Victoria hat im letzten Jahr am Berliner Hauptbahnhof gearbeitet. Im Interview erzählt sie, was sich seitdem verändert hat und warum plötzlich nur noch halb so viele Geflüchtete ankamen.
Wie hat deine Arbeit am Hauptbahnhof angefangen?
Ich bin kurz nach Ausbruch des Krieges aus Czernowitz im Westen der Ukraine nach Deutschland gereist. Kurz zuvor hatte ich noch meinen Geburtstag gefeiert und alles war gut. Wir hatten zwar gehört, dass es Krieg geben soll, aber niemand dachte, es würde wirklich passieren. Dann ist es doch passiert und ich bin losgefahren. Das war ein, zwei Tage nach Kriegsbeginn. Am Anfang konnte ich das alles gar nicht realisieren. Es hat sich so unecht angefühlt. In Deutschland bin ich bei meinen Verwandten untergekommen. Wir haben jeden Tag Nachrichten gesehen. Dann wurde es immer realer und wir haben alle geweint. Damals dachten wir noch, es würde nach einem Monat aufhören. Aber das tat es nicht. Deshalb habe ich im April als Freiwillige am Hauptbahnhof angefangen.
Was genau hast du dort gemacht?
Wir haben Ukrainern auf der Flucht Gratis-Tickets ausgestellt, mit denen sie weiterreisen konnten. Früher gab es Tickets für Fahrten außerhalb Deutschlands. Jetzt sind die Tickets nur für Inlandsfahrten. Außerdem haben wir die beraten, die nicht wussten, wo sie hin sollten. Wir haben sie zum Flüchtlingszentrum nach Tegel geschickt. Wenn es noch Plätze gab, konnte sie dort ein paar Tage unterkommen und es wurde überlegt, wie es für sie weitergeht. Waren keine Plätze mehr frei, wurden sie einem anderen Ort zugewiesen. Das läuft auch heute noch so.
Machst du das immer noch?
Nein, ich habe nach ein paar Wochen eine Stellenausschreibung bei der Deutschen Bahn im Reisezentrum als Übersetzerin gesehen. Da ich deutsch spreche, habe ich mich beworben und gleich am nächsten Tag angefangen. Zunächst war mein Vertrag auf einen Monat befristet und ich dachte wirklich, dass danach alles vorbei wäre. Ich hatte sogar Flugtickets nach Italien. Aber ich hab mich geirrt. Jetzt bin ich schon fast ein Jahr hier. Ich habe dann irgendwann eine Umschulung zur Reiseberaterin gemacht. So konnte ich vor Ort bleiben und den Ukrainern hier helfen.
Wie hat sich die Situation am Berliner Hauptbahnhof seit April verändert?
Als ich im April angefangen habe, kamen täglich drei oder vier Züge, in jedem davon über 700 Menschen. Die Schlange am Reisezentrum war riesig und die Ausgabe der Tickets musste sehr schnell gehen. Und obwohl es früher noch viel mehr Helfer gab, haben wir keine Pausen gemacht. Von einem Tag auf den anderen kamen dann nur noch halb so viele Geflüchtete. Jetzt geben wir durchschnittlich vierzig Tickets pro Tag raus. Mal mehr, mal weniger. Nicht, weil weniger Menschen fliehen, sondern weil sie in Polen keine Gratis-Tickets mehr nach Deutschland bekommen. Viele bleiben dort, weil die Tickets so teuer sind. Aber sie bekommen in Polen nur wenig Geld und finden oft keine Arbeit. Deshalb kommen heute viele an, die ein halbes Jahr in Polen gelebt haben und es jetzt in Deutschland probieren wollen. Mittlerweile sind das die meisten.
Was für Menschen kommen hier an?
Meistens sind es Familien, Mütter mit Kindern. Väter und Männer im Allgemeinen kommen deutlich seltener. Männer dürfen ja nur in Ausnahmefällen das Land verlassen, beispielsweise wenn sie mehr als drei Kinder haben, schwerbehindert sind oder als Soldaten Ausgang haben. Das ist selten, kommt aber vor. Ich bin immer beeindruckt, wie stark und furchtlos die Soldaten wirken. Als ich das erste Mal alleine Schicht hatte, habe ich eine Gruppe betrunkener Soldaten getroffen, die zurück an die Front wollten. Trotz der harten Situation waren sie sehr ausgelassen, weil sie wussten, dass sie für einen guten Zweck kämpfen.
Wie ist die Stimmung der Menschen, die hier ankommen?
Die Stimmung hat sich sehr verändert. Früher haben die Menschen ihre Geschichten erzählt. Niemand hat geweint. Wenn ich mich ein bisschen mit den Menschen unterhalten habe, haben sie erzählt, was sie durchgemacht haben. Es war sehr hart, all die Geschichten zu hören. Alle sind sehr stark und freuen sich, hier andere ukrainische Menschen zu treffen.
Haben die Menschen, die hier ankommen, irgendwelche Wünsche?
Sie erwarten nichts. Die meisten sind einfach nur dankbar, dass wir da sind. Denn in vielen anderen Städten gibt es keine Freiwilligen mehr. Am Anfang war das noch ein wenig anders: Das Flüchtlingszentrum in Polen war nicht so ausgebaut wie das in Deutschland. Umgekehrt haben sie in Polen warmes Essen bekommen und hier gab es Stullen. Solche Kleinigkeiten eben.
Gab es auch Probleme bei der Ankunft?
Früher, als noch viel mehr Geflüchtete ankamen, gab es eine Extra-Schlange für die Ukrainer. Das hat manchmal zu Konflikten geführt. Einige Deutsche waren nicht glücklich, dass die Ukrainer eine Sonderbehandlung bekommen haben. Diese Menschen gibt es leider immer noch. Es werden auch viele Vergleiche mit den syrischen Flüchtlingen gemacht. Viele haben nicht verstanden, warum die Syrer nichts bekommen haben und die Ukrainer so viel. Sie fanden es unfair.
Du hast gesagt, es kommen immer noch Freiwillige her, um zu helfen. Wie ist die Stimmung unter ihnen?
Am Anfang hat man sie noch sehr unterstützt. Jetzt wird ihnen sogar der Container weggenommen. Es wird gesagt, dass kaum noch Ukrainer ankommen, aber das stimmt nicht. Doch ist die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen sehr schön. Manche kommen immer noch jeden Tag. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich eine sehr feindliche Meinung gegenüber russischen Menschen. Aber es gibt auch russische Freiwillige, die jeden Tag herkommen und helfen. Dadurch hat sich meine Meinung geändert. Ich bin ihnen für ihre Hilfe sehr dankbar.
Wie reagieren die ankommenden Ukrainer*innen auf die russischen Freiwilligen?
Die Mehrheit reagiert sehr positiv. Viele Ukrainer haben Russisch als Muttersprache. Andere weigern sich, mit ihnen zu sprechen, und wenden sich lieber an ukrainischsprachige Freiwillige.
Wie blicken die Ukrainer*innen auf die Zukunft?
Wir werden den Krieg gewinnen. Wir müssen einfach. Wir haben keine andere Wahl. Aber dafür brauchen wir Waffen. Wir sind Deutschland sehr dankbar für die Unterstützung. Alles, was wir uns wünschen, ist, dass wir die Waffen bekommen, um die wir bitten. Nur so können wir uns alle verteidigen.