Nach der Grundschule geht’s ans Selektieren. Wer darf auf das Gymnasium und wer nicht? Bei der Schullaufbahnempfehlung entscheidet oft nicht die Schulleistung, sondern das Elternhaus, aus dem die Kinder stammen. Leonie Ziem geht der Sache auf den Grund.
„Man braucht viel Glück und das ist traurig“, sagt Isi und ergänzt, „Bildung sollte nicht vom Glück abhängen.“ Mit ganzem Namen heißt Isi eigentlich Işilay Işilar-Güneş. Wenn sie spricht, malt sie oft Anführungszeichen in die Luft: Etwa bei Wörtern wie „deutsch“ oder wenn es darum geht, dass ihre Eltern beruflich „nicht Wildes“ machen würden. „Ich habe eine verdammt große Familie und ich bin die Einzige mit einem akademischen Abschluss“, erklärt sie, korrigiert sich jedoch später noch mal, als ihr eine Cousine einfällt, die auch studiert hat.
Lässig an einen Stehtisch gelehnt, erzählt Isi, dass ihre Eltern Gastarbeiterkinder sind. Ihre Mutter kam mit sechs, ihr Vater mit 16 Jahren nach Deutschland. Er war damals Analphabet und lernte innerhalb von drei Monaten in einer Berufsschule lesen und schreiben, um daraufhin direkt Untertage arbeiten zu gehen.
Alltagsrassismus hat Isi als Jugendliche überhaupt nicht wahrgenommen, und das, obwohl ein Lehrer sie „Lakritzkopf“ nannte. Erst als sie nach einem Auslandsaufenthalt zurück nach Deutschland kam, hat sie gemerkt, wie präsent Rassismus im Alltag ist. Doch „Rassismus lache ich aus.“ sagt sie bestimmt. Momentan ist sie ehrenamtlich im schulischen Kontext engagiert, weil sie gemerkt hat, dass das Bildungssystem Unterdrückungsmechanismen und Bildungsungleichheiten nicht auffangen kann.
Sag mir, was deine Eltern machen, und ich sage dir, auf welche Schule du gehst
Die erste Selektion von Schülerinnen und Schülern findet beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule statt. Viele, so auch Isi, stellen die Forderung, flächendeckend in Deutschland erst nach der sechsten Klasse die Schülerinnen und Schüler zu trennen. Eine Selektion nach der vierten Klasse, wie sie in vielen Bundesländern üblich ist, wird vermehrt für pädagogisch fragwürdig gehalten.
Nina Kolleck, Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Bildung an der Universität Leipzig, sagt: „Es gibt unterschiedliche Faktoren, die bei der Schullaufbahnempfehlung durch Grundschullehrerinnen und -lehrer eine Rolle spielen. Zum einen natürlich die Schulnoten und die Kompetenzen der Kinder. Besonders interessant sind aber die Schullaufbahnempfehlungen der Kinder mit mittelmäßigen Leistungen. Hier zeigt sich, dass der sozioökonomische Status der Familie einen ganz entscheidenden Effekt hat. Kinder aus so genannten ‚bildungsnahen‘ Familien erhalten mit mittelmäßigen Schulleistungen signifikant öfter eine Gymnasialempfehlung als Kinder der so genannten ‚Bildungsfernen‘. Das ist ein schwieriger Effekt vor dem Hintergrund der Bildungsungleichheit.“
Wie Bildungsungleichheiten abbauen?
Die deutsche Bildungswissenschaft ist sich einig: Einer der grundlegenden Schulfunktionen ist die Selektion. Isi erzählt: „Meine Lehrerin hat damals gesagt, ich sollte lieber auf die Realschule gehen. Keine Ahnung, warum.“ Zwar hatte Isi mittelmäßige Schulnoten, doch dafür genug Willenskraft. „Und das sollte doch auch zählen, oder?“ fragt sie. Nachdem Isi auf der Realschule war, machte sie ihr Fachabitur und studierte schließlich BWL.
Sollten also erst nach der sechsten Klasse Empfehlungen ausgesprochen werden? Professorin Nina Kolleck ist skeptisch, ob eine fairere Beurteilung von Kindern durch eine längere Grundschullaufzeit hergestellt werden kann. „Der Effekt wird dadurch nicht eliminiert. Es gibt bereits einige Bundesländer, deren Schulsysteme eine Grundschullaufzeit bis zum Ende der sechsten Klasse vorsehen. Dort lässt sich aber genauso beobachten, dass Schülerinnen und Schüler, die eher mittelmäßig abschneiden, von den Lehrkräften unterschiedlich – je nach Elternhaus – bewertet werden.“
Hinter der Forderung, Kinder erst nach der sechsten Klasse zu trennen, steht zwar der Gedanke, die gemeinsame Schulzeit zu verlängern und dadurch Bildungsungleichheiten abzubauen, jedoch hängt dies sehr stark vom Kind ab. „Einerseits gibt es das Argument, dass die Pubertät in der sechsten Klasse beginnt – das ist nicht das ideale Alter für die Selektion und um eine Klasse auseinanderzureißen. Andererseits, gibt es auch Schülerinnen und Schüler, die bis zur vierten Klasse noch nicht so gut waren und plötzlich ab der fünften Klasse einen Leistungsschub erfahren. Von daher gibt es sowohl Argumente für als auch gegen eine Verlängerung der Grundschulzeit. Eine mögliche Lösung ist die Gemeinschaftsschule, in der Kinder vom Anfang bis zum Ende gemeinsam lernen“
Isi ist der Ansicht, das Bildungssystem habe versagt. „Es gibt nur wenige Lehrkräfte, die das ausgleichen“, sagt sie. Vielleicht muss somit der Gedanke der Selektion einmal gründlich hinterfragt werden. Zwar scheint es sinnvoll, dass die Schule jeder Schülerin und jedem Schüler individuelle Förderungsmaßnahmen bietet, aber warum muss dies durch Selektionsinstrumente geschehen? Eine „faire“ Selektion in Anbetracht von rassistischen und klassizistischen Tendenzen im Alltag ist schwer möglich.