„Deutschland. Alles ist drin.“ Als die Grünen im Sommer so ihr Wahlprogramm überschrieben, meinten sie damit eigentlich eine grüne Kanzlerin. Seitdem ist so viel passiert, dass es unmöglich scheint, eine seriöse Prognose über das Wahlergebnis, Sondierungen und die Wahl zur Kanzlerin oder zum Kanzler zu machen. Unsere politikorange-Redaktion berichtet aus junger Perspektive.
Alles ist drin. Statt grüner Selbstbeschreibung ist das nun das Motto der #BTW21.
Zunächst sah es nach einem Zweikampf zwischen Armin Laschet und Annalena Baerbock aus, inzwischen hat Olaf Scholz in Umfragen die Nase vorn – der Kandidat der SPD, die angesichts von Umfragewerten um die 14% im Frühjahr kurzzeitig damit haderte, überhaupt offiziell jemanden für das Kanzleramt ins Rennen zu schicken. Dieser Trendwechsel hat sicher mit individuellen Fehlern von Laschet und Baerbock zu tun. Vielleicht gibt es aber auch einen tiefer liegenden Grund für die Unberechenbarkeit der parteipolitischen Vorlieben und personellen Präferenzen der Menschen in Deutschland.
Welche Partei gibt überzeugend Orientierung?
Diese Wahl ist eine Richtungswahl. Dass Politiker*innen aller Parteien nicht müde werden, diese Phrase zu wiederholen, macht sie nicht falsch. Wohl aber kann der Eindruck entstehen, die Parteistrateg*innen würden die relevanten, richtungsweisenden Themen nicht kennen, bewusst umschiffen oder schlecht adressieren. Es geht beispielsweise überraschend wenig um Generationengerechtigkeit. Die Folgen des bereits verursachten Klimawandels sowie die stetig düster werdenden Szenarien der Klimaforscher*innen, die Auswirkungen der andauernden Corona-Pandemie, die auch und besonders auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen ausgetragen wird, und Lösungen für ein zuverlässiges Rentensystem für die alternde Gesellschaft werden nicht angesprochen. Überhaupt fehlen Visionen für die Zukunft in einer Welt, die sich schnell ändert – und ändern muss. Die Menschen spüren, dass sich ihr Leben drastisch ändern wird. Wer aber Orientierung in der politischen Führung sucht, findet unter anderem (mittel)alte Männer konservativer Parteien, die behaupten, alles könne im Wesentlichen so bleiben, wie es ist. Die Krise der Laschet-Union zeigt, dass diese Erzählung keine Strahlkraft (mehr) hat. Baerbock und die Grünen verpassen bislang die Chance, ihre Themen zu setzen und die relative Stärke der SPD könnte gerade darin bestehen, einerseits moderner als andere zu wirken, andererseits die Wähler*innen aber auch nicht mit zu konkreten Vorschlägen zu belasten.
Im Kopf ersetzen wir komplexe Fragen durch einfache – und reden deshalb so viel über Kandidat*innen
„Bundestagswahl ist Kanzler*innenwahl“, noch so eine Phrase, die Wahlkämpfer*innen nach jeder Umfrage twittern und in Mikrofone sprechen. Auch an dieser Phrase ist etwas dran, denn unsere Hirne sind einfach gestrickt. Der Psychologe Daniel Kahneman beschreibt in seinem weltbekannten Bestseller „Thinking – fast and slow“ einige Denkfehler, die unser Gehirn macht. Es ersetzt komplexe Fragen, die wir nur durch kräftiges Nachdenken oder gar nicht beantworten können, durch andere, leichtere Fragen, für die wir intuitiv und unmittelbar eine Antwort haben. Statt also in die Tiefen der Wahlprogramme einzusteigen, die Argumentationen nachzuvollziehen und Konzepte zu vergleichen, beantworten wir die Frage: Wen mag ich am liebsten – Lindner, Scholz, Baerbock oder Laschet?
Bundestagswahl ist Kanzler*innenwahl. Und die Kanzlerin tritt nicht mehr an. Keiner der Kandidat*innen schafft(e) es, diese Lücke zu füllen. Bis jetzt besetzt Olaf Scholz die Merkel-Rolle am besten – vielleicht ist das der Hauptgrund für seine guten Umfragewerte.
politikorange berichtet aus (fast) allen Ecken des Landes
Das ist die Ausgangslage, in der ein 16-köpfiges politikorange-Redaktionsteam in die Arbeit startet. Von jetzt an bis zur Wahl nehmen wir euch mit auf eine politische Reise durch Deutschland: Wir fragen junge, konservative Politiker*innen aus Bayern nach ihrer Vision für Deutschland, wandeln auf den Spuren von Olaf Scholz in Hamburg und berichten über rechte Wahlwerbung in Thüringen. Wir fragen, warum so viele Wähler*innen diesmal unentschlossen sind, warum Wahlplakate auch im Jahr 2021 noch sinnvoll sind und welche Rolle das Thema ‚Gender’ in den Wahlprogrammen der Parteien spielt.
Wir blicken auf die Situation im brandenburgischen Wahlkreis von Annalena Baerbock und Olaf Scholz und wollen herausfinden, warum das Thema ‚Integration und Migration’ in Sachsen so eine große Rolle spielt, prüfen am Beispiel von Bielefelds autofreier Altstadt und Berlins (vorerst) gescheitertem Mietendeckel potentielle Zukunftsmodelle für ganz Deutschland. Wir beobachten den Wahlkampf im ländlichen und digitalen Raum, sprechen mit jungen Menschen, die sich mit und ohne Erfolgsaussichten für ein Bundestagsmandat bewerben. Und wir stellen die Partei der dänisch-friesischen Minderheit in Schleswig-Holstein vor, die bei dieser Wahl das erste Mal seit 68 Jahren wieder in den Bundestag einziehen könnte.
Die Wahl wird so spannend wie nie – wir berichten aus junger Perspektive
Der Wahlabend – und durch die erwartet große Zahl an Briefwähler*innen möglicherweise auch die Zeit danach – wird so spannend wie nie. Deswegen begleiten wir mit politikorange auch das Wahlwochenende in Berlin aus junger Perspektive. Wir treffen Entscheider*innen, sprechen mit Expert*innen, saugen die Stimmung auf den Wahlpartys auf. Und natürlich diskutieren wir mit euch, den Leser*innen dieses Blogs. Wir freuen uns über eure Rückmeldungen, Kommentare und lebhafte Diskussionen – auch und gerade auf Twitter und Instagram!
Alles ist drin. Das ist auch unser Motto für die nächsten Wochen.