„Nüchtern kann man die Regierung nicht ertragen“ – die „Wahlparty in Westend“ bietet eine skurrile Mischung aus Kunstmarkt, Wahlkampf und Bands in Einkaufswägen. Vivienne Fey war vor Ort.
Vorsichtig legt die ältere Dame die Keramikschale wieder zurück. Die Dunkelblaue an dem Stand weiter vorne habe ihr besser gefallen, erklärt sie ihrem Ehemann. Sie guckt verwirrt, als ihr ein Kugelschreiber und das Kurzwahlprogramm von der FDP in die Hand gedrückt werden. Die Worte des Liberalen scheint sie dabei gar nicht wahrzunehmen, ihr Blick haftet immer noch fest an dem Geschirr. Dieses Wochenende findet nicht nur der jährliche Herbstmarkt im Berliner Stadtviertel Westend statt, sondern auch die Bundestagswahl. Der Samstag ist die letzte Möglichkeit für die Parteien, die Stimmen der Unentschlossenen noch für sich zu gewinnen.
Doch bis auf vereinzelte Personen aus den Wahlkampfteams, die sich unter die Menge mischen, bekommen die Besuchenden der „Wahlparty“ nicht viel von der sogenannten Richtungswahl mit. Ins Auge fallen stattdessen die Filzmäntel, Herbstblumen oder Acrylmalereien der ausstellenden Künstler*innen und Stände. Für die Anzahl der Menschen ist es verhältnismäßig ruhig, der wolkenverhangene Himmel passt gut zur gedämpften Stimmung. „Corona scheint den Leuten noch in den Knochen zu stecken“, berichtet Veranstalter Stefan Piltz – obwohl auf dem Gelände keine Maske mehr getragen werden muss. Eine kleine Musikgruppe mit wilden Perücken aus dem vergangenen Jahrhundert versucht die Stimmung aufzulockern, schiebt dafür ihren Schlagzeuger im Einkaufswagen durch die Menge und versucht mit frechen Sprüchen die Zuschauer*innen zum Lachen zu bringen, doch in schallendes Gelächter bricht keiner aus.
Verdrossen ist das falsche Wort
Unter den Besucher*innen sind es vor allem alte Gesichter, die durch die Gegend schauen, ohne dass sich ihre Blicke gegenseitig treffen. Manche haben ihre Enkelkinder mitgebracht, die zuckerwatteschleckend auf antiken Stoffpferden neben Oma und Opa über den Markt reiten. Einen der wenigen jungen Menschen treibt – nach eigenem Bekunden – lediglich der Hunger auf Nutella-Crêpes hierher. Etwas weiter hinten sitzen Menschen auf Bierzeltbänken, die wie entfernte Bekannte bei einem Glas Weißwein Gespräche führen, während sie die Salzbrezeln der CDU verspeisen.
Der Anblick passt ziemlich gut zu den schönen Häusern an den Straßenrändern. In Westend wohnen wohlhabende Menschen, gelegentlich treffe man sogar Jürgen Vogel, sagt ein Besucher stolz. Der Wein passt allerdings auch zu dem Motto, mit dem der Herbstmarkt beworben wurde „Wahlparty in Westend. Egal was komme, nüchtern kann man die Regierung sowieso nicht ertragen.“ Großen Gesprächsbedarf und Erzählfreude zu politischen Themen hat unter den Besucher*innen kaum jemand. „Fragen sie lieber andere, die haben viel mehr zu sagen“ ist die Standardaussage. Manche lächeln, unhöflich ist aber keiner. Trotzdem: Echte Begeisterung für Politik sieht anders aus.
Ein bisschen Politik keimt dann doch noch auf
Wenn Herr Piltz redet, wirkt er viel jünger als seine leichten Falten und licht werdendes Haar vermuten lassen. Seit zehn Jahren organisiert er mit dem Nachbarschaftsverein family&friends e.V. den Herbstmarkt, das diesjährige Motto fand er am Ende einfach witzig. „In den letzten Jahren lief in der Politik nicht alles gut, der Wahlkampf sogar katastrophal, aber tiefe Unzufriedenheit herrscht nicht. Am Ende geht fast jeder wählen.“ Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung in diesem Wahlkreis bei der letzten Bundestagswahl mit 79.5 Prozent sogar über dem Bundesdurchschnitt. Insgeheim scheinen die Menschen in Westend also doch politisch interessiert zu sein.
Am Ende der Straße stehen dann auf weniger als 100 Metern dicht an dicht die Wahlkampfstände aller großen Parteien. Ein kleiner Junge freut sich über den CDU-Luftballon, die FDP verteilt knallgelbe Tüten mit Werbegeschenken, bei der SPD gibt es Rosen. Es scheint, als sei ein Schalter umgelegt – mittlerweile haben sich die Wolken am Himmel verzogen. Mit voller Motivation, fast schon kämpferisch, möchte der 16-jährige Arthur die Präsenz der FDP zeigen, Unentschlossene überzeugen. Sogar den amtierenden Oberbürgermeister und SPD-Direktkandidaten des Wahlkreises, Michael Müller, hat es am Samstagnachmittag auf den Markt verschlagen. Der teilt Piltz‘ Einschätzung: „Ich habe das Gefühl, die Leute haben hier viel Spaß. Und auch wenn noch nicht alle ihre Wahlentscheidung getroffen haben, ist immerhin großes Interesse vorhanden.“ Auch die anderen Parteien berichten positiv über die Gespräche mit den Besucher*innen, alle schätzen ihre Chance auf das Direktmandat gut ein. Einen Tag später wird es dann aber tatsächlich Müller sein, der nach zwei Legislaturperioden den CDU-Kandidaten schlägt.