen leiden, wenn für viele Abgeordnete weder Bedarf noch Platz ist.
Wahlkreisgewinner mit kleinen Mehrheiten
Dass es ein verfassungskonformes Wahlrecht braucht, das die Sitzzahl des Bundestages effektiv begrenzt, meint auch Wahlrechtsexperte Joachim Behnke – obwohl die beschlossene Absenkung der Wahlkreiszahl von 299 auf 280 zur Wahl 2025 schon in die „richtige Richtung geht“. Alternativ könnte auch eine bessere Koordination der Parteien in den Wahlkreisen zu einer Eindämmung von Überhangmandaten führen und damit zu einer kleineren Sitzzahl des Bundestages beitragen. Würden sich etwa SPD und Grüne in den bayrischen Wahlkreisen auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, könnten sie der CSU nicht wenige ihrer Direktmandate streitig machen und damit die Anzahl an auszugleichenden Überhangmandaten reduzieren. Das Direktmandat im Wahlkreis wird nach relativer Mehrheit vergeben. Wo viele Parteien ähnlich stark sind, reichen am Ende wenige Stimmen für den Einzug in den Bundestag. Nach Meinung von Wahlrechtsforscher Behnke wäre das auch aus demokratietheoretischer Perspektive sinnvoll „da so weniger nutzlose Erststimmen auf aussichtslose Kandidaten verschwendet werden und Wahlkreissieger mehr für ihren Sieg bräuchten als eine kleine relative Mehrheit”. Im Wahlkreis Dresden II – Bautzen II etwa gewann der CDU-Kandidat Lars Rohwer mit grade einmal 18,6% der Stimmen.
Ob ein aufgeblähter Bundestag, ein verzerrtes Kräfteverhältnis im Parlament oder Wahlkreisgewinner*innen mit 18,6% der Stimmen einer verfassungsgemäßen Vorstellung eines fairen Wahlrechts entsprechen, liegt letzten Endes im Ermessen des Parlaments selbst – und im Zweifelsfalls des Bundesverfassungsgerichts. Inwiefern es in den nächsten Jahren tatsächlich zu einem neuen Wahlrecht kommt, könnte sich auch in den kommenden Koalitionsverhandlungen entscheiden.