Über 80.000 Menschen mit Behinderung durften Sonntag zum ersten Mal wählen. Aber damit die Wahl wirklich inklusiv wird, braucht es mehr als das bloße Wahlrecht, hat Lotte Ziegler herausgefunden.
Wer über 18 Jahre alt ist, darf für den Bundestag seine Stimme abgeben – für viele ist das selbstverständlich. Doch Menschen mit Behinderung waren bis vor zwei Jahren vom Wahlrecht ausgeschlossen, wenn sie in einer „dauerhaften Vollbetreuung” lebten, also in all ihren Anliegen von einer Betreuungsperson unterstützt wurden. Dieser Teil des Wahlgesetzes wurde erst im April 2019 als verfassungswidrig eingestuft, in der Folge durften rund 80.000 Menschen bei der Bundestagswahl 2021 erstmalig wählen. „Ein Durchbruch”, feierte der Selbsthilfeverband Lebenshilfe Deutschland, der zusammen mit anderen Verbänden jahrelang für die „Wahl für Alle” gekämpft hatte.
Inklusives Wahlrecht – Ein demokratischer Meilenstein?
Hört man sich in Berliner Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung um, scheint die Euphorie des Bundesverbands nicht recht angekommen zu sein. Einige Betreuende wissen gar nicht, ob ihre Bewohner*innen überhaupt zur Wahl gehen. Anderswo ist man verblüfft über die inklusive Wahl als neue gesetzliche Errungenschaft: Die Bewohner*innen konnten hier doch schon immer wählen.
Behördlicher Fehler: Wahlscheine trotz Vollbetreuung?
Der Grund dafür scheint in der Verwaltung zu liegen. Bei der Übermittlung des Melderegisters vom Bezirksamt an die Wahlbehörde sind in der Vergangenheit offenbar einige Informationen nicht weitergeleitet worden. So wurde teilweise der Status über Vollbetreuung – der bis vor zwei Jahren einen Wahlausschluss bedeutete – nicht ins Wählerverzeichnis übertragen, mit dem die Wahlbehörden grundsätzlich festlegen, wer eine Wahlbenachrichtigung erhält und wer nicht. Einige Bewohner*innen von Berliner Einrichtungen konnten daher schon vor der Gesetzesänderung 2019 wählen, wie ein Trägerverein berichtet. Die zuständige Wahlbehörde gibt auf Nachfrage an, dass ein Grund dafür der Informationskanal sein könnte, der möglicherweise nicht immer fehlerfrei funktioniere.
Es handelt sich bei den unrechtmäßig zugesandten Wahlbenachrichtigungen allerdings nicht um einen Berliner Einzelfall. Auch eine Frau mit mehrfach schwerer Behinderung aus München erhält seit Jahren Wahlberechtigungen und darf wählen – obwohl sie in ihrer Wohneinrichtung rund um die Uhr betreut wird. Sie kann nur eingeschränkt kommunizieren, etwa über einen Sprachcomputer, mit dem sie einige Worte mit ihrer Mutter austauscht. Diese hat vom neuen inklusiven Wahlrecht scheinbar noch nichts gehört – es hat sich für sie ja auch nichts verändert.
Wählen für die, die keine Wahl haben
Über Selbsthilfegruppen ist sie mit anderen Eltern von Kindern mit Behinderung vernetzt. Auch sie wurden schon vor 2019 zu Wahlen zugelassen. Dabei stehen sie jedes Mal vor der Frage: Wie gehen wir mit der Stimme unserer Kinder um? Durchgesetzt hat sich eine pragmatische Sicht. Für die Mitglieder dieser Gruppe liegt auf der Hand, dass die von ihnen betreuten Menschen ihre Wahlabsicht nicht eindeutig kommunizieren können. Stattdessen wählen sie selbst dann eben zweimal, einmal für sich selbst und einmal für die Person in Vollbetreuung. Sie werden dabei nie absolut sicher sein, die Wünsche der betreuten Person zu erfüllen, wie es das Wahlgesetz vorsieht. Aber sie versetzen sich in die Lage ihrer Kinder, durchsuchen Wahlprogramme nach deren Engagement für mehr Inklusion und Rechte von Menschen mit Behinderung und versuchen damit die Wahlentscheidung zu treffen, die am meisten im Interessen ihrer betreuten Personen liegt.
Auf diese Weise eine passende Partei zu finden, ist gar nicht so einfach. In einem Vergleich der Wahlprogramme zum Thema Inklusion für die Aktion Mensch zieht die Journalistin Karina Sturm eine nüchternde Bilanz: „Keine Partei hat einen ausführlichen Plan für Menschen mit Behinderungen.” Behinderung würde zwar in jedem Wahlprogramm der großen Parteien zumindest erwähnt werden, und alle demokratischen Parteien wollten Barrieren im öffentlichen Raum, in Verkehrsmitteln und Wohnungen abbauen. Doch kaum ein Programm würde dabei konkreter darauf eingehen, wie mehr Selbstbestimmung und Barrierefreiheit erreicht werden soll.
Das Gesetz – nicht die einzige Barriere
Auch Menschen mit Behinderung, die ihre Stimme qua Gesetz schon seit Jahren selbst abgeben dürfen, stehen teilweise noch vor großen Hürden. Das können etwa Stufen vor dem Wahllokal sein: In Berlin sind von gut 2.000 Wahllokalen immerhin 400 nicht barrierefrei, wie die Innenverwaltung auf Anfrage eines SPD-Abgeordneten mitteilt. Aber selbst wenn die Urne für Rollstuhlfahrer*innen problemlos zugänglich ist, bedeutet das noch lange keine Barrierefreiheit für alle.
Viele blinde oder sehbehinderte Menschen müssen zum Beispiel die Briefwahl beantragen und zusätzlich Hilfsmittel für die Wahl besorgen: „Sonst müsste ich eine Person in die Wahlkabine mitnehmen, die für mich ankreuzt”, erzählt eine junge Frau aus dem Saarland, der nur 5% Sehvermögen verbleiben. Die 20-jährige hätte auch mit einer Assistenz zur Wahl gehen können, wollte aber geheim und selbstständig wählen. Ihren Wahlzettel hat sie deshalb zuhause mit einer Schablone ausgefüllt, in der die Kreuzfelder rund ausgestanzt sind. „Falls du dich schon mal gefragt hast, warum oben am Wahlzettel eine Ecke abgeknipst ist – das ist für Blinde zur Orientierung, wie sie ihren Stimmzettel in die Wahlschablone einlegen können”, erklärt sie. Mit Hilfe einer Begleit-CD tastet sie so die unterschiedlichen Parteien ab und setzt ihr Kreuz.
Nicht allen der rund 13 Millionen Menschen mit Behinderung reichen ebenerdiger Zugang, Schablone und CD, um barrierefrei zu wählen. Die Spannweite der Einschränkungen und Bedürfnisse ist schließlich riesig, von Gehbehinderungen über psychische Erkrankungen bis hin zu Lernschwächen. Die Hürden beginnen teilweise schon lange vor dem Ankreuzen des Wahlzettels: Viele Personen könnten sich gar nicht adäquat über die Wahl informieren, mahnte jüngst der Behindertenbeauftrage der Bundesregierung, Jürgen Dusel: „Informationen über unsere politischen Strukturen und zur Bundestagswahl sollten so aufbereitet werden, dass sie jeder lesen und verstehen kann: Also zum Beispiel in Gebärdensprache, Brailleschrift oder leichter Sprache“, sagte Dusel dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Die Barrierefreiheit sei im Wahlkampf einfach noch nicht zu Ende gedacht, kommentiert der Journalist Jonas Karpa für Aktion Mensch. Entsprechend lang ist auch seine Aufzählung an Hürden, die Menschen mit Behinderung vor der Bundestagswahl begegnet sind: Fehlerhafte Untertitel, zu kleine Einblendungen der Gebärdensprachendolmetscher*innen, schlechte Lesbarkeit der Partei-Webseiten – es gebe noch viel zu tun. „Die Parteien müssen endlich verstehen, dass das bloße Aufheben von Wahlrechtsausschlüssen nicht alles gewesen sein kann.”