Die Wahlbeteiligung der Deutschen Bürger und Bürgerinnen wird dieses Jahr wahrscheinlich wieder unter 80 Prozent liegen. Das soll mit der Initiative „80-Prozent-für-Deutschland“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geändert werden. Zita Hille im Gespräch mit Gun Hellmich (Verlag) und Martin Benninghoff (Redakteur).
Andreas Bourani, LeFloid, Palina Rojinski und Claus Kleber haben eine Gemeinsamkeit und sind dadurch in den letzten Wochen aufgefallen. Sie stehen einzeln vor der Kamera, reden über die Bundestagswahlen 2017 und stellen Wetteinsätze auf, was sie tun, wenn dieses Wahljahr 80 Prozent Wahlbeteiligung erreicht wird. Die sinkende Wahlbeteiligung ist ein großes Problem der letzten Jahrzehnte. Die Initiative „80 Prozent für Deutschland“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) soll daran etwas ändern.
Frau Gun Hellmich, Herr Martin Benninghoff: Wer sind Sie und was machen Sie bei „80 Prozent für Deutschland“?
Gun Hellmich (GH) : Ich bin seit sechs Jahren bei der FAZ, seitdem im Verlag für Bildungsprojekte zuständig. So bin ich auch zur 80-Prozent-Kampagne gekommen. Schüler und Lehrer sind eingeladen, sich mit der Bundestagswahl auseinanderzusetzen. Meine Kollegin Donika Lilova und ich betreuen die Kampagne und steuern die Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb der FAZ.
Martin Benninghoff (MB) : Ich bin seit anderthalb Jahren im Hause und Redakteur vom Dienst. Ich steuere die FAZ.net-Seite mit und sorge dabei auch dafür, dass wir Korrespondententexte haben, wenn im Ausland etwas Gravierendes passiert. Außerdem schreibe ich für die Politikredaktion über innenpolitische Themen – natürlich auch über die Bundestagswahlen – und außenpolitisch über Nordkorea.
Bei der Initiative habe ich für das Erstwählerlexikon auf 80-prozent-fuer-deutschland.de ein paar Texte beigesteuert. Das war manchmal gar nicht so leicht, weil wir sonst immer für den Durchschnittsleser der FAZ schreiben – und dieser meist ein wenig älter ist und eine etwas andere Sprache spricht und liest.
In den letzten 60 Jahren ist die Wahlbeteiligung von 91,1% (1976) auf 71,5% (2013, 2009: 70,8%) gesunken. Woran liegt das?
MB : Unter anderem an dem hohen Zufriedenheitsstand der meisten Leute. Früher gab es klarere politische Kanten. Wenn man zum Beispiel im Ruhrgebiet aufwuchs, hätte man die Person – überspitzt gesagt – mit der Pistole dazu zwingen müssen, das Kreuzchen bei der Union zu setzen. Heute ist das alles viel leichter und durchlässiger. Es gibt einen hohen Wohlstand und weniger gesellschaftspolitische Kontroversen, wie beispielsweise in der Ostpolitik, bei der man sich politisch total bekämpft hat. Auch die jungen Menschen scheinen nicht mehr so auf „Anti“ gebürstet, sondern schwimmen im Strom. Das ist eine Entwicklung, die seit Jahren anhält. Ebenfalls könnte das Problem sein, dass Parteien Schwierigkeiten haben, sich voneinander abzugrenzen. Aber im Vergleich zu anderen Ländern ist die Wahlbeteiligung bei uns ja noch relativ hoch.
Wie entstand die Initiative „80 Prozent für Deutschland“?
GH : Die Kampagne ist mit Unterstützung verschiedener Bereiche entstanden. Das Ziel sollte sein, sich gezielt an Erstwähler zu wenden und auch Schüler mit ins Boot zu nehmen. Wir haben schon länger ein großes Schulportal „www.fazschule.net“. Lehrer können sich dort informieren und Unterrichtsinhalte in Anspruch nehmen. Für „80 Prozent für Deutschland“ haben sich über 250 Lehrer sich bundesweit angemeldet und nehmen an der Initiative teil. Wir haben bereits im April damit begonnen, „80 Prozent für Deutschland“ zu bewerben. Nun können die Schüler sich in verschiedener Weise am Projekt beteiligen. Zum Beispiel durch Gestaltung von Wahlplakaten. Die besten werden wir mit Preisen ehren.
Wer arbeitet in der Initiative mit?
GH : Am Schülerprojekt sind 250 Lehrer mit gut 7.500 Schülern beteiligt. Zurzeit machen 27 Prominente und Influencer mit. YouTuber wie LeFloid sind auch dabei. So versuchen wir, eine Verknüpfung zwischen den Jugendlichen und der Wahl zu finden. Es ist für uns wichtig, Personen zu involvieren, die unserer Zielgruppe etwas bedeuten. Diese rufen dann zur Wahl mit einem Wetteinsatz auf. Es wird natürlich sehr spannend, die Wetteinlösungen zu begutachten, wenn wir die 80 Prozent tatsächlich erreichen.
Innerhalb der FAZ kann man die Beteiligten gar nicht richtig zählen. Es gibt verschiedene Abteilungen, die uns helfen. Zum Beispiel gibt es ein Steuerungsteam, dann aber auch redaktionelle Unterstützung. Was uns freut ist der gute Zuspruch auf Social Media, woran natürlich auch unsere Leser beteiligt sind.
Warum haben Sie Erstwähler als Zielgruppe bestimmt?
GH : Weil es besonders wichtig ist, früh anzusetzen und das Thema Wahl, unser Recht und unseren Anteil an der Demokratie wahrzunehmen. Die Wahlbeteiligung ist gesunken und wir wollen der jungen Generation die Wichtigkeit, zur Wahl zu gehen und das Kreuzchen zu machen, verdeutlichen.
Bei der Initiative halten beispielsweise Youtube-Stars Schilder hoch mit „80 Prozent für Deutschland“, 80 Prozent Wahlbeteiligung. Durch diese Challenges ihrer Idole sollen sich Erstwähler motiviert fühlen, auch ihre Stimme abzugeben. Doch Kritiker behaupten, dass sich die Erstwähler nicht die politische Seite ihrer Stars vorgaukeln lassen, weil sie sich sonst kaum politisch äußern. Was sagen sie dazu?
MB : Die Initiative ist ein Türöffner für die Zielgruppe. Wenn wir jetzt einen Politiker hinstellen würden, würde sich die Generation nicht angesprochen fühlen. Die Anknüpfungspunkte braucht man zuerst und dann kommt die inhaltliche nächste Stufe. Bei mir war das damals genauso. Ich war bei der Bundestagswahl 1998 18 Jahre alt. Damals waren es auch Musiker und andere Prominente, die meine Aufmerksamkeit auf die Politik brachten und junge Politiker halfen mir dabei, mich für Politik noch stärker als ohnehin schon zu begeistern.
Sind die 80 Prozent denn realistisch?
MB : Das ist das Ziel. Die Erstwähler sind immer drunter, das ist auch nachvollziehbar. Aber es ist zumindest ein Versuch, die Prozente anzuheben. Es gibt Entwicklungen, die bei der Sache auch helfen könnten. Zum Beispiel das Erstarken der Rechtsaußen-Parteien, wir haben derzeit Entwicklungen in Polen, in Ungarn oder auch in den USA, die vielen Angst machen. Dies könnte ein Grund sein, wählen zu gehen. Wir sehen das ja auch auf den Social Media, wie viele Leute diskutieren. Die Chance, auf die 80 Prozent zu kommen, ist nicht sonderlich groß…aber möglich! Ist halt sportlich – aber umso motivierender.
GH : Ich schätze mal, das Ergebnis liegt bei genau 80,01 Prozent. (lacht)
MB : Bei 79,9 würde ich mich ärgern.
GH : Dann runden wir auf. (lacht)
Seit vielen Jahren wählen Erstwähler eher Richtung links. Wird die Welt so immer linker?
MB : Glaube ich nicht. Wir sehen derzeit ja Gegenbewegungen, die durchaus auch junge Leute anziehen. In Deutschland haben wir die AfD, in anderen Ländern haben wir rechtspopulistische Parteien, die immer mehr Zulauf bekommen.
Deswegen ist es wichtig, dass auch die Parteien der Mitte die junge Generation nicht außen vor lassen.
Die Wahlforschungsseite „Politbarometer“ des ZDF gibt derzeit folgende Wahlprognose: 40 Prozent CDU, 24 Prozent SPD, Grüne, Linke, FDP und AFD acht Prozent. (Stand: 21. Juli 2017) Doch 2013 erreichte die SPD 25,7 Prozent. Ist der „Schulz-Hype“ zu früh gekommen?
MB: Der Schulz-Hype hat vor allem die SPD-Leute mobilisiert. Die waren plötzlich total motiviert und haben Schulz als Heilsbringer angesehen. Die SPD hat diese Bewegung sehr propagiert. Sie hat aber auch das Problem, dass ihnen Themen weggenommen wurden. Zudem kommen noch die Abspaltung der Linkspartei und eine Kanzlerin, die sehr geschickt auf der Klaviatur spielt und zumindest inhaltlich auch bei der SPD hätte landen können. Bei der Ehe für alle hat sie auch nur dagegen gestimmt, um konservative Wähler ihrer Partei nicht zu verschrecken. Schulz kann sich gut auf internationalem Boden bewegen, aber ihm fehlt vielleicht die Ausstrahlung eines Emanuel Macron, der durch Frankreich marschiert und in den Élysée-Palast einzieht.
Also wäre das auch Ihre Antwort auf meine nächste Frage: Angie oder Schulz – wer wird siegen?
MB : Ja, der Sieg Merkels ist, nach all dem was passiert, relativ wahrscheinlich. Aber wir sind ja in einer Zeit, in der jeden Tag etwas Gravierendes passieren kann. Wenn man sich die Terroranschläge anschaut, hat man mit all dem nicht gerechnet. Das kann einen ja ganz schön aus dem Alltag reißen.
Ich selber wohne in Berlin. Der Anschlag in Berlin am Breitscheidplatz war schlimm, hat aber, was die Wählerstimmung angeht, nicht so viel ausgelöst. Aber wenn jetzt noch etwas Gravierenderes passieren würde, wer weiß, Merkel steht ja auf Grund ihrer Flüchtlingspolitik 2015 bei manchen am Pranger und dann könnte es durchaus kippen. Aber dann ist es immer noch fraglich, ob es Richtung SPD kippt.
Wie beeinflusst die momentane Situation in der Türkei Deutschland und die kommenden Wahlen?
MB : Allenfalls hat das Einfluss auf die türkischstämmigen Wähler, die hier wählen dürfen. Viele fühlen sich in die Polarisierung hineingetrieben. Mein Nachbar in Berlin entpuppte sich plötzlich als blühender Erdogan-Anhänger, der aber auch nur türkische Medien konsumiert, wo eben auch alles derzeit sehr einseitig dargestellt wird. Er ist deutscher Staatsbürger und bislang klassischer SPD-Wähler. Jetzt kann ich mir aber vorstellen, dass er eventuell wegen Gabriel nicht mehr die SPD wählen wird. Aber insgesamt sind das ja nicht sehr viele, die somit auch keinen so großen Einfluss haben sollten.
Welche Rolle spielen Medien in dem Wahlkampf?
MB : In manchen Kreisen haben Medien heutzutage ein großes Glaubwürdigkeitsproblem, werden als „Mainstreammedien“ dargestellt. Letztens hatte ich ein langes Gespräch mit meinem Friseur, der mir dann erzählte, wo er seine ganzen Fakten herbekommt. Er meinte, Zeitungen wie die FAZ stellten alles nur sehr einseitig dar. Er kritisiert „Mainstreammedien“ und verdammt sie, ist aber sehr unkritisch gegenüber anderen Quellen, etwa Blogs oder YouTube. (Bitte hier ein Beispiel für den Informationsbezug des Friseurs. Und was bedeutet das für den Wahlkampf? Es wäre schade diese Frage herauszustreichen. Gerade unter Medien. Danke)
Die FAZ ist ein liberal-konservativ ausgerichtetes Medium. Wie gehen Sie mit der Berichterstattung über die AFD um: Gab es Diskussionen, sie weniger oder kritischer zu präsentieren als andere Parteien?
MB : Wir haben dafür Autoren, die nah dran sind und mit Fairness an die Berichterstattung rangehen. Ich glaube, dass jeder Redakteur gucken sollte, welche Relevanz die Partei hat: Je stärker diese ansteigt, muss man mehr berichten, aber man sollte nicht jede kleine Provokation zum Anlass der Berichterstattung machen. Wenn das halbe Land darüber spricht, dann können wir und wollen uns dem auch nicht entziehen.
Geht die Demokratie dem Ende zu?
MB : Nein.
GH : Wir alle sagen mal nein. (lacht)
MB : Die Demokratie ist anstrengend, weil man sich informieren sollte. Aber man muss es nicht, man kann auch einfach so ein Kreuzchen abgegeben. Ich kenne kein besseres System. Ich war schon ein paarmal in Nordkorea, dort sah ich den Gegenpol. Die Demokratie besteht ja nicht nur aus staatlicher Politik, sondern auch aus Informationsfreiheit, NGOs, Ehrenamt und anderen Projekten und wenn man auch dort mitmacht, macht man genauso gut bei der Demokratie mit, wie wenn man sich in einer Partei beteiligt. Auch wir im Journalismus müssen den Rest der Gesellschaft abbilden und nicht nur die Parteien. Menschen, die Flüchtlingen helfen, machen nämlich genauso Politik wie solche, die sich gegen Windräder engagieren oder auf die Straße gehen.