Leonie Theiding war für politikorange beim Fachgespräch des LJR NRW zum Thema Jugendkultur digital und Mediennutzung. Nun stellt sie sich den großen Fragen der Veranstaltung: Wieso gibt es keine Jugendkultur mehr? Und wie muss und kann die Jugendverbandsarbeit auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren?
Bunte Insekten aus Pappe, Papier und anderen Materialien tanzen über die weiße Wand, an die Fleur Vogel soeben einen Kurzfilm gebeamt hat. „Die Insekten sind bedroht. Wir müssen uns anders verhalten, sonst sind auch wir in Not“, singen hohe Kinderstimmen in dem Film über das Insektensterben. Fleur Vogel arbeitet bei der Landesarbeitsgemeinschaft Kunst & Medien NRW. Sie erzählt, dass der Film im Rahmen eines digitalen sowie sozialen Jugendprojekts entstanden ist, das Fleur heute rückblickend als gelungen bezeichnet. Als gelungen schätzt sie die Filme vor allem ein, da sie an die neuen digitalen Jugendstile angepasst sind. Mit einem kleinen Lächeln blickt Fleur auf die vor ihr sitzenden Jugendverbandsarbeitenden. Sie sollen idealerweise Ideen und Anregungen aus diesem Fachgespräch mit in ihre Arbeit nehmen. Ab und zu ertönen Lacher: Zum Beispiel, wenn ein gebastelter Menschenkopf als Feindbild der Insekten, über den Bildschirm läuft, gehässig lacht oder vor sich hin gluckt.
Heute, am 8. Oktober 2019, findet das dritte Fachgespräch der vierteiligen Vortragsreihe des Landesjugendrings NRW zur Digitalisierung in Essen statt – das heutige Thema ist Jugendkultur Digital und Mediennutzung. Im Raum sitzen knapp 25 Jugendverbandsmitarbeitende, ganze vorne dabei ist die Organisatorin Kathrin Prassel. Sie beobachtet mit etwas hochgezogenen Augenbrauen die kunterbunten Insekten, die durch das Bild huschen. Die Veranstaltung solle dem Austausch der einzelnen Jugendverbände dienen und Wissen über die heutige Jugendkultur im Zeitalter der Digitalisierung bieten, erklärt Prassel.
Jugendstile müssen verstanden werden
Rechts vorne im Raum sitzt Prof. Dr. Franz Josef Röll, Soziologe und Professor für Medienpädagogik, bei den Zuschauenden. Zuvor hat er einen Vortrag über Jugendkultur gehalten: Was ist Jugendkultur? Und warum gibt es sie im heutigen digitalen Zeitalter nicht mehr? Röll erklärt, ursprünglich sei der Begriff der Jugendkultur verbunden gewesen mit einer Art von Zugehörigkeit: Klare abgegrenzte Gruppen, die durch gemeinsame Faktoren zusammen kamen, z.B. indem sie eine bestimmte Kleidung tragen, ein Verhalten adaptieren oder die gleichen Regeln als verbindlich akzeptieren. Früher habe man Jugendkultur deshalb unmittelbar mit Gruppen wie Punks, Skins, Teds oder Motz verbunden. Laut Röll sei diese Art der Jugendkultur seit Beginn der Technokultur Stück für Stück verschwunden. Es gibt keine klaren festen Gruppen mehr wie bis zu den 90er Jahren, heute gibt es eher Mischformen: Verstreute Stilformen, die sich immer wieder überschneiden. Dies sei ein Hinweis für ständige Veränderung.
Das Bedürfnis, eine soziale Gemeinschaft zu haben, sei geblieben. Doch die Zielgruppe der Jugendverbandsarbeit habe sich verändert, da sie nicht mehr klar eingegrenzt ist. Wenn Menschen in der Jugendarbeit Jugendliche weiterhin unterstützen wollen, dann müssen sie sich mit deren Problemen auseinandersetzen. Prof. Dr. Röll spricht hierbei von „situativer Offenheit“. Verbandsarbeit muss Konzepte ausarbeiten. Diese müssen jedoch an die sich ständig wandelnden Mischformen, in denen Jugendliche leben, angepasst werden. Das heißt vor allem: bereit sein, sich für neue Situationen und unterschiedliche Menschen zu verändern.
Jugendverbände können Jugendlichen eine stabilitätsweisende Stütze in dieser sich ständig wandelnden Welt bieten. Diese ist, laut Jan Hilkenbach vom BDKJ Diözesanverband Paderborn, so wichtig, da soziale Medien reale, beständige Treffen nicht ersetzen können. Jedoch müssen Jugendverbände sich an die neuen Jugendstile anpassen, um ihren Aufgaben als Helfende und Mentoren und Mentorinnen weiterhin gerecht zu werden. Um die heutigen Jugendlichen zu erreichen, müssen die sozialen Medien mit in die Jugendverbandsarbeit eingebracht werden.
„Wir müssen es hinbekommen, dass die Digitalisierung nicht an uns vorbeiläuft“
„Wir müssen es hinbekommen, dass die Digitalisierung nicht an uns vorbeiläuft.“, so Hilkenbach. Reale beständige Treffen und digitale soziale Medien miteinander zu verknüpfen – das sei die Herausforderung, vor der die Jugendverbände derzeit stehen. Die Gäste des Vortrags sind zumindest ziemlich begeistert von dem Kurzfilm, den Fleur Vogel heute im Gepäck hatte. Die Insekten knistern durch Laub, das ganz klar aus Bastelmaterial geformt ist, hohe Kinderstimmen singen und rappen: „Wir haben trotzdem noch Hoffnung“. Die Kinder und Jugendlichen konnten ihre kreativen Ideen während des Treffens im Filmkontext einbringen, kreativ im Team arbeiten, und gleichzeitig etwas über die Wichtigkeit von Insekten für den Menschen lernen.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Super geschrieben Artikel Artikel!