Rechte Netzwerke aufdecken und über Demos berichten – eine hochaktuelle Nische für Journalist*innen. Aber: Über Extremismus zu schreiben, ist nicht ungefährlich. Dijana Kolak hat Reporter Julius Geiler begleitet.
Es ist ein sonniger Samstag in Berlin, aber die Demonstrant*innen haben sich nicht der Sonne wegen in Berlin-Neukölln versammelt: Ein Tag zuvor jährte sich der rechtsterroristische Anschlag in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden. Jetzt, ein Jahr und einen Tag später, gibt es eine große Gedenkdemo, bei der ich den 23-jährigen Tagesspiegel-Reporter Julius Geiler begleite.
Seit etwa einem Jahr berichtet Julius für den Tagesspiegel, die WELT und auf Twitter über rechte Demos, Verschwörungen und Netzwerke. Bereits während seines Auslandsaufenthalts 2019 in Beirut hat er für den Tagesspiegel über die eskalierten Demonstrationen vor Ort berichtet. Durch Zufälle und Kontakte kam er an seine jetzige Stelle als freier Journalist. Authentisch über den Korruptionsvorfälle im Libanon oder den Nahost-Konflikt zu berichten, fällt ihm von Berlin aus schwer. Das Thema ist ihm immer noch wichtig, aber in Berlin und Umgebung hat er sich vor allem auf rechte Demos und Gruppierungen spezialisiert. Er studiert Politikwissenschaften an der Universität Potsdam. Mit einer journalistischen Ausbildung hat er bisher nicht begonnen. Meistens ist Julius auf den sogenannten Querdenken-Demos unterwegs, dort gemeinsam mit Kollegen – heute trifft beides nicht zu. Das heißt für ihn: Fotografieren, Twittern, Schreiben, O-Töne einfangen – alles auf einmal und ohne Hilfe. Auch anders: Heute gibt es keine rechten Parolen und Maskenverweiger*innen. Stattdessen sieht man überall medizinische Masken und hört Sätze wie: „Widerstand überall“ und „Hanau war kein Einzelfall“.
Es ist keine fünf Minuten her, dass wir uns begrüßt haben, schon spricht ihn eine junge Frau an. Mein erster Eindruck bestätigt sich: Er ist bekannt in der Twitter-Szene von Journalist*innen, die über Extremismus berichten. Das ist aber auch kein Wunder: Fast jedes zweite Wochenende ist er auf Demonstrationen unterwegs, um via Twitter-Liveticker von ihnen zu berichten.
Der Demozug hat noch nicht begonnen, schon gibt es die erste Ansprache von einer Rednerin: Nur deren zwei Pressevertreter*innen dürften Fotos machen. Auch im weiteren Verlauf der Demo weisen Ordner*innen immer wieder darauf hin, dass Fotograf*innen aufhören sollen, die Masse wie auch Einzelne zu fotografieren. In Julius‘ Augen ist das im Sinne der Pressefreiheit Quatsch, eine Erklärung dafür hat er aber: Nicht selten filmen rechte Youtuber*innen die linken Demonstrant*innen ohne deren Einverständnis und schneiden danach Videos zusammen, die sie im Internet verbreiten. „Viele Linksorientierte haben nun Sorge, dass sie auch ungewollt gefilmt und fotografiert werden und dann in rechten Netzwerken landen.“
Wie auch sonst auf den Demos, hält Julius sich nahe der Masse auf. Dabei ist es wichtig, der Polizei nicht im Weg zu stehen. Eine andere Regel: Immer bis zum Ende mitlaufen, sonst sei die Arbeit nur halbherzig getan. Sein Fokus liegt zunächst auf der Anzahl der Teilnehmenden, die es abzuschätzen und direkt via Twitter zu verbreiten gilt. Heute meint er nach seiner ersten Schätzung: Es sind mehrere tausend Menschen. Die Polizeipressestelle bestätigt Julius am Telefon, es seien 4.000 Menschen, mit weiterem Zustrom. Eine Minute später ist das Gespräch beendet. Später korrigiert Julius sich noch hoch: Etwa 12.000 seien anwesend gewesen.
Aufmerksam beobachtet er die Menschen. Sind sie eher jung oder alt, handelt es sich um eine diverse oder homogene Gruppe? Auch das nimmt er mit auf. Augenmerk setzt er auf die Atmosphäre einer Demo und die Stimmung bei der Polizei und den Teilnehmenden. „Dafür braucht man keine Erfahrung, das merkt jeder!” Außerdem darf eine gründliche Recherche im Vorfeld nicht fehlen: „Ich gehe auf keine Demo, ohne vorher die Route zu kennen, und zu wissen, wofür oder wogegen protestiert wird, wer spricht, etc.” Daran könne man ablesen, wie sich der Tag entwickeln wird, ob es zu Ausschreitungen kommen kann. Auch etwaige Gegenproteste lassen sich abschätzen. Dafür habe er auch „Informanten aus dem Antifa-Milieu“, die ihm den einen oder anderen heißen Tipp geben. Trotzdem kann alles anders kommen als gedacht, auch diese Erfahrung hat Julius gemacht.
„Natürlich gibt es Menschen bei Querdenken, die sich als Linke verstehen!“
Während wir vor der Demo laufen, erzählt er mir über seine Eindrücke von der Art von Demos, wo man ihn sonst meistens antrifft: Bei den „Querdenken”-Veranstaltungen.
„Querdenken“ sieht Julius nicht als pauschal rechts-orientiert an, eher als eine völlig neue Form: Eine neue Gruppierung, die im geläufigen politischen Spektrum schwierig zu verorten sei. Denn: „Natürlich gibt es auch Menschen bei Querdenken, die sich als Linke verstehen!“ Menschen, die links/grün gewählt haben und jetzt Seite an Seite mit Reichsbürger*innen protestieren, seien nicht per se Nazis. „Ich halte es für falsch, diese Personen pauschal als Nazis zu betiteln. Sie haben kein Problem mit Rechten auf die Straße zu gehen. Gleichzeitig fände ich es konstruktiver, andere Ansatzpunkte zu suchen, um dieses Milieu zu kritisieren. Man sollte den Fokus mehr auf die fehlende Solidarität gegenüber der Mehrheitsgesellschaft legen.“ Auch die Straftaten von dieser Gruppierung seien nicht klassisch als links- oder rechtsextremistisch einzuordnen. Hier zieht er einen Vergleich zum Islamismus, der auch eine eigene Art von Extremismus darstellt und jenseits von Rechts- und Linksextremismus im öffentlichen Diskurs gesehen wird.
Pure Eskalation bei Protesten
Während wir weiter laufen, erzählt er mir von seinen Erfahrungen mit der Polizei auf Demonstrationen. „Viel hat sich in der Vergangenheit geändert: Die Polizei hat lange zugesehen und wenig darauf geachtet, dass Auflagen eingehalten werden – anders als bei linken Demos. 2020 fand ein Umdenken in der Politik statt: Seit dieser klar ist, dass eine Nicht-Einhaltung der Regeln eine Gefahr für die Gesundheit aller darstellt, ist die Polizei strenger.“ Dennoch werde mit zweierlei Maß gemessen. Bei jedem linken Protest würde sofort zum Pfefferspray gegriffen, wo bei Querdenker*innen ohne Konsequenzen Polizeisperren durchbrochen werden können. Bei linken Demos würde so etwas nicht passieren, das sei klar. Von Stadt zu Stadt unterscheide sich das Verhalten der Polizei aber, immer abhängig von der Polizei vor Ort.
„Es hat Situationen bei Antifa-Demos gegeben, die eskaliert sind – so wie die Räumung der Liebigstraße in Berlin. Die Leute begehen Straftaten, ich filme und fotografiere das – das ist ja mein Job. Dabei wird man wirklich hart angegangen.” Auf einer Demo in Berlin hat er von Gegendemonstrant*innen einen Stein abgekommen. Bei Großdemos heißt es deswegen ab jetzt immer: Helm tragen. Die Frage, die er sich stelle, ist: „Wo läufst du als Pressevertreter mit?” Denn: Die Polizei ist auch Zielscheibe linker Demos.
Zwei Minuten und 150 Retweets
Es wird schnell klar, dass es Stress bedeutet, über eine Demo zu berichten: Tweets schreiben und lesen, kurze Clips mit dem Handy aufnehmen, die Teilnehmenden wie auch die Polizei beobachten ─ alles wechselt sich in brisantem Tempo ab. Mal fotografiert Julius ein spannendes Plakat, dann widmet er sich einige Minuten lang nur Social Media. Julius ist mit seinen ersten Tweets beschäftigt. Dabei sind die richtigen Hashtags wichtig. Später vergisst er einen, ärgert sich, korrigiert ihn anschließend noch im Thread. Durch Tweets und Hashtags sei es das beste Medium für eine Live-Berichterstattung. Es gibt kein Medium, wo man dermaßen schnell reagieren kann und auch schnell Resonanz erzielt. „Es gab Demos, wo ich etwas getweetet habe und zwei Minuten später wurde das 150 Mal retweetet.” Auch Spitzenpolitiker*innen wie zum Beispiel Karl Lauterbach oder Satiriker Jan Böhmermann gehören zu seinen Retweeter*innen. Auch auf einer Demo heißt es: Schauen, was die Konkurrenz macht. Dafür sind die Hashtags sinnvoll. Nebenbei beantwortet er meine Fragen. Dass die Situation für ihn als Journalisten stressig ist, merkt man ihm nicht an.
Berichten – aber wie?
Parallel zur Gedenkdemo findet von aus Steglitz über Schöneberg ein sogenannter Schweigemarsch statt. Dort soll viel los sein, sieht Julius über Twitter. Inwiefern das Berichten über eine Demo im Aufklärungsinteresse ist oder man extremistischen Positionen Reichweite gibt? Wie so oft ist das die Frage, mit der auch Julius sich häufig beschäftigt. Für Julius spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Ganz entscheidend: Die Teilnehmendenzahl. „Über größere Querdenken-Demos mit mehr als 5.000 Menschen muss man berichten!” Außerdem wichtig: Wie oft findet ein Protest zum gleichen Thema in einem Zeitraum statt? Wöchentliche Demos mit dem gleichen Anliegen und der gleichen Teilnehmenden-Anzahl verlieren mediale Aufmerksamkeit – zu Recht, wie Julius findet.
„Jede Woche gibt es irgendeine Demo oder Aktion von Querdenken” – Julius
„Mein Anspruch ist es, bei den Fakten zu bleiben. Aber das ist nicht immer leicht. Mir fällt das dann meist im Nachhinein auf, dass es passieren kann, dass ich abhängig vom Demonstrations-Anlass meine Tweets anders formuliere. Ich versuche mich hier immer wieder selbst zu überprüfen.” Heute wird zum Beispiel kein Abstand gehalten, dafür tragen alle eine Maske. Bei Querdenken würde er dem, aus gegebenem Anlass, viel mehr Aufmerksamkeit schenken. „Eigentlich müsste man das bei beiden Seiten gleichwertig thematisieren”, sieht Julius ein. Hier merkt er seine Voreingenommenheit, die er aber auch mit seinen persönlichen Erfahrungen auf Querdenken-Demos begründet. „Oft werde ich angefeindet und bedroht.” Ein absolutes No-Go wäre aber eine persönliche Färbung in einem Bericht. Bei der journalistischen Darstellungsform des Kommentars sei das natürlich anders. „Als Journalist*in kann man nicht objektiv berichten, auch wenn das immer der Anspruch sein sollte. Natürlich hat jeder seine eigene Meinung und die fließt unterschwellig in jede Berichterstattung mit ein. Davon bleibt kein Journalist dieser Welt verschont. ”
Die nächste halbe Stunde nimmt er sich Zeit, um den Artikel zu schreiben. Dafür setzen wir uns auf eine Bank auf dem Hermannplatz. Um 15:30 Uhr fängt er an, in die Notiz-App seines Smartphones zu tippen – Teaser und Titel stehen schon. Er wirft aber auch gleich ein: „Man kann nicht erwarten, dass das hier eine journalistische Glanzleistung wird.“ Es ist 15:43 Uhr. Der Zeitplan ist eng getaktet: Um 16:30 Uhr ist Redaktionsschluss für die morgige Printausgabe. Um Punkt 16 Uhr versendet er den Text via Slack an das Redaktionsteam. 15 Minuten später ist der Artikel online. Julius Fazit: „Es ist schon stressig.“
Ewig möchte er das aber nicht machen: Gerne würde er mehr moderieren und Berichterstattung für das Fernsehen machen. Erstmal beendet er aber seinen Bachelor in Politikwissenschaften.
Hassnachrichten im Postfach
Anders als viele seiner Kolleg*innen veröffentlicht Julius seine Texte und Tweets unter seinem Klarnamen. Hassnachrichten finden so einen leichten Weg in sein Postfach. „Ich wünschte, du würdest vergewaltigt werden“, schrieb ihm jemand per Mail. In einer Twitter-Kommentarspalte tauchten Fotos von ihm auf. Wenn private Daten wie Adresse und Mobilnummer veröffentlicht werden, bringt Julius das zur Anzeige. Das kam bereits mehrmals vor. „Wenn ich Drohungen nicht nur virtuell, sondern zum Beispiel im Briefkasten erhalten würde, dann würde ich meinen aktuellen Job wahrscheinlich überdenken.”
Was neu für ihn war: Eine Hasswelle aus einer linken Gruppe aus Berlin, nachdem er über ein gewaltverherrlichendes Video berichtet hat. Ansonsten würden 90 Prozent der Hassnachrichten, die ihn erreichen, von rechts kommen.
Bei linken Demos bekommt er sonst viel Lob für seine journalistische Arbeit. Später am Nachmittag kommt ein Schulfreund von Julius auf ihn zu: „Toll, was du machst“, sagt er und meint es auch so. Das merkt man ihm an. Die Reaktionen auf Julius und seine Arbeit könnten unterschiedlicher kaum sein.