Um ein für den 1. Mai weniger bekanntes Berliner Viertel ins Visier zu nehmen, wagten Xenia Miller, Louisa Rohde und Naseh Qutaisch einen Blick in den Ortsteil Grunewald. Hier demonstrierten junge Menschen in Feierlaune, die aus Szenevierteln herkamen, um den „feinen Pinkeln“ mal auf die Füße zu treten.
Es ist der 1. Mai in Berlin und wir machen einen Ausflug ins Grüne. Unser Ziel ist der Ortsteil Grunewald. Die Bahnfahrt dorthin wirkt im Nachhinein wie die Ruhe vor dem Sturm. Empfangen werden wir dort nicht von idyllischem Vogelgezwitscher, sondern von uns taxierenden Bundespolizisten.
Es findet nämlich bereits zum zweiten Mal die „MyGruni“-Demonstration statt, die eine Alternative zur „Revolutionären 1. Mai Demo“ in Friedrichshain und dem MyFest in Kreuzberg darstellen soll. Die Veranstalterinnen und Veranstalter, das selbsternannte „Quartiersmanagement Grunewald“ der „Hedonistischen Internationale“, eines Netzwerks linker Gruppen, möchten dadurch die friedliche Konfrontation mit den ökonomisch Bessergestellten suchen. Ihre Hauptanliegen sind, den Berliner Wohnungsmarkt zu entspannen sowie bestehende Besitzverhältnisse zu hinterfragen und sowie soziale Ungleichheit abzubauen.
Wir sind spät dran: Der letzte Teil der Demo ist im Begriff loszuziehen. Die Menge ist so bunt wie ihre Schilder. Manche Menschen sind verkleidet und jeder kann so kommen und gehen, wie er oder sie möchte. Im Hintergrund erklingt elektronische Musik.
Forderung: Jeder solle zentral wohnen können
„In Grunewald gibt es nur wenig Mittel- und Unterschicht, deswegen auch keine Diskurse über Grundeinkommen oder Mietverträge“, sagt Timo, einer der Demoteilnehmer. Mit der Demo müsse man also Aufmerksamkeit genau auf diese Themen lenken. Jeder solle die Möglichkeit haben zentral zu wohnen, ohne an den Stadtrand verdrängt zu werden. Das liege auch in der Verantwortung des Staates, betont er in Hinblick auf die aktuelle Diskussion zum Thema Enteignung.
Peter findet die Wahl des Ortes auch sehr sinnvoll. „Die feinen Pinkel müssen das auch mal sehen, besonders wenn ihre eigenen Kinder hier mitlaufen“, meint er. Er nehme an der Demo teil, weil die Arbeitnehmerrechte in seinen Augen noch lange nicht durchgesetzt seien, besonders, wenn man auch über den deutschen Tellerrand schaue. Er spüre eine starke gesellschaftliche Spaltung. „Aber die Unterdrückten wählen ja die Unterdrücker“, regt er sich auf und verweist auf das „neoliberale Wahlprogramm der AfD“. Enteignung hält er für die Lösung. Dadurch sollen Wohnungen in die öffentliche Hand übergehen, damit die Mieten bezahlbar bleiben. Es würden zwar nicht direkt neue Wohnungen gebaut, aber wenigstens bestehende bezahlbar gemacht, betont er.
Beobachtende bleiben in sicherer Entfernung
Die 15-jährige Rosalie ist zwar noch nicht persönlich mit der katastrophalen Wohnungssituation in Berlin in Berührung gekommen, hört aber immer öfters Horrorgeschichten aus dem Freundeskreis ihrer Eltern. Sie findet es sehr wichtig für Arbeitnehmerrechte zu kämpfen, da immer noch Unterschiede in Einkommen und Wohlstand bestünden und die Ziele der Arbeiterklasse nicht erreicht seien. Außerdem fühle sie sich schon von reichen Eliten in ihrem Dasein unterdrückt.
Noch warten die Menschen in Bahnhofsnähe, dass es losgeht. Vereinzelt gehen hier und da Anwohnerinnen und Anwohner mit ihren Rassehunden spazieren. In ihrem Blick liegt Anspannung, aber offenkundig auch Neugierde auf den ungewohnten Menschenschlag – sonst wären sie wohl von ihrer Route abgewichen. Als sich die Menge in Bewegung setzt, stapft ein Mann wutentbrannt von seiner Hasutür zu seinem Eingangstor und reißt ein „Räumungsbescheid“-Schild weg, das wie an anderen Villen auch von Demo-Teilnehmerinnen und -teilnehmern als Provokation daran gehängt wurde.
Viele Anwohnerinnen und Anwohner aber beobachten die Menge aus sicherer Entfernung von ihren Balkonen und Gärten aus. Diejenigen, die sich doch auf die Straße trauen, haben uns gegenüber Hemmungen, ihre Grunewalder Herkunft zu offenbaren. Nicht aber Sven: Der 21-Jährige versteht die Anliegen der Demonstrierenden, denn es sei immer noch notwendig für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu kämpfen. Wobei er findet, dass die Menschen in Grunewald dieses Problem nicht lösen könnten, sondern die Politik aktiv werden müsse. „Eigentlich kann jeder Geld verdienen. Mit Bildung bekommt man das auch hin“, sagt der Student.
Die Anwohnerin Birte ist Lehrerin und sagt von sich selbst, dass sie vor allem durch ihre Arbeit mit Menschen aus allen Schichten in Kontakt komme. Sie bemängelt den Stress, dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgesetzt sind und sieht dabei ganz deutlich die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in der Verantwortung. Eine gesellschaftliche Spaltung fühle sie persönlich nicht. Sie meint: „Es gibt zwar Unterschiede, aber es wird immer noch miteinander geredet:“
Veruschka, die vergeblich auf den Bus wartet, sieht die Demonstration als „vollkommen wichtig“, da in ihren Augen „die Leute“ gehört werden müssten. Richtig betroffen fühle sie sich aber nicht. Sie wohne am anderen Ende von Grunewald, nicht an der Demostrecke, erzählt sie.
Stoßen die Forderungen auf taube Ohren?
Langsam haben wir den Eindruck, dass die Forderungen der Demonstrierenden trotz der Megafone und Techno-Klänge auf taube Ohren stoßen. Und es ist klar: So verständnisvoll sich die Grunewalderinnen und Grunewalder auch zeigen, richtig ernst nehmen sie die Demonstration nicht. Während Birte den Ort der Demo als „schönes Ausflugsziel“ abtut, wirft ein Freund von Sven das Wort „Neid“ ein, als wir fragen, warum die Demo ausgerechnet in Grunewald stattfindet.
Grund dafür könnte die eher spaßige Anmutung der Demonstration sein. Denn selbst wenn eine klare politische Haltung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu erkennen ist, und teilweise auch radikale Forderungen aufgestellt werden, lässt sie sich von außen nicht sehr stark vom MyFest in Kreuzberg unterscheiden. Musik, Verkleidungen, Bollerwagen, und besonders anmutig über die Menschen schwebende Seifenblasen, die auch so manche Kinder erfreuen: Es hat schon fast etwas von einem Volksfest. Die Menschen sitzen auf der Straße, trinken ihr Bier, lachen und sprechen miteinander. 2018 wurde die Demo als „satirisch“ angemeldet und man könnte meinen, dass dieses Label auch ins nächste Jahr mitgenommen wurde.
Nicht nur die Demonstrierenden sind jedoch von der Demo begeistert und schätzen sie als sehr erfolgreich ein. Auch die Veranstaltenden sind davon überzeugt, dass ihre Botschaft in Grunewald ankam. Es habe „tolle Redebeiträge, tolle Bands und super Wetter“ gegeben, so die Sprecherin der Hedonistischen Internationalen, Elenos Schickhäuser-Gosse. Allerdings sei das Polizeiaufgebot zu kritisieren: Unverhältnismäßig groß und strikt sei es gewesen. So seien mehrere „Leute nicht reingelassen worden, weil sie einen Edding dabeihatten“, weil man sich so sehr davor fürchte, dass die schönen Fassaden und Klingelschilder Grunewalds verunreinigt würden. Erklären könne sie sich die Maßnahmen mit der größeren Teilnehmerzahl, die dieses Jahr rund 7500 Personen betrug, während im vergangenen Jahr nur etwa 2000 teilnahmen. Zumindest hätten die Verantwortlichen bei der Polizei aber erkannt, dass es sich nicht um gewalttätige Demonstrierende handele, weshalb zwar Hubschrauber, aber dafür keine Wasserwerfer eingesetzt wurden, sagt die Sprecherin.
Vorwurf des Elitarismus
Diese Einschätzung wird vom Einsatzleiter und Pressesprecher der Polizei Berlin, Carsten Müller, bestätigt. Die Polizei habe im Vorfeld, sowie bei weiteren Beobachtungen während der Veranstaltung, keine Gewaltmotive oder Gefährdungen erkennen können. Es sei neben der Hauptaufgabe, den Schutz der Veranstaltung zu gewährleisten, auch darum gegangen, für die Verkehrssicherheit zu sorgen. Auf die Kritik, der große Einsatz von Polizeikräften sowie die umfangreiche und frühzeitige Information der Anwohnerinnen und Anwohner sei vor allem dem Standort Grunewald zu schulden, weist er zurück: „Ich kann Ihnen sagen, dass wir auch Infos und Flyer in Kreuzberg und Friedrichshain haben“. Insgesamt ist er mit der Demo zufrieden, sie habe schon fast einen „Happening-Charakter“ aufgrund des Unterhaltungsprogramms gehabt. Auch die Zusammensetzung der Teilnehmenden war sehr bunt und gemischt, ein „Querschnitt“ eben.
Lediglich ein paar Alt-68er sind gar nicht mit der Veranstaltung zufrieden. Sie werfen den Demonstrierenden Elitarismus, Heuchelei und Arroganz vor. Sie würden zu genau der Schicht gehören, die die Menschen aus Vierteln wie Kreuzberg und Neukölln vertrieben hätten. Es handele sich bei den Menschen eher um Akademikerinnen und Akademiker, die selbst nach Berlin zugezogen seien und somit nicht die Sorgen der am meisten Benachteiligten vertreten könnten. Ob sich die Demonstrierenden diesem Umstand bewusst sind und damit umzugehen wissen, bleibt offen.
Alternative zum Saufgelage in Kreuzberg
Man kann vermuten, dass die Demo in Grunewald in den nächsten Jahren noch weiter an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewinnen wird. Die Veranstaltenden haben ebenso wie die Demonstrierenden bewiesen, dass hier eine Alternative zum Saufgelage des MyFests Kreuzbergs geboten wird, ohne dabei unpolitisch zu werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich dieses Event weiter in die richtige Richtung entwickelt, sich eine Balance zwischen Feiern und Demonstrieren einpendelt und das Ziel erreicht wird, die Anwohnerinnen und Anwohner ein bisschen mehr für soziale Ungerechtigkeit zu sensibilisieren.