Viele Bekenntnisse, Umsetzung fraglich

Auf Nachfrage bekennen sich alle Bundestagsparteien zur Förderung und zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Dafür haben sie verschiedene Ideen – auch für die Zeit nach der Bundestagswahl. In der Praxis zeigt sich jedoch: Da geht noch mehr.

Wahlbenachrichtigungsbrief
Wahlbenachrichtigung: Am 26. September wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Wird er auch die vielfältigen Interessen von Jüdinnen*Juden vertreten? | Foto: Andreas Lischka / Pixabay

Sich als jüdisch bekennende Politiker*innen sind in der deutschen Spitzenpolitik kaum sichtbar. Vereinzelt sind Jüdinnen*Juden, die sich entscheiden diesen Teil ihrer Identität öffentlich zu machen, in den Landtagen und Stadträten vertreten. Eine von ihnen ist Karin Prien, Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Schleswig-Holstein. Sie habe lange mit sich gerungen, bevor sie sich als Jüdin bekannt habe, sagt sie im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen. „Ich wollte (…) nicht mit meinem Jüdischsein hausieren gehen, mich nicht darauf reduzieren oder darüber definieren lassen“. Mit aufkeimendem Antisemitismus in Frankreich entwickelte die 56-Jährige das Bedürfnis, über ihre Identität zu sprechen.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland kommentiert auf die politikorange-Anfrage, inwiefern Jüdinnen*Juden in der deutschen Politik sichtbar sind: „Ob ein Politiker selbst zu erkennen gibt, dass er jüdisch ist, ist seine individuelle Entscheidung. Einige wollen über ihre fachliche Kompetenz wahrgenommen werden, nicht über ihre Zugehörigkeit zum Judentum“. Gleichzeitig erhoffe sich der Zentralrat aber eine stärkere Sichtbarkeit jüdischer Politiker*innen. Das American Jewish Committee, eine jüdische Organisation, die international gegen Antisemitismus arbeitet, sagt im Deutschlandfunk, dass leider mit Angriffen gerechnet werden müsse, wenn Jüdinnen*Juden in der Öffentlichkeit stünden.

Die Publizisten Ruben Gerczikow und Monty Avi Ott, die gemeinsam das Medienprojekt Laumer Lounge bilden, kritisieren, dass jüdischen Akteur*innen meistens die Individualität und Selbstständigkeit abgesprochen werde. Sie „werden meistens auf die Rolle als Repräsentant*in des Kollektivs reduziert. Und damit auf die Opferrolle. Doch jüdisches Leben ist vielfältig und das spiegelt sich bisher nur allzu wenig in der Politik wieder“, so die beiden Autoren.

Was sagen die Parteien?

Um sich ein Bild zu machen, was die Parteien explizit zu jüdischem Leben in Deutschland beitragen wollen, hat politikorange die Wahlprogramme der Parteien für die Bundestagswahl 2021 verglichen und deren Presseteams kontaktiert. Die SPD lieferte bis Redaktionsschluss keine Antwort auf eine Presseanfrage. Union, SPD, Grüne, FDP und Linke bekennen sich in ihren Wahlprogrammen zum Judentum als integralen Bestandteil Deutschlands. Die AfD formuliert das nicht, fordert aber – wie alle anderen Parteien auch – mehr Sicherheit für Jüdinnen*Juden in Deutschland. Antisemitischer Hetze – das betonen alle Parteien – gilt es entgegenzutreten. Auf die Frage von welchen Gruppen diese Hetze ausgehen soll, unterscheiden sich die Deutungen. Die Union will Antisemitismus bekämpfen, „egal, woher er kommt“, spricht jedoch lediglich Antisemitismus von „rechtsaußen, linksaußen oder von migrantisch geprägten Milieus“ an. Im Mai erntete aber ein CDU-Kandidat in Thüringen – Hans-Georg Maaßen – Kritik. Er nutzte Begriffe, wie „Globalisten“ und „Great Reset“, wie ARD Kontraste und Volksverpetzer berichteten. Dafür attestiert ihm der thüringische Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer, er nutze „antisemitische Codes“. Kanzlerkandidat Laschet nahm Maaßen bisher in Schutz.

Blick in den Bundestag
Parlament: Der Sitzungssaal im Bundestag von oben. Jüdinnen*Juden schauen meist nur von außen hinein. Foto: Claudio Schwarz / Unsplash

Die Kanzler*innen- und Spitzenkandidat*innen von SPD, Grünen und Linken geben sich in ihren Interviews mit dem Zentralrat der Juden im Juli und August 2021 selbstkritisch und wollen Antisemitismus auch in der eigenen Partei entschlossen entgegentreten. So verspricht Dietmar Bartsch (Die Linke) er werde „vor eigener Haustür kehren“. Den Mitte-links Parteien wird teils vorgeworfen, dass israelbezogener Antisemitismus immer wieder unter Parteimitgliedern vorkommt, auch wenn deren Spitzenkandidat*innen sich im Interview klar davon distanzieren. (Die Interviews mit den Kandidaten von Union und FDP fanden nach Redaktionsschluss am 15. (CDU) und 29. August (FDP) statt.)

Die FDP will Antisemitismus überall bekämpfen und nennt im Programm die antiisraelische Kampagne BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen), sowie „antisemitische und israelfeindliche Geschäftspraktiken“ als Probleme. Auf die Polizei, Sicherheitsbehörden und Justiz als einen Pfeiler gegen Antisemitismus, um mit jüdischen Gemeinden Sicherheitskonzepte zu erarbeiten und Beratung zu ermöglichen, setzen SPD, Grüne, Union und FDP. Die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die gegen Antisemitismus arbeiten, ist ein wichtiger Aspekt für Grüne und SPD. Das finden auch die Linken, die allerdings naturgemäß keine Stärkung der Sicherheitsbehörden fordern, sondern diese auf antisemitische Gesinnungen hin prüfen wollen.

Auch der Zentralrat plädiert für eine „nachhaltige Förderung und Unterstützung des Staates“ zivilgesellschaftlicher Initiativen. Ein entsprechendes Demokratiefördergesetz, das solche Initiativen absichern sollte, scheiterte im März 2021 an der Union, die Sorgen hatte „zu linke“ Organisationen zu unterstützen, wie der Spiegel berichtete. Die Union fordert in ihrem Wahlprogramm den Besuch von KZ-Gedenkstätten als Angebot für alle Schüler*innen.

Alle Bundestagsparteien, außer die AfD, formulieren eine Verbesserung der Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Schulunterricht anzustreben. Diese sieht Antisemitismus als Problem, das „nicht nur von Rechtsextremisten, sondern zunehmend auch von juden- und israelfeindlichen Muslimen“ ausgehe. AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen sieht die Ursache für den erstarkenden bzw. sichtbarer gewordenen Antisemitismus in einer „katastrophalen Einwanderungspolitik“ und fordert in einer Presseerklärung auf der AfD Webseite vom Mai diesen Jahres deswegen mehr Abschiebungen.

Die rechtspopulistische Partei unterstützt damit laut Zentralrat der Juden nicht die jüdische Gemeinschaft. „Die AfD (…) vertritt nach unserer Einschätzung nicht unsere Interessen, weil sie an einer gegen Minderheiten gerichteten Spaltung der Gesellschaft arbeitet, zu Hetze im Internet beiträgt und Politikverdrossenheit schürt. Selbst wenn sich ihre Politik vor allem gegen Migranten und Muslime richtet, was völlig inakzeptabel ist, richtet sich eine solche Stimmung auch ganz schnell gegen Juden. Und wer den Nationalsozialismus relativiert, kann sich nicht mehr glaubwürdig als Freund der jüdischen Gemeinschaft verkaufen“. Bei den anderen Bundestagsparteien seien „die Belange der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland fest auf der Agenda“, sie stünden im Kampf gegen Antisemitismus an der Seite von Jüdinnen*Juden.

Ausbaufähige Pläne und fragliche Umsetzung

Die Wahlprogramme, wie auch die Antworten der Parteien, beziehen sich schwerpunktmäßig auf Antisemitismus und Israel. Zum alltäglichen jüdischen Leben in Deutschland abseits davon haben die Parteien tendenziell wenig zu sagen. Grüne und Linke wollen jüdische Feiertage in Deutschland verankern und so Terminkollisionen – etwa mit Examensprüfungen – auflösen. Im Interview mit dem Zentralrat gibt SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz zu, von der Problematik zum ersten Mal etwas zu hören, das Problem jedoch lösen zu wollen. Union, SPD und Linke möchten die finanzielle Sicherheit von Jüdinnen*Juden mit Fluchterfahrung verbessern, die als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland gekommen sind. Die Union will den Austausch mit Israel fördern und Grüne wie auch SPD sich für mehr Begegnungen in Deutschland zwischen Jüdinnen*Juden und nichtjüdischen Menschen einsetzen.

„AfD und Co. ausgenommen“, sagt Jana*, eine 24-jährige junge Jüdin, wollten grundsätzlich die „großen Parteien das jüdische Leben unterstützen und florieren sehen“. Der tatsächlichen Umsetzung steht die Studentin, die sich nebenbei in dem Begegnungsprojekt Meet a Jew engagiert, aber skeptisch gegenüber. „Das Thema jüdisches Deutschland ist bei vielen im Wahlprogramm, das ist natürlich gerne gesehen, wie sich das konkret im everyday-life äußert, ist nochmal eine ganz andere Sache.“

Ob wir in Zukunft eine Gesellschaft gestalten können, in der Jüdinnen*Juden sich vermehrt auch dazu entscheiden, in die Politik zu gehen und sich dort mit dem jüdischen Teil ihrer Identität zu zeigen, entscheidet womöglich eben jenes everyday-life. Die Parteien haben das Potenzial, die Grundlage zu schaffen, dass jüdisches Leben in Deutschland floriert. Sie zur Einhaltung ihrer Versprechen zu drängen, scheint zunächst Aufgabe der Zivilgesellschaft zu bleiben. Gerzcikow und Ott fassen das Ziel nach einem Zitat des deutsch-jüdischen Philosophen Theodor W. Adorno zusammen: Eine Gesellschaft, in der jede*r „ohne Angst verschieden sein kann“.

Info BDS: Die tagesschau beschreibt den BDS wie folgt: „Die Abkürzung BDS steht für Boykott, Desinvestition und Sanktionen. Knapp 170 palästinensische Organisationen hatten 2005 zu einem Boykott gegen Israel aufgerufen. BDS-Aktivisten fordern Politiker, Unternehmer, Künstler, Wissenschaftler oder Sportler dazu auf, Auftritte, Investitionen oder wissenschaftliche Kooperation abzusagen oder zu beenden“.

*Name auf Wunsch der Protagonistin geändert, ist der Redaktion aber bekannt.

Moritz Müllender

versucht als weißer cis-hetero Typ einen selbstkritischen Beitrag zu einer gerechteren Welt zu leisten. Liebt Köln, Surfen und Musik machen.

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