5 Gründe gegen deinen Freiwilligendienst im globalen Süden

Winter für Winter fliegen viele Vogelarten aus dem Norden in wärmere Gefilde. Früher im Jahr, pünktlich zum Schulabschluss zieht es jedoch schon eine andere Art in den globalen Süden: Die Rede ist von Freiwilligen, sog. „Volunteers“. Alle wollen helfen, dabei was erleben.

Grenzenlos europäisch. I Foto: Unsplash

Freiwilligendienste sind zu einem regelrechten Hype geworden. Allein 2017 sind ca. 27.000 Volunteers kommerzieller und staatlich geförderter Organisationen von Deutschland ins jeweils erwünschte Elend gejettet. Kommerzielle Anbieter*innen verticken ihre Reisen auf Eventmessen. Gemeinnützige Anbieter*innen geben sich mit ihren Vor- und Nachbereitungsseminaren einen seriösen Anstrich, mit denen sie die Entsendeten auf den „interkulturellen Austausch“ vorbereiten wollen. Gemeinsam haben sie jedoch eins: Beide verschicken meist Weiße [1] Menschen in den globalen Süden und reproduzieren so koloniale Muster, die schon Jahrhunderte Bestand haben [2].

Ich bin selbst eine Weiße Person und habe ein halbes Jahr an einer Grundschule in Südafrika als Volunteer verbracht. Deshalb meine ich mich auch immer selbst, wenn ich „du“ schreibe. Heute schäme ich mich für mein Verhalten. Ich wünschte, jemand hätte mir den Text gezeigt, den ich gerade schreibe. Denn dann hätte ich gewusst: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Damit du nicht den gleichen Fehler begehst, findest du hier fünf Gründe, warum du zuhause bleiben solltest.

#1. Du machst das nur für dich!

Wir beschreiben uns gerne als gewissenhaft und ehrlich. Komisch nur, dass wir diese Tugenden regelrecht verprügeln, wenn wir von Freiwilligendienst reden. Schon der mittelalterliche Adel war da ehrlicher: Die Söhne reicher Adelsfamilien wurden auf Entdeckungsreise durch Europa geschickt. Horizonte erweitern war anscheinend schon damals trendy. Der Unterschied ist: Solche Reisen wurden damals nicht ins Gewand des Altruismus gekleidet. Nicht geben war das Motto, sondern bekommen. Nämlich reiche Beute in Form von Erfahrung, Führungsbewusstsein und Know-How. Heute stehen Erfahrungen im Ausland immer noch ganz oben auf der Checkliste des Lebenslaufs. Nur dass man sich nicht mehr die Drei-Felder-Wirtschaft des Nachbarlandes anschaut, sondern verarmte Kinder, um den eigenen Karriereplan voranzubringen.

Wäre es zu viel, von Ausbeutung zu sprechen? Ich finde nicht. Denn Voluntourismus beutet Kinder und Menschen im globalen Süden aus, um an die wertvollen Erfahrungen und sozialen Komponenten zu kommen, die im Lebenslauf privilegierter Europäer*innen so wichtig sind.
Unterm Strich verdienen also alle gut am Voluntourismus: Die Versende-Organisation an der Vermittlung zum Projekt, die Reiseunternehmen an den Flügen, Transfers und Unterkünften, die Freiwilligen an der Erhöhung ihrer Reputation und die lokalen Projekte erhoffen sich eine langfristige Bindung der Freiwilligen als Spende-Pat*innen. Auf der Erzeugung von Mitleid und der engelsgleichen Hilfsbereitschaft von Weißen Menschen baut eine ganze Industrie auf. Am Ende verlieren die, denen eigentlich geholfen werden sollte. Sind wir also ehrlich – du hilfst hier nur dir selbst!

#2. Du bist nicht qualifiziert genug!  

Nehmen wir an, du bist an eine seriöse Organisation geraten, die versichern kann, dass sie mit „orphanage tourism[3] nichts zu tun hat. Nehmen wir des Weiteren an, dass du die ach so schwere Odyssee der Visa-Beschaffung hinter dich gebracht hast, nur um dabei zu vergessen, wie blitzblank das Silbertablett poliert ist, auf dem dir dein deutscher Allround-Pass inklusive Visum gereicht wird. Nehmen wir abschließend an, dass du mit deinem Flug den Klimawandel als potentielle Fluchtursache Nr. 1 angeheizt hast und erfolgreich auf dem „überraschend modernen“ Flughafen gelandet bist. Dann solltest du dir folgende Frage stellen: Was ist es, was mich zu einer*m qualifizierten Helfer*in macht?

Wenn du darauf keine Antwort hast, dann herzlichen Glückwunsch – du hast den ersten Schritt Richtung Selbstreflexion geschafft. Wenn du die Frage allerdings wie einen der Regentropfen wegwischst, die gerade aufs Rollfeld fallen – ja, im globalen Süden regnet es auch – dann kann ich dir nicht gratulieren. Du bläst damit in das gleiche Horn, in das schon unzählige Missionar*innen und Kolonisator*innen vor dir geblasen haben. Jahrhundertelange Kolonisation und die unzähligen Völkermorde brauchten schließlich eine Rechtfertigung. Man hat sie in den Rassentheorien gefunden, die den Weißen Menschen als wissend, rational und individuell darstellen und den Schwarzen Menschen als kindlich, irrational und kollektivistisch. Dieses Bild vom wilden Schwarzen Menschen erlaubte es den Weißen Kolonisator*innen als Zivilisator*innen aufzutreten.

Dieses System ist mehr als ein historisches Artefakt. Es wirkt bis heute. Denk nur an die Selbstverständlichkeit, mit der du deiner Oma von deiner Idee erzählt hast, in Afrika zu „helfen“. Wie hätte sie wohl geguckt, wenn du statt Afrika Schweden gesagt hättest? Wahrscheinlich hättest du erklären müssen, wem genau du dort helfen willst und was dich qualifiziert, dich als Lehrer*in vor eine schwedische Schulklasse zu stellen. Dies nicht erklären zu müssen, ist ein koloniales Muster. Es nennt sich „white saviourism“. Es erscheint als unumstößliche Wahrheit, dass Menschen aus dem globalen Norden Menschen aus dem globalen Süden helfen oder gar retten müssen. Nur um dabei zu übersehen, dass es vor Ort schon etablierte (Bildungs-)Strukturen mit bewährter Expertise und ausgebildeten Kräften gibt.

Wir als Menschen im globalen Norden profitieren davon, dies alles zu übersehen. Denn in Freiwilligendiensten kann man Erfahrungen sammeln, sich ausprobieren. Und wenn dabei was schief geht, ist es ja auch nicht so schlimm. Der afrikanische Kontinent wird zu deinem persönlichen Testgelände, hier ist try and error noch erlaubt. Scheiße nur, wenn dabei Kinder nicht die Bildung erhalten, die sie durch lokale Fachkräfte erhalten könnten. Übrigens: Vor ein paar Wochen hatte ein Weißer Wissenschaftler die Idee, den neuen Corona-Impfstoff zuerst in afrikanischen Ländern zu testen. Siehst du hier irgendwo Parallelen zu deinem Freiwilligendienst? Anscheinend bist du doch nicht so charity!

Reisen ist doch super. Oder? I Foto: Unsplash

#3. Du profitierst noch stärker von Nord-Privilegien!

Das Leben als Volunteer funktioniert folgendermaßen: Du arbeitest einen Drittel des Tages in deinem Projekt, die anderen zwei Drittel chillst du mit den anderen Nord-Volunteers. In dieser Zeit macht ihr Urlaub. Aber kein Urlaub, wie du ihn vom Family-Sommer-Trip nach Spanien gewohnt bist. Ihr müsst euch keine in eurem winzigen Appartement geschmierten Stullen an den Strand nehmen. Ihr kauft euch einfach im Restaurant an der Ecke etwas. Der Euro regelt halt. Ihr müsst auch nicht darauf achten, ob euer Sommer-Look sitzt. Als Weiße Menschen werdet ihr sowieso als schön wahrgenommen. Als Menschen aus dem globalen Norden und explizit als Weiße Person erfahrt ihr ein all-inclusive Upgrade eurer sozioökonomischen Position. Dass dies nicht an euren eigenen grandiosen Leistungen oder an eurer bestechenden Ästhetik liegt, wird dabei schnell mal vergessen. Vielmehr macht euch die Konstruktion des Weißen Menschen als erstrebenswertes Ideal das Leben leicht. Sich solche Privilegien nicht bewusst machen zu müssen ist ebenfalls ein Privileg, das Weiße Menschen überall auf der Welt genießen. Wird euer Bewusstsein dafür an Orten wachsen, an denen Weiß-sein noch besser funktioniert? Fraglich. Im schlimmsten Fall wird das Auffallen der eigenen weißen Haut als „umgekehrter Rassismus“ [4] gedeutet. Lass es nicht soweit kommen!

#4. Du verfestigst Machtstrukturen!

Wenn ihr am Nachmittag in eurer Volunteer-Gruppe über die Strände flaniert, an die das Projekt natürlich nur zufällig angrenzt, wird auch der Tag rekapituliert. Ihr tauscht euch über Lehrmethoden und heutigen Erfahrungen aus. Ganz automatisch benutzt ihr dabei Wörter wie „wir“ oder „die“.

Nicht nur, dass ihr eine Gruppe von primär Weißen Menschen seid, die sich über effiziente Lehrmethoden für Schwarze Menschen oder POC austauscht. Nein, ihr reproduziert mit rassistisch geprägter Sprache das Muster, von dem der Kolonialismus quasi gelebt hat: Die Abgrenzung des „Eigenen“ von dem „Anderen“, das sogenannte „Othering“. Beide Kategorien werden dann mit jeweils auf- und abwertenden Attributen besetzt.
Natürlich seid ihr als liberale Kosmopolit*innen davon überzeugt, dass ihr nicht besser seid als die Anderen, wäre ja auch rassistisch. Nichtsdestotrotz erscheint ihr in dieser Gegenüberstellung als die handelnden, aktiven, Weißen Subjekte, die über die passiven, empfangenden Schwarzen Objekte reden. Und das ist auch gar nicht zu vermeiden – seid ihr nicht genau deshalb in dieses Land gekommen, um zu geben? Blöd nur, dass es immer jemanden braucht, der eure Hilfe dankbar empfängt. Der damit automatisch unter euch steht und abhängig ist. Auch der Einwand, dass ja jetzt von „Entwicklungszusammenarbeit“ oder vom globalen „Voneinander-Lernen“ geredet wird, hilft nicht: Eine wirkliche Zusammenarbeit funktioniert nur auf Augenhöhe. Du und deine Volunteer-Gruppe stehen aber auf dem 10-Meter-Brett und schauen herunter!

#5. Du bist ein*e koloniale*r Berichterstatter*in!

Wenn du dich gerade mal nicht mit deinen Co-Volunteers über Schwarze Menschen oder POC unterhältst, dann schreibst du an deinem Blog für Freund*innen und Familie daheim, in dem du dich als „Surviver“ der ganzen Unannehmlichkeiten in deinem Projekt abfeierst. Oder du bearbeitest dein neues Insta-Pic, dass dich auf einem Markt vor Gewürzbergen zeigt. Damit trägst du wesentlich zur Exotisierung des globalen Südens bei.

In unzähligen Berichten deutscher Freiwilliger zeigen sich immer wieder Denkmuster, die schon in Reiseberichten zur Kolonialzeit sehr populär waren. Im Mittelpunkt steht die Romantisierung des „unbekannten, fremden Landes“. Nicht selten projizieren Europäer*innen ihre Sehnsüchte von unberührter Natur und ursprünglichen Gemeinschaften auf den globalen Süden. In ihren industrialisierten und durchorganisierten Gesellschaften haben die nun mal keinen Platz. So ist auch die Geschichte von Aladin und seiner Wunderlampe von einem Weißen, französischen Autor geschrieben worden – und hat mal eben ein Bild des „Orients“, der anscheinend vor Datteln und Kamelen überquillt, in die Köpfe der Menschen gesetzt. Diese Vorstellungen der Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit dienten und dienen dem Zweck, Menschen des globalen Südens als „unterentwickelt“ zu repräsentieren und dadurch Entwicklungsarbeit und Unterwerfung zu legitimieren.
Deine Bilder und deine Sprache, die die Ursprünglichkeit betonen, verfestigen deine eigene koloniale Vorstellung. Noch schlimmer ist aber, dass du diese Vorstellung ebenfalls deinen Leser*innen zuhause vermittelst. Das zu vermeiden ist sehr schwer – meist sucht das Kameraobjektiv ganz automatisch die vermeintlich „authentischen“ Bilder, die du aus europäischen Medien gewohnt bist. Fotografier dich doch lieber mit einem Eimer Sangria am Ballermann. Das läuft mit ziemlicher Sicherheit nicht Gefahr, für authentisch gehalten zu werden.

Jedes Jahr finden so die Ideen des Kolonialismus ihren Weg in die Köpfe junger und alter Europäer*innen. Sie fangen an, sich für „Entwicklungszusammenarbeit“ zu begeistern und werden so unwissentlich zu einer Armee von Neokolonialist*innen, die sich paradoxerweise die Dekolonisation auf die Fahne schreibt. Dabei bleibt ein Verständnis von globalen und hegemonialen Machtstrukturen auf der Strecke. Im schlimmsten Falle sorgt der Freiwilligendienst sogar dafür, dass die Existenz solcher Machtstrukturen negiert wird oder dieser zur eigenen Verteidigung herhalten muss. Nach dem Motto: „Ich kann kein*e Rassist*in sein, ich habe Schwarzen Menschen und POC geholfen“.

Es gibt sicherlich noch 1001 Gründe gegen Freiwilligendienste im globalen Süden. Diese Aufzählung beansprucht deshalb keine Vollständigkeit, zumal ich selbst aus einer Weißen Nord-Perspektive schreibe. Dennoch habe ich einen Tipp für all jene, die die gleiche Perspektive einnehmen: Anstatt neokoloniale Verhältnisse zu festigen und dich als handelndes Subjekt aufzuwerten, solltest du deine Bildungsprivilegien nutzen, um dich und dein Umfeld für Rassismus und Neokolonialismus zu sensibilisieren. Was Corona uns gelehrt hat gilt auch hier: Stay the fuck home!

Hier gibt es Info-Material zu einem kritischen Blick auf Freiwilligendienste:

https://nur-noch-kurz-die-welt-retten.org/

https://www.glokal.org/publikationen/mit-kolonialen-gruessen/

https://eineweltstadt.berlin/publikationen/broschuere-wer-andern-einen-brunnen-graebt/

https://solarev.org/be-aware/2016/12/11/der-postkoloniale-blick/

[1] Wenn ich „Schwarz“ oder „Weiß“ schreibe beziehe ich mich nicht auf die Hautfarbe, sondern auf die gesellschaftlichen Zuschreibungen und Stereotypen, die mit Hautfarbe verbunden werden. Neben Schwarzen Menschen gibt es auch People of Color (POC), die unter Umständen als Weiß angesehen werden können.

[2] Die Perspektive eines Schwarzen Menschen oder POC, der*die einen Freiwilligendienst im globalen Süden absolviert ist wesentlich komplexer als die eines Weißen Menschen. Da dieser Text aus einer Weißen Perspektive geschrieben ist, bezieht er sich nur auf als Weiß wahrgenommene Menschen.

[3] Waisenhaus-Tourismus: Viele Kinder in Waisenheimen haben oft noch Eltern. Schätzungen zufolge sind so zum Beispiel in Nepal 85% der Kinder sog. „Papierwaisen“, haben also nur auf dem Papier keine Eltern. Die Waisenhäuser entstehen überall im globalen Süden, um die Voluntourismus-Nachfrage nach verarmten Kindern zu decken.

[4] Spoiler: Den gibt es nicht. Rassismus funktioniert nur in eine Richtung, denn er ist ein System, das weiß nach oben und schwarz nach unten stellt. Immer und überall.

Leon Lobenberg

... denkt, dass zum Einatmen auch ein Ausatmen gehört. Durch das journalistische und kreative Schreiben hat er einen Weg gefunden, genau das zu tun: Alles im Studium und Alltag eingeatmete Wissen, wieder auszuatmen.

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