Die Briefwahl ist nicht für Faule gedacht, sondern eigentlich für Notfälle. Das Kreuz nicht mehr nur am Wahltag zu setzen, widerspricht der Grundidee der Wahl – ein Kommentar von Cindy Boden.
Eine steigende Wahlbeteiligung lässt Demokratieherzen höher schlagen. Bereits kurz nach 12 Uhr hatte in Dresden jeder und jede Zweite bei der Landtagswahl 2019 gewählt. Doch viele gehen für ihre Stimme heute gar nicht mehr ins Wahllokal: Briefwahl ist das Zauberwort. Sie ermöglicht einen freien Sonntag.
Einige Wahlbehörden meldeten bereits Rekordbeteiligungen zur Briefwahl, zum Beispiel in der Landeshauptstadt Dresden. 2014 lag die Wahlbeteiligung in Sachsen bei 49,1 Prozent, etwa jeder Fünfte wählte per Briefwahl. Doch die Wahl von zuhause ist kritisch.
Als die Briefwahl 1957 auf Bundesebene eingeführt wurde, wollten die Ideengebenden die Allgemeinheit der Wahl sichern. Das heißt, alle Wahlberechtigten sollten ihre Stimme abgeben können – auch dann, wenn sie gesundheitlich verhindert oder aus anderen Gründen am Wahltag nicht in der Stadt sind. Dafür können alle unkompliziert die Briefwahl-Unterlagen beantragen. Eigentlich ganz – wäre da nicht das Problem mit dem verlängerten Wahlzeitraum.
Zeitpunkt der Wahlentscheidung
Der 1. September ist mittlerweile der letztmögliche Wahltag in Sachsen. Die Wahl per Brief war hier bereits den gesamten August über möglich. Das ist schlecht für die Gleichheit der Wahl. Denn um sich zu entscheiden, wem man seine Stimme gibt, sind viele Faktoren entscheidend: Inhalt, Sympathie und Beziehung zur Partei.
Wer schon viele Tage vor dem eigentlichen Wahltag die verlangten Kreuze setzt, nutzt womöglich andere Informationen als Grundlage als Wählende am 1. September. Alles, was kurz vor diesem Stichtag passiert ist, konnten manche Wähler und Wählerinnen nicht mehr in ihre Entscheidung mit einbeziehen. Doch Politik steht nicht still. Ein Beispiel dafür ist die klare Absage von CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer, keine Minderheitsregierung einzugehen. Erst am 20. August äußerte er sich dazu ohne Wenn und Aber in einem Interview mit dem Tagesspiegel.
Sind Liebhaberinnen und Liebhaber neuer Regierungsformen jetzt doch nicht mehr von Kretschmer begeistert? Kann sein. Besonders einschneidend sind Skandale und Missstände, die unerwartet ans Licht kommen. Doch dann ist es zu spät: Ihre abgegebene Wahlentscheidung können die Briefwählenden nicht mehr ändern.
Befürworter der Briefwahl argumentieren, dass der Wahltag selbst ein beliebiges Datum ist. Auch danach könnten Politiker und Politikerinnen ihre Versprechen verwerfen. Doch geht es ums Verfahren: Alle müssen am gleichen Tag wählen, nur dann ist die Wahlentscheidung vergleichbar.
Dritte könnten die Wahlentscheidung beeinflussen
Außerdem: Wahlkabinen sind nicht zur Zierde da. Wo ein Mensch sein Kreuz setzt, muss niemand wissen – Wahlen sind geheim! Dieser Wahlgrundsatz ist nicht mehr gesichert, wenn der Wahlzettel außerhalb des Wahllokals ausgefüllt wird. Wurde Druck auf die Entscheidung ausgeübt? Hat jemand anderes den Zettel ausgefüllt? Das alles kann bei der Briefwahl nicht mit Sicherheit verneint werden.
Und nicht zu vergessen: Kommt mein Brief überhaupt an? Es gibt keine Bestätigung, dass mein Wahlzettel rechtzeitig und sicher auf dem Auszählungsstapel liegt. Es braucht Vertrauen in die Post. Doch eine überzeugte Wahlentscheidung wäre besser.