Schlagwort: Landtagswahl

Ein grelles Crescendo mit langem Nachhall

Der beispiellose Wahlkampf in Thüringen ist vorbei, die Stimmen abgegeben. Und am Himmel über Thüringen und Berlin brauen sich schon dunkle Wolken zusammen. Ein Kommentar.

Schriftzug des Thüringer Landtags auf der Mauer des Landtags.
Wer künftig mit wem im Thüringer Landtag, ist gegenwärtig völlig offen. Klar ist: Von Erfurt geht ein Beben aus. Foto: Christian Lütgens

In Thüringen und Sachsen – nach wie vor von vielen als „der Osten“ über einen Kamm geschert – waren von 5,3 Millionen zirka 4,9 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen und haben ein Paukenschlag erschallen lassen. Kein Unerwartetes – Hundertschaften an Journalistinnen und Journalisten haben sich lange im Voraus akkreditiert – aber Eines mit Ausrufezeichen. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass manche Koalitionsoption aus Blau-Schwarz-Weinrot besteht und Grün, Rot, Gelb, Pink kaum oder gar nicht mehr auftauchen? Gleichwohl wäre es verkehrt zu behaupten, „der Osten“ wähle Blau, also eine in Teilen extremistische Partei. Tut er zu knapp 70 Prozent nicht, womit ein beliebtes Narrativ der AfD schnell widerlegt wäre. 

Wahlplakate in Thüringen an einer Laterne
Der Wahlkampf ist vorbei, die richtige Arbeit beginnt nun aber erst. Zumindest für diejenigen, die den Einzug in den Landtag geschafft haben. Foto: Christian Lue

Komplexer wird es bei der Frage, ob sich die Alternative oder das Bündnis bei einer möglichen Regierungsbeteiligung entzaubern oder etablieren würden, zumal landespolitische Themen kaum eine Rolle gespielt haben in diesem Wahlkampf. Klar dürfte indes sein: Von Figuren wie der russlandfreundlichen Solisten Sarah Wagenknecht oder dem führungsambivalenten Faschisten Björn Höcke ist – unabhängig von der jeweiligen Sache – kaum Geräuschlosigkeit zu erwarten. Das Crescendo muss mit dem Wahlsonntag um 18 Uhr nicht seinen Höhepunkt erreicht haben. Apropos: Laut echot hoffentlich aber der Vorwurf vieler Ostdeutscher, nicht richtig verstanden und ausreichend repräsentiert zu werden. Das muss im Bund und in Berlin endlich ernst genommen werden. Ernst nehmen heißt aber nicht die Aufgabe der eigenen Werte und Vorstellungen weiterhin unterstützt werden, die Erinnerungskultur darf nicht vernachlässigt, sondern muss gestärkt werden.

Wer spielt abseits von BSW und AfD noch eine nennenswerte Rolle in Thüringen? Die Parteien der selbsternannten Übergangskoalition nicht. Die Linke mit ihrer elendigen Zerstrittenheit und mehrheitsunfähigen Identitätspolitik ist auf dem sicheren Weg in die absolute Bedeutungslosigkeit. Und auch, wenn die CDU um Mario Voigt sich als einer der Wahlsieger der politischen Mitte feiern lässt: Der Partei mit ihrem Bundesvorsitzenden gelingt es nach wie vor nicht, die Stimmen der Unzufriedenen für sich zu gewinnen. Das kühne Versprechen Merz’, er werde die Werte der AfD halbieren, hat sich zu einer dunklen Wolke verwandelt, die auch noch bis ins nächste Jahr über ihm und im Übrigen auch über den Ampelparteien schweben wird. Denn schon Ende September sind Wahlen in Brandenburg und 2025 ist Bundestagswahl. Der Nachhall der Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen könnte lang werden. 

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Einfach wird’s nicht

Die CDU erzielt in Thüringen ein starkes Ergebnis. Doch richtige Feierstimmung kommt bei der Wahlparty nicht auf. Kein Wunder: Jetzt dürfte es erst so richtig anstrengend werden. 

Mario Voigt hält die Daumen hoch, auf dem Wahlabend der CDU Thüringen
Zwei Daumen und ordentlich Jubel können nicht kaschieren, dass für die CDU trotz voraussichtlicher Regierungsbeteiligung nun schwierige Sondierungsgespräche anstehen. Foto: Christian Lue

Die Menschen klatschen wie beim Countdown eines Boxkampfs, dazu dröhnt Einlaufmusik aus den Lautsprechern. Mario Voigt, CDU-Spitzenkandidat in Erfurt läuft ein, schüttelt ein paar Hände und tritt auf die Bühne – ohne gegnerischen Kämpfer. Der befindet sich aus Sicht Voigts woanders und hat sich zudem multipliziert: Zum einen, nur wenige Kilometer Luftlinie, entfernt der Faschist und eindeutige Wahlgewinner Björn Höcke. Ein paar Kilometer weiter, Berlin, die Ampelregierung. Und dann sind da auch noch zwei Kameramänner. Doch von Anfang an. 

Eine knappe Viertelstunde vorher erweitert ein freundlicher Herr von der CDU die Absperrung für die Presse. Die Fotografinnen und Fotografen standen ungünstig, man will ja um Punkt 18 Uhr, also zur Bekanntgabe der ersten Wahlprognosen, gute Bilder produzieren. Jubel. Freude. Doch das ist gar nicht so einfach, denn die Vorzeichen sind, nun ja, wechselhaft. Die AfD stark wie nie. Von der errungenen Sperrminorität wird die Partei Gebrauch machen. Ohne Höckes Gnaden wird es fortan häufiger nicht gehen. Die AfD etabliert sich bei den Wählerinnen und Wählern. Die AfD eine reine Protestpartei? Das war mal. Und irgendwie passt es, dass der Veranstaltungsort im letzten Jahrhundert erst eine Gewehrfabrik war, dann ein Heizwerk. Später produzierte man hier Schreibmaschinen und mittlerweile lässt sich die „Zentralheize“ als hippe Eventlocation mieten, hohe Decken und Industrial Look inklusive. Alles etwas wechselhaft und diffus, wie auch der gesamte Wahlkampf. 

Menschen applaudieren, Fotograf*innen fotografieren sie dabei.
Immerhin der Applaus ist im Kasten: Die Thüringer CDU während der Verkündung der ersten Wahlprognosen. Foto: Christian Lue

Da waren beispielsweise die Themen: Allem voran die Migration, Krieg und Frieden in der Ukraine bestimmten den Wahlkampf, garniert mit einer mehrfachen Portion an Ampel-Unzufriedenheit. Blöd, dass die bisherige wie auch künftige Landesregierungen darauf nur mäßig Einfluss hat. Und es ist ja nicht so, als ob das nicht schon ausreichend komplizierte Themen seien. Verkürzt wurde trotzdem ordentlich: „Rechnen statt Gendern“ las man auf BSW-Wahlplakaten von einer Politikerin, die in Thüringen gar nicht zur Wahl steht, ein mehr als dünnes Wahlprogramm präsentiert und kaum über Inhalte reden mochte, vor wenigen Wochen noch gar nicht existierte, aber durch ihren Namen und Gesicht trotzdem zum Machtfaktor werden dürfte. Und es ging ja noch weiter: Der bis dato amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow, beliebt wie kein anderer, doch in einer Partei im bemitleidenswerten Zustand, wurde abgewählt. Die Widersprüche waren also zahlreich bei dieser Wahl. 

Springt die CDU lieber ins Ungewisse als über den eigenen Schatten?

Mario Voigt jedenfalls, mittlerweile auf dem Weg zur Wahlparty seiner Partei, der CDU, muss gleich irgendwie erklären, dass man mit der stärksten Partei nicht koalieren will. Zu extrem. Dass das in den letzten Wochen und Monaten nicht alle in seiner Partei so sahen, vor allem auf kommunaler Ebene, das erwähnt er natürlich nicht. Der, nach seiner CDU, drittstärksten Kraft, dem BSW, hatte sein Vorgesetzter, CDU-Chef Friedrich Merz, eigentlich links- wie rechtsextremistische Züge vorgeworfen. Voigt will trotzdem mit dem Protest-Startup sprechen, den Spagat wagen. Und mit der viel demokratischeren Linkspartei hat die CDU einen Unvereinbarkeitsbeschluss formuliert. Also lieber ins Ungewisse springen als über den eigenen Schatten? Für Interviews steht der Spitzenkandidat leider nicht zur Verfügung. Bleibt noch die SPD, der Voigt seinen Respekt ausspricht. Doch selbst als Dreierbündnis zwischen CDU, BSW und SPD wäre eine Mehrheit im Landtag nicht sicher. Von den inhaltlichen Klüften mal ganz zu schweigen. Und vom Rand winkt Björn Höcke freundlich, streckt in späteren Interviews seine Hand aus, spricht schelmisch von einer gescheiterten Brandmauer-Strategie. 

Eine Kamera ist auf Menschen gerichtet, die im Hintergrund unscharf zu sehen sind.
Das Medieninteresse an den Wahlen in Thüringen und Sachsen ist enorm hoch. Hunderte Journalistinnen und Journalisten hatten sich vorab akkreditiert. Foto: Christian Lue

Mario Voigt jedenfalls steht nun auf der Bühne und bedankt sich bei seinen Wahlkämpferinnen und -kämpfern, lässt sich bejubeln. Er sieht sich und seine CDU als die „stärkste Kraft der politischen Mitte“, auch wenn seine Mimik und Gestik nicht ganz so euphorisch dabei sind. Was die beiden Kameramänner im Pressebereich ein wenig verzweifelt wirken lässt, bis zum Schluss Mario Voigt es tatsächlich wagt, beide Daumen in die Höhe zu strecken. Klick, klick, klick. „Na, endlich!“, murmelt einer der beiden. 

Unter den hohen Decken der „Zentralheize“ wird es jetzt ruhiger, Spitzenkandidat Voigt düst direkt weiter in den Landtag. Die Presse rückt ab nach einigen Interviews ab und zurückbleibt das ungewisse Gefühl: Jetzt wird’s erst so richtig kompliziert. 

CDU Mitglieder stehen auf der Bühne in einer Eventlocation.
Die CDU bei ihrer Wahlparty in der chicen Eventlocation „Zentralheize“ – einer ehemaligen Waffenfabrik. Foto: Christian Lue
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Was uns zusammenhält – über eine Zukunft in Thüringen

Dem Osten hängt das Stigma nach, “rechts” zu sein. Andere Perspektiven werden gerne übersehen. Dabei haben gerade junge Demokrat*innen viele Hoffnungen für ihr Land. 

Foto: Caroline Sauter

Erfurt, Samstag kurz vor neun Uhr früh. Die Stadt reibt sich den Schlaf aus den Augen, an der Kreuzung rattert die Tram. Alte Häuschen drängen sich eng aneinander.  Im Café umschwirren die letzten verbliebenen Wespen die Tische, drinnen mahlt die Siebträgermaschine. Am Nebentisch mummelt eine Mutter sich und ihr Kind in eine Wolldecke ein, trotz der Morgenfrische lässt sich schon jetzt erahnen, dass wieder ein warmer Tag wird.  

Die Stadt erwacht aus ihrem Dornröschenschlaf, wie jede andere. Der Frieden liegt wie ein Deckmantel über der Stadt, strahlt eine „Alles ist gut“- Atmosphäre über mich und meinen Cappuccino mit Hafermilch aus und lässt nichts von den Demonstrationen am Nachmittag erahnen, bei denen laut Polizeiangaben um die Tausend für und etwa 4000 gegen die AfD auf die Straßen ziehen werden.  

Wie entsteht dieses Narrativ, der Osten sei „rechts“?  

 „Ich glaube, man muss zur Kenntnis nehmen, dass Menschen nicht einfach leere Gefäße sind, in die man einfach irgendwas reintun kann.“ Das sagt Katja Maurer, Landtagsabgeordnete der Linken in Thüringen. Ich treffe sie im Büro der Linksjugend: Das Fenster mit Wahlplakaten zugekleistert, es ist chaotisch und heimelig zu gleich, auf der Heizung steht ein leeres Glas Bio-Aufstrich. Mir ihr und Vertreter*innen von anderen Jugendparteien habe ich über ihre Ängste und Hoffnungen für Thüringen gesprochen. Darüber, was sie antreibt und ob es ihrer Meinung nach immer noch die sprachliche Teilung zwischen Ost- und Westdeutschland braucht. Maurer erklärt, Menschen würden sich selbst eine Meinung bilden. Unabhängig, davon, wie sie selbst dazu stehe, müsse sie das zur Kenntnis nehmen. „Es gibt eben die Einen, die zum Beispiel der Meinung sind, dass Migrant*innen schlecht für unser Land sind“, sagt die Politikerin. Gleichzeitig gebe es andere Menschen, die Migration positiv sähen. Menschen hätten einfach unterschiedlichen Wertevorstellungen.  

„Ich finde, es wäre doch schon etwas Schönes, wenn man sich gegenseitig zuhört,“ meint der Stadtrat Luc Rechenbach von der Jungen Union (JU). Auf Worte auch Taten folgen zu lassen, dass beschäftigt gerade die Jungen Liberalen (JuLis): „Wir haben bei den JuLis sehr viele Mitglieder, die parallel noch andere Ehrenämter haben. In irgendwelchen Kirmes-Vereinen sind oder Gardetanz.  Oder halt auch zum Beispiel hier Einen im Erfurter Bereich so einer Foodsharing-Aktion an Uni mitmacht. Aber die erzählen halt nicht darüber,“ sagt Patrice Klohn, Pressesprecher*in der Jungen Liberalen in Thüringen. 

Auch bei Freund*innen aus anderen Jugendorganisationen sei es ähnlich. Andere Themen würden den Alltag bestimmen. „Man merkt schon, dass Leute keinen Bock auf gerade stattfindende Politik haben und Menschen, die sich politisch engagieren, etwas schief anschauen.“ berichtet hingegen Janek Schmidt von der Grünen Jugend Thüringen. Aber ein politisches Klima lasse sich nicht allein durch Politik beeinflussen. „Was mir gerade in Thüringen Hoffnung macht, ist, dass gerade in fast allen Regionen Anti-Rechts-Bündnisse entstehen, die versuchen, den Raum zu gestalten, der die letzten Jahre einfach komplett vergessen wurde,“ meint Schmidt. Hoffnung, das haben alle Jugendorganisationen gemeinsam, zögen sie aus Gemeinschaft.  

„Ich mache jetzt seit acht Jahren Queerpolitik,“ meint Patrice Klohn von den JuLis. Damals habe es in Thüringen drei Christopher Street Days (CSDs) gegeben, in Erfurt, Jena und Weimar. Seitdem habe sich viel verändert. „Heute schaffe ich es nicht mehr, auf jeden CSD zu gehen“, erzählt Klohn. 

Erfurt, Samstagnachmittag. An der Gera plantschen Kinder mit den Füßen im Wasser und trotzen der Hitze.  

Keinen Kilometer entfernt haben sich 4000 Demonstrant*innen vor dem Domplatz versammelt, um gegen die AfD-Kundgebung zum Wahlkampfabschluss zu protestieren. Laute Rufe und bunte Plakate überfluten die Stadt. Die Grenzen zwischen den Demonstrant*innen und der Kundgebung sind mit einer Autoblockade der Polizei klar abgesteckt. Es ist so laut, dass vom Domplatz nur nach draußen dringt, wer gerade am Mikrofon steht. Die Sonne knallt auf den Asphalt, wie die Wertevorstellungen aufeinander. Meine Uhr sagt mir, ich solle gegen meinen Stress anatmen. Demonstranten Platz machend, trete ich an die Hauswand zurück. Neben mir ein Vater mit Kind auf dem Arm, keine drei Jahre alt und Eiscreme schleckend. Zu klein, um sich später daran erinnern zu können, bleibt doch ein Gefühl von zuckersüßer Gemeinschaft zurück. 

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„Das ist eine reale Gefahr.“

Jens-Christian Wagner erscheint gut gelaunt zum verabredeten Video-Interview. Nicht selbstverständlich, denn er, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, blickt mit Sorge auf die Wahlergebnisse in Thüringen, nicht nur, weil ihn zuletzt Morddrohungen erreicht haben. Verwundert ist er nicht, Rechtsextreme hätten es in Thüringen schon immer leicht gehabt. Doch es gibt einen Unterschied mit Blick auf die Geschichte. 

Jens-Christian Wagner im Portrait.
Jens-Christian Wagner (58) ist Historiker mit Schwerpunkt zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit und der -Konzentrationslager sowie zur Erinnerungskultur nach 1945 und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Vor der selbsternannten Alternative für Deutschland (AfD) warnt er eindringlich. Foto: Jens Meyer, Universität Jena.
Herr Wagner, Sie wurden zuletzt wiederholt bedroht, beispielsweise mit retuschierten Bildern von Ihnen am Galgenstrick. Wie geht es Ihnen eigentlich?

Mir geht es gut. Diese Leute wollen einschüchtern und diesen Gefallen sollte man ihnen nicht tun. Ich kann nicht behaupten, dass eine Parole wie „Ein Galgen, ein Strick, ein Wagnergenick völlig spurlos an mir vorbeigeht. Natürlich macht das was mit einem. Aber davon sollte man sich nicht allzu sehr beeindrucken lassen. 

Feinde der Demokratie wagen sich zunehmend aus der Deckung, eigentlich Unsagbares wird wieder sagbar. Warum gerade jetzt?

Wir erleben das ja eigentlich seit Jahren, dass die extrem rechte Szene sich radikalisiert. Sie hat leider auch Zuspruch unter nicht wenigen Mitmenschen, insbesondere hier in Thüringen, aber auch in anderen Bundesländern. 

Sie haben in der letzten Ausgabe des Spiegel gesagt, „Thüringen sei perfekt für Republikfeinde“.

Thüringen ist ein ländlich geprägtes Bundesland. Zugleich ist das Phänomen rechtspopulistischer und rechtsextremer Positionen gegen die liberale Demokratie und eine vielfältige Gesellschaft ja auch ein Gegensatz zwischen Stadt und Land. Erstens hat es die AfD in ländlichen Gebieten deutlich leichter. Zweitens hat sie es in klassisch protestantisch geprägten Gebieten leichter als in katholisch geprägten, weil es in letzteren noch eine starke sozial-moralische Bindung an die CDU gibt, wie etwa im Thüringer Eichsfeld. 

Und warum diese Drohungen hier und jetzt?

Ich habe solche Drohungen  auch früher schon bekommen, aber jetzt war es doch relativ massiv. Und das ist ganz konkret eine Folge der aufgeheizten Stimmung vor den Landtagswahlen und noch konkreter auch Folge eines Briefes, den wir, finanziert über Campact, an alle über 65-jährigen Thüringerinnen und Thüringer verschickt haben. Über diese Postwurfaktion hat der Landesvorstand der AfD gezielt Desinformation verbreitet. Unter anderem, dass wir Steuergelder dafür verwendet  hätten, was nicht wahr ist. Außerdem, dass wir gegen den Datenschutz verstoßen hätten, was genauso Mumpitz ist, weil das eine Postwurfsendung ist. Wir haben die Adressen überhaupt nicht. Das läuft über Verteiler der Deutschen Post. Trotzdem hat diese Hasskampagne einige Menschen veranlasst, wirklich sehr, sehr böse und beleidigende bis hin zu bedrohenden Nachrichten zu schicken. 

350.000 Briefe haben Sie verschickt – allerdings nur an über 65-jährige. Warum?

Hätten wir mehr Geld gehabt , hätten wir die Briefe auch an alle Jüngeren geschickt. Zudem haben wir uns auf eine Zielgruppe beschränkt, von der wir ausgehen, dass sie vielleicht für digitale Information nicht so zugänglich ist. Außerdem haben wir letztes Jahr bei der Bürgermeisterwahl in Nordhausen, dem Standort unserer zweiten Gedenkstätte Mittelbau-Dora, die Erfahrungen gemacht, dass es die älteren Menschen waren, die am Ende dazu beigetragen haben, dass wider aller Voraussagen der demokratische Oberbürgermeisterkandidat die Wahl gewonnen hat. 

Die Älteren haben’s gerettet?

Junge Menschen sind mittlerweile in der vierten Generation und die haben Großeltern, die die nationalsozialistischen Verbrechen gar nicht mehr selbst erlebt haben. Das ist für sie auf den ersten Blick irgendetwas, was im finsteren Mittelalter stattgefunden hat. Das mag ein Grund sein. Der zweite Grund ist, glaube ich, dass jüngere Menschen sehr viel stärker auf Social Media unterwegs sind. Und ich glaube, dass die Digitalisierung unserer Informationsgesellschaft in den letzten Jahren dazu beigetragen hat, dass sich rechtsextreme Einstellungen, Antisemitismus, Rassismus oder Queer-Feindlichkeit weiterverbreiten konnten, weil Wissensaneignung und Meinungsbildung eben mittlerweile im Netz stattfindet. 

Da werden massiv geschichtsrevisionistische Legenden geteilt

Wenige Klicks und man landet bei Holocaust-Leugnern.

Noch vor 20, 30 Jahren musste man sich Holocaust-verharmlosende Bücher bei obskuren Verlagen mit Postfachadressen besorgen. Da ist man gar nicht so leicht rangekommen. Heutzutage sind das zwei Klicks, die ich brauche, um auf geschichtsrevisionistische Desinformation zu stoßen. So etwas verbreitet sich viral, setzt sich in den Köpfen fest. Und das merken wir zum einen bei den Besucherinnen und Besuchern der Gedenkstätten, aber natürlich auch, wenn wir die Kommentare unter unseren Posts beobachten. Da werden massiv geschichtsrevisionistische Legenden geteilt.  

Einer dieser Kanäle ist X, vormals Twitter: Dort und woanders sind Sie sehr aktiv – warum? Spätestens seit Elon Musks Übernahme stehen Demokratiefeinden ja wieder Tür und Angel offen.

Bis vor zwei Jahren etwa war ich ein großer Fan von Twitter und wir haben wirklich auch gute Erfahrungen gemacht, weil man darüber wichtige Zielgruppen wie Journalisten und Politikerinnen erreicht hat, aber auch Wissenschaftler. Da war Twitter tatsächlich ein Medium, um sich auszutauschen. Das ist mittlerweile anders geworden unter Musk. Und tatsächlich ist das hochgradig ambivalent, da immer noch aktiv zu sein. 

Viele haben der Plattform den Rücken gekehrt und erst kürzlich hat sogar Brasilien den Dienst wegen Desinformation und Hetze landesweit gesperrt.

Ja, mittelfristig werde ich selbst und wird sicherlich auch die Stiftung Twitter verlassen. Wir haben es bisher noch nicht gemacht, aus zwei Gründen: Die Alternativen, die es gibt, sind nicht wirklich erfolgreich. Darüber hinaus sind die Multiplikatoren, die wir über Twitter erreichen, größtenteils noch dort, also zum Beispiel Vertreter der Medien, aber auch Politikerinnen und Politiker. Das Hauptargument ist, dass Twitter jetzt einer Person gehört, die versucht, damit Geld zu verdienen und  mittlerweile selbst im extrem rechten Milieu angesiedelt ist. 

Wie sieht das offline aus: Bemerken sie diese geschichtsrevisionistischen Parolen in der Gedenkstätte?

Ja, doch das ist immer noch eine sehr kleine Minderheit, die so etwas macht. Aber eine Minderheit, die zunehmend im Brustton der Überzeugung auftritt, und zwar zunehmend laut und aggressiv. Wobei das nicht immer auch so anfängt. Meistens fängt das an mit irgendwelchen Signalwörtern oder Signalfragen. 

Das Phänomen des Dogwhistlings, also wenn wie bei einer Hundepfeife nicht alle dasselbe hören.

Genau. Dann wird man gefragt: Ja, jetzt haben wir viel über Buchenwald gehört und das ist ja auch alles ganz schrecklich, was Sie erzählt haben. Aber jetzt sagen Sie doch mal was über die Rheinwiesenlager, die Luftangriffe auf die deutschen Städte, die Vertreibung aus den Ostgebieten, die europäische Unterwerfung der Indigenen in Amerika, die Sklaverei, Guantanamo… Das begegnet uns massiv. 

Whataboutism wie ihn auch die AfD betreibt. Die in Teilen rechtsextreme Partei feiert – unabhängig ob regierungsbeteiligt oder nicht – einen großen Erfolg bei der Wahl in Thüringen. Inwiefern beeinflusst das Ihre Gedenkstättenarbeit?

Zum einen in ideologischer Hinsicht, indem natürlich die gegen die Gedenkstättenarbeit gerichtete Positionen, die aus der AfD kommen, gestärkt werden. Wenn diese Partei erstarkt, werden sich geschichtsrevisionistische Positionen in den Köpfen weiter festsetzen. Und das andere ist eine ganz praktische Folge: Wenn die AfD beispielsweise eine Sperrminorität bekommt und damit Einfluss auf die Tagesordnung des Landtags hat, kann sie beispielsweise verhindern, dass ein Haushalt verabschiedet wird. Völlig unabhängig davon, ob sie an der Regierung beteiligt ist oder nicht, kann das dann Folgen für unsere Arbeit haben. 

Inwiefern?

Wir bekommen unser Geld zu 50 Prozent aus dem Landeshaushalt, die andere Hälfte kommt aus dem Bundeshaushalt.  Wenn unser Landeshaushalt nicht verabschiedet wird oder im Landeshaushalt unsere Zuwendungen reduziert werden, dann werden wir letzten Endes unsere Bildungsarbeit hier nicht mehr machen können. Das ist eine reale Gefahr. Es gibt dann in Thüringen noch eine Gedenkstätte an einem Außenlager-Standort. Das ist die kleine Gedenkstätte Laura im Thüringer Wald. Deren Arbeit wird vom Landkreis Saalfeld-Rudolstadt finanziert. Wenn dort die AfD die Mehrheit bekommt, können diese Zuwendungen sehr schnell auf Null gesetzt werden, denn das sind sogenannte freiwillige Leistungen, zu denen ein Landkreis nicht verpflichtet ist. 

Rechtsextreme haben es hier traditionell immer leicht gehabt

Hat der für rechte Parolen fruchtbare thüringische Boden auch historische Gründe?

Rechtsextreme haben es hier traditionell immer leicht gehabt. Da gibt es Kontinuitätslinien. Thüringen war in den 20er-Jahren bereits ein Sprungbrett für die Nationalsozialisten. Es gibt drei Thüringer Sündenfälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch Nationalsozialisten im Deutschen Reich. 1930 die erste Koalitionsregierung mit Nationalsozialisten und 1932 die erste NSDAP-geführte Landesregierung. Alles in Thüringen.  

Geschichte wiederholt sich nicht, aber reimt sich, heißt es.

Schon, nun gibt es auch etliche Unterschiede zu den 20er- und 30er-Jahren und man sollte vorsichtig sein mit falschen historischen Analogien. Aber tatsächlich kann der Blick auf die Geschichte ja Wachsamkeit stärken, zum Beispiel indem man den bürgerlich-konservativen Parteien sehr deutlich sagt: Lernt bitte aus den Fehlern eurer politischen Vorgänger und geht keinerlei Kooperation mit der AfD ein, auch keine informelle Tolerierung oder was auch immer. Keine Absprachen. Das muss man ihnen ganz deutlich sagen. Und Mario Voigt sagt auch, dass er das nicht tun wird. Ihm selbst nehme ich das auch ab. Es gibt allerdings in der zweiten und dritten Reihe der CDU durchaus Menschen, die mit einer Zusammenarbeit liebäugeln. Das macht mir tatsächlich Sorgen. Und dann haben wir noch ein weiteres, großes Sorgenkind in Thüringen… 

… Sie meinen das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), bislang ja eine große Blackbox, eine Projektionsfläche.

Genau. Bei dem ist gerade erst rausgekommen, dass einer der maßgeblichen Politiker ein früheres AfD-Mitglied ist. Und da verwundert es dann nicht, dass aus den Reihen des BSW eine Zusammenarbeit mit der AfD als möglich angesehen wird. Es könnte wirklich eine Katastrophe für Thüringen werden, sollte es eine Koalition aus BSW und AfD geben. 

Welchen Einfluss hätte ein starkes BSW mit eventueller Regierungsbeteiligung auf Ihre Gedenkstätte?

Ich habe mir das Wahlprogramm des BSW in Thüringen angesehen. Es ist außerordentlich dünn. Der Vorteil ist, dass man es sehr schnell lesen kann. Da steht sogar was drin von Gedenkstätten-Förderung im Gegensatz zur AfD. Da steht sowas natürlich überhaupt nicht drin. Im Gegenteil. Ein Hauptthema des BSW jedenfalls ist sicherlich das Thema Ukrainekrieg und Putin-Nähe. Das spielt eine ganz starke Rolle. Dann appelliert das BSW – ähnlich wie es die AfD tut – an niedere Instinkte oder an Ressentiments gegenüber der Moderne. 

Es gibt Überschneidungen zwischen BSW und AfD

In Thüringen hängen BSW-Plakate, auf denen steht „Rechnen statt Gendern“.

Es gibt durchaus Überschneidungen zwischen den beiden Parteien, beispielsweise hinsichtlich einer gewissen autoritären Prägung. Ich halte das BSW für eine leninistische Partei, die gleichwohl auch nationalistische Positionen vertritt, migrationsfeindliche und generell antiliberale, antimoderne Positionen. Und da ist man in Teilen deckungsgleich mit der AfD, ganz jenseits einer Hufeisen-Theorie. Im Übrigen halte ich das BSW nicht für eine linke Partei. Es ist eine mindestens populistische Partei. Und das Ganze dann noch garniert mit einer Form von DDR-Nostalgie und Antiamerikanismus. Der spielt eine überaus starke Rolle und ist eine Parallele zur AfD. 

Das BSW in Regierungsverantwortung – der Worst Case?

Sollte es zu einer BSW-Beteiligung an der Regierung kommen, dann müssen wir damit umgehen, dass Mitglieder dieser Partei die Regierung mittragen. Ein schöner Gedanke ist das nicht, aber kein so katastrophaler, wie die AfD in der Regierung zu haben, weil diese dezidiert geschichtsrevisionistische, Holocaust-verharmlosende  und sogar -leugnende sowie NS-verherrlichende Positionen verbreitet. Das kommt aus dem BSW nicht. Das ist tatsächlich ein Unterschied.  

Wo Sarah Wagenknecht ist, ist es mit Sehnsucht an eine verklärende Vergangenheit, die es so wohl nie gab, nicht weit. Wie steht es grundsätzlich um den Schatten der DDR?

Ich glaube tatsächlich, dass die DDR-Prägung, ihre Geschichte und ihre Folgen nach 1990 eine große Rolle spielen. Die Transformationsphase in den 90er-Jahren, das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, aber auch die ganz reale Situation, dass viele, viele Menschen in Arbeitslosigkeit gestürzt wurden und viele, gerade die Älteren, auch nicht mehr auf die Füße gekommen sind. Das hat sicherlich Spuren hinterlassen. Und zwar nicht nur bei denen, die damals direkt beteiligt waren oder Opfer dieser Transformationen geworden sind, sondern auch bei deren Kindern und Kindeskindern. Sowas wird in der Familie weitergegeben, übrigens auch in den Schulen. Doch häufig wird nicht genug darauf geblickt, dass auch die Zeit vor 1989, glaube ich, für die Prägung von politischen Einstellungen in Ostdeutschland eine starke Rolle spielen. Ich meine die autoritäre, antiwestliche, antiamerikanische, antizionistische Sozialisation der Menschen in der DDR. Und die merkwürdig ambivalente Haltung gegenüber dem Staat: einerseits der Glaube, dass er alles für mich tun muss und für mich entscheidet, andererseits ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat.  

Das klingt schizophren.

In der Tat. Auch die DDR-Geschichtspolitik spielt meines Erachtens eine Rolle. Wir müssen feststellen, dass die Geschichtsbilder der SED für rechtsextreme westdeutsche geschichtsrevisionistische Positionen durchaus anschlussfähig sind. Ich will versuchen, es zu erklären. 

Bitte.

Das Geschichtsbild der DDR folgte der Dimitroff´schen These. Also der These, dass der Faschismus die Herrschaft der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals gewesen sei. Nach 1945 sind die Monopolkapitalisten natürlich alle in den Westen verschwunden. Deswegen hieß auch die erste Dauerausstellung in Buchenwald „Die Blutspur führt nach Bonn“. Deswegen war der Schwur von Buchenwald, der von den Häftlingen am 19. April 1945 gesprochen wurde, gewissermaßen das Leitbild der DDR, In einer Zeile heißt es: “Die Vernichtung des Faschismus mit all seinen Wurzeln ist unsere Losung.” 

Mit welchen Folgen?

Das wurde in der DDR massiv verbreitet. Die Wurzeln des Faschismus seien natürlich der Kapitalismus und der Imperialismus westlichen Zuschnitts, auch das ist antiamerikanisch aufgeladen. Man kann es sogar antisemitisch einlesen. Stichwort „Ostküste“. Dieses Geschichtsbild wurde hier in Buchenwald inhaltlich vertreten. Aber wenn man sich dieses DDR-Geschichtsbild vor Augen führt, das sehr stark antiwestlich, antiliberal, antiamerikanisch aufgeladen war, dann hat das sozusagen eine innere Logik, wenn die Weimarer „Montagsspaziergänger“, eine krude Mischung aus AfD, Reichsbürgen und Putin-Anhängern, bei ihrer Hetze gegen die liberale Demokratie und die angebliche Ampel-Diktatur die Schwurhand des DDR-Mahnmals in Buchenwald von 1958 als Logo missbrauchen und damit behaupten, die stünden in der Tradition des antifaschistischen Widerstandkampfes. Diese Leute verbreiten dezidierte NS-Verherrlichung und behaupten zugleich, Antifaschisten zu sein: irre. 

Und natürlich wird auch von vielen ganz bewusst Begriffsverwirrung betrieben, mit „Nazi“ und „Faschist“, um gewissermaßen der Gegenseite ein Argument zu nehmen, indem der Begriff dermaßen entleert wird, dass er in der politischen Auseinandersetzung gar nicht mehr eingesetzt werden kann. 

Wie kann eine lebendige Erinnerungskultur aussehen, die nicht all die Arbeit bei Ihnen als Gedenkstätte abstellt?

Zwei Dinge. Erstens glaube ich, dass es wirklich notwendig ist, dass wir uns auch politisch sehr viel stärker mit der DDR auseinandersetzen, aber auch mit den Ereignissen 1989. Wir müssen schauen, was denn 1989 vor Ort passiert ist. Diejenigen, die jetzt auf der Straße stehen und behaupten, sie kämpften gegen das Ampelregime, so wie sie vor 35 Jahren gegen das DDR-Regime gekämpft hätten – das ist ja Mumpitz. Es gibt ein paar ehemalige Bürgerrechtler, die tatsächlich im rechtspopulistischen und rechtsextremen Milieu mittlerweile verankert sind. Aber die meisten, die da jetzt auf den Straßen herumlaufen, die saßen 1989 zu Hause und sind allenfalls erst auf die Straße gegangen, als es keinerlei Gefahr mehr bedeutete. 

Und zweitens?

Wir müssen insgesamt in der Gesellschaft stärker darauf achten, dass unsere Erinnerungskultur nicht nur darin besteht, um die Opfer zu trauern oder sich sogar mit ihnen zu identifizieren. Das ist meines Erachtens eine Anmaßung aus der Post-Tätergesellschaft heraus. Wir müssen fragen, warum diese Leute überhaupt zu Opfern wurden. Das heißt, danach zu fragen, wer sie zu Opfern gemacht hat, wer die Mittäter und Mittäterinnen waren, wer die Profiteure waren. Und wir müssen uns fragen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft als eine radikal rassistisch und antisemitisch -formierte Gesellschaft funktioniert hat. Diese Gesellschaft stand auf zwei Säulen: den Integrationsangeboten an die propagierte „Volksgemeinschaft“ und Ausgrenzung, Verfolgung und Mord an denen, die nicht dazugehören sollten. Die Deutschen hat es nicht gestört zu hören: Euch geht es besser, wenn es anderen schlechter geht. Ganz im Gegenteil. Das haben sie gerne gehört und es hat mehr Bindungskräfte an das Regime freigesetzt. Genauso wie Ideologien der Ungleichwertigkeit, völkische Leistungsideologien oder die Unterscheidung zwischen Produktiven oder Unproduktiven. 

Das klingt nach der Bürgergeld-Debatte.

Ja. Das sind alles Dinge, die man zunächst wissenschaftlich sauber quellengestützt aus der Geschichte herausarbeiten muss. Und dann kann man Aktualitätsbezüge herstellen und fragen: Wie sieht es denn heute aus mit Ideologien der Ungleichwertigkeit, mit Produktivitätsideologie, mit Verheißungen der Ungleichheit, die gerade ja auch von der AfD in die Welt gesetzt werden? Das ist in meinen Augen eine kritisch-reflexive, wissenschaftliche und quellengestützte Auseinandersetzung mit aktuellem Bezug. Das müssen wir stärker machen. 

Das ist ein Unterschied zu 1933

Sie haben in einem älteren Interview gesagt, dass die gegenwärtigen Entwicklungen sich wie ein erinnerungspolitischer Klimawandel anfühlen. Wagen Sie eine meteorologisch-metaphorische Einordnung anlässlich der Landtagswahlen in Thüringen?

Tja, vielleicht hat sich der Klimawandel zur Klimakrise gesteigert? Es ist noch nicht zu Klimakatastrophe, aber zur Klimakrise auf jeden Fall. 

Das klingt mindestens besorgniserregend.

Ja, das hat aber nicht nur mit der AfD zu tun, sondern auch mit dem zeitlichen Abstand zu 1945. Mit dem Umstand, dass es eigentlich kaum noch Menschen gibt, die den Nationalsozialismus selbst erlebt haben. Der Schutzschirm, den die Überlebenden über unsere Arbeit gespannt haben, gibt es nicht mehr. Wenn sich vor zehn Jahren so etwas geregt hätte wie jetzt mit der AfD, dann hätte es die breite Protestwand der Überlebenden gegeben. Das ist jetzt kaum noch möglich. Und demnächst werden wir komplett alleine dastehen. Deswegen brauchen wir auch die Zivilgesellschaft, die uns unterstützt. Und die haben wir hier in Thüringen. 

Beispielsweise die Initiative „Weltoffenes Thüringen“.

Die ist wirklich gut angelaufen. Da bin ich sehr froh. Und das ist übrigens auch ein Unterschied zu 1933. Da gab es diese breite Unterstützung für den liberalen Rechtsstaat, für die offene, für vielfältige und moderne Gesellschaft nicht. Die haben wir jetzt trotz aller Wahlerfolge der Rechtsextremen. 

Danke für das Gespräch, Herr Wagner. 
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Verlorenes Vertrauen: Warum junge Wähler*innen in Thüringen zur AfD abdriften

Immer mehr Jungwähler*innen in Thüringen kehren den demokratischen Parteien den Rücken und wenden sich der AfD zu. Wieso ist die junge Generation so unzufrieden mit der Landespolitik? 

Wahlkampfabschluss der AfD auf dem Domplatz in Erfurt, einen Tag vor der Landtagswahl. Die Stimmung ist aufgeheizt. Während auf der einen Seite Anhänger*innen der Partei Deutschlandfahnen schwingen und auf Alice Weidel warten, demonstrieren Tausende gegen die AfD und den Rechtsruck in Thüringen.

Protestierende auf der Demo gegen die AfD.
Protestierende auf der Demo gegen die AfD. Foto: Caroline Sauter

Die Sonne knallt auf den Platz, derweil verhindern vermummte Polizist:innen als schwarze Wand das direkte Aufeinandertreffen von Unterstützer*innen und Gegner*innen der AfD. Demonstrant*innen halten Plakate mit der Aufschrift „Höcke, halt dein dummes Wessimaul!“ oder „Nie wieder 1933“ in die Luft, Protestschreie erfüllen die Stadt.  

Junge, aufgebrachte Demonstrierende vor Ort finden:

Als Jugendlicher fühlst du dich schon irgendwo allein gelassen von der Politik

– die AfD zu wählen sei für sie aber keine Alternative. Doch Zahlen zeigen etwas anderes:  Laut der U18-Wahl des Kinder- und Jugendprojekts „Netzwerk U18“, welche jedes Mal kurz vor den Landtagswahlen durchgeführt wird, würden mehr als 37 Prozent der unter 18-jährigen die AfD wählen; im Vergleich zu den letzten Landtagswahlen 2019 knapp doppelt so viele. Den Grund für dieses Ergebnis sehen die Jugendlichen auf der Demonstration auch in der Politikunzufriedenheit. Die AfD hingegen würde mit ihren Wahlplakaten auch gezielt junge Menschen ansprechen – ein Plakat zeigt den Slogan „Ja! Zur Jugend!“ mit Björn Höcke im Hintergrund. 

Im Gespräch mit Christian Schaft.
Im Gespräch mit Christian Schaft. Foto: Caroline Sauter

Christian Schaft, Landesvorsitzender der Linkspartei, sei bei Diskussionen mit jungen Menschen in letzter Zeit besonders aufgefallen, dass diese sich oftmals nicht ernst genommen fühlen. Er glaubt, es brauche mehr Kontakt mit Jugendlichen auf Augenhöhe: „Dann schaffen wir es auch mehr Vertrauen der Jugendlichen in die demokratischen Parteien zu gewinnen“. In seinen Gesprächen sei für viele die größte Sorge:

Ist eigentlich die Zukunft, die mich erwartet, noch lebenswert und vor allem auch bezahlbar?

Auch Laura Wahl, bislang Abgeordnete der Grünen im Thüringer Landtag, beobachtet negative Zukunftsaussichten von Jugendlichen. Geringe Ausbildungslöhne und Kostensteigerungen, die besonders junge Menschen betreffen, erhöhen das Armutsrisiko unter Jugendlichen deutlich. Und eine neue Studie des ifo-Instituts zeigt: Je größer die Armutsgefahr, desto höher die Bereitschaft, rechts zu wählen – vor allem in ostdeutschen und strukturschwachen Regionen, wo sich ein Vertrauensverlust in die demokratischen, etablierten Parteien durch den Aufstieg der AfD bemerkbar macht. Die Wahl der AfD wird somit immer mehr zum Standard in Thüringen. Eine andere Partei zu wählen, würde vor allem in ländlicheren Regionen als seltsam angesehen, meint Henry Bernhard, thüringischer Landeskorrespondent des Deutschlandfunks. Das betreffe allerdings nicht nur junge Menschen, sondern alle Altersgruppen. Bernhard beschreibt, dass politische Bildung gar nicht, oder eben „am Abendbrottisch“ stattfinde. Davon profitiere vor allem die AfD. 

Am Wahltag meint eine junge AfD-Wählerin aus Suhl als Antwort auf die Frage, ob sie unzufrieden mit der aktuellen Politik sei, nur: „Also ehrlich gesagt beschäftige ich mich da nicht viel mit“. Sie kenne viele in ihrem Umfeld, die die AfD unterstützen. Wieso sie selbst sich entschieden hat, dieser Partei ihre Stimme zu geben, möchte sie aber nicht sagen.  

Die Wahlergebnisse zeigen letztendlich nochmal deutlich: Jungwähler*innen sind überzeugt von der AfD – 37 Prozent der 18 bis 24-Jährigen in Thüringen haben diese Partei gewählt. Die etablierte Politik steht nun vor der Herausforderung, das Vertrauen Jugendlicher zurückzugewinnen, um der zunehmenden Polarisierung entgegenzuwirken und die politische Landschaft nachhaltig zu verändern. Besonders auf dem Land muss es mehr Austausch zwischen Politik und Wähler*innen geben – damit diese Menschen sich auch gesehen fühlen und Jugendliche sich ihre eigene Meinung bilden, ohne die ihres Umfelds einfach zu übernehmen. 

 

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Die AfD – bald Volkspartei im Osten?

Die AfD fährt in Thüringen ihr bestes Wahlergebnis ein. Woher kommt ihre Popularität? Wie die Partei ihr Abschneiden begründet und was Experten als Gründe für ihre Stärke nennen. 

Ein Wahlplakat der AfD Thüringen mit dem Titel "Abschieben schafft Wohnraum".
Ein Wahlplakat der AfD Thüringen. Bei der Landtagswahl erreichte die Partei ihr bisher höchstes Ergebnis in einer Landtagswahl. Foto: Caroline Sauter

Thüringen hat gewählt – und die Alternative für Deutschland (AfD) zur stärksten Partei gemacht. Sie steht bei 33 Prozent, weit abgeschlagen die CDU als zweitstärkste Kraft. Schon vor der Wahl warfen die Beliebtheitswerte der Parteien ihre Schatten voraus: Die anderen Parteien wirkten, wohl auch durch die starken Umfragewerte der AfD, während des Wahlkampfes eher defensiv. Die Grünen warben hauptsächlich um die Zweitstimme der Wähler:innen, wollten durch das Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde eine Sperrminorität der AfD im Landtag verhindern. Für das Direktmandat empfahlen sie lieber aussichtsreichere Kandidat:innen der Linken oder der SPD.  Mit der Wahlauswertung zeigt sich: Die Bemühungen der Grünen haben nicht gereicht, die Partei verfehlte den Einzug in den Landtag.  

Auch andere Parteien sahen die Stärke der AfD so kritisch, dass sie sie auf ihren Wahlplakaten zum Thema machten „Wer die AfD wählt, wählt Faschisten“, prangte es auf den Wahlplakaten der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD).  

Doch wie kommt eine Partei, die in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall und in Thüringen als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird, zu den Beliebtheitswerten einer Volkspartei? Warum verfängt sie gerade in Ostdeutschland, insbesondere in Thüringen, besonders stark?  

Stefan Möller, neben Björn Höcke Vorsitzender der Thüringer AfD, kann mehrere Gründe für die Stärke seiner Partei nennen: Primär habe die AfD eine einzigartige Positionierung zu den bisherigen Krisen, angefangen bei der Flüchtlingskrise 2015, die laut Möller noch immer nicht gelöst ist. Die Partei sei vor allem so stark gewachsen, weil sie ihre Positionen glaubhaft vertrete. So habe man während der Coronazeit und im Feld der Windkraft neue Wähler:innengruppen erschließen können. Das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien habe zusätzlich zum Wachstum der AfD beigetragen. 

Angesprochen auf die niedrigen Beliebtheitswerte seines Spitzenkandidaten Höcke macht Möller die Medien verantwortlich: Sie hätten Fehltritte Höckes hervorgehoben, Fehler der anderen Parteien kaum beleuchtet und Vorbehalte aufgebaut.  

„Heute redet kein Mensch mehr über die beleidigenden Worte von Bodo Ramelow, es redet auch kaum einer über die autoritären Coronamaßnahmen von Georg Maier, dem Innenminister (…)“. Stattdessen würde immer noch aus seiner Sicht falsch verstanden werden, was Höcke vor 6 Jahren in seinem Buch veröffentlicht habe. Diese Ansichten sieht Möller nicht als Grund.  

Henry Bernhard im Portrait.
Henry Bernhard berichtet seit 2013 für das Deutschlandradio aus Thüringen. Bild: Caroline Sauter

Ihr Programm sei allerdings nur ein Grund, warum die AfD in den ostdeutschen Bundesländern so populär sei, beschreibt Henry Bernhard, Thüringenkorrespondent für das Deutschlandradio. Er berichtet seit 2013 über Thüringen, hat das Bundesland also seit der Gründung der AfD erlebt. Bernhard sagt, einer der großen Faktoren für den Aufstieg der AfD sei die geringe Bindung der Parteien im ländlichen Raum, vor allem, weil Stammwählerschaften in ostdeutschen Bundesländern keine Tradition haben.  

Die Statistiken geben ihm Recht: Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung zeigen, dass in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen insgesamt 65.779 Menschen Mitglied einer Partei sind. Zum Vergleich: In Hessen sind es 102.676, trotz geringerer Flächen- und Einwohnerzahl. In den drei ostdeutschen Bundesländern ist die AfD hingegen am erfolgreichsten, wenn es darum geht, neue Parteimitglieder zu gewinnen.

Grafik Parteimitglieder nach Bundesländern 2021
Gerade in den ostdeutschen Bundesländer schaffen es die Parteien oft nicht, Menschen zum Eintritt zu bewegen.

Für Henry Bernhard ist auch die Geschichte von Thüringen ein weiterer Grund für die hohen Stimmgewinne der AfD. Die zwei Diktaturen, der Nationalsozialismus und die SED-Diktatur, hätten noch immer einen starken Einfluss auf das Verhältnis der Ostdeutschen zur Politik. Das Vertrauen gegenüber der parlamentarischen Demokratie sei geringer als in Westdeutschland. Demokratie würde oftmals als eine „Diktatur der Mehrheit“ definiert, erklärt der Journalist.  

Hinzu komme, ebenfalls aus dem historischen Kontext gewachsen, die Ansicht, dass öffentlicher Protest zu einer Politikänderung führen könne, wie es bei der friedlichen Revolution 1989 möglich war. Eine Aussage, die einleuchtet: politische Partizipation auf Ebene der Parteienarbeit hat in den neuen Bundesländern kaum Tradition und ist daher sehr wenig ausgeprägt, wie die Zahlen zeigen. Vielmehr scheint der Protest wahlbestimmend zu sein. Ein Narrativ, dass sich die AfD gern auferlegt. 

Die geschichtliche Prägung, die Schwäche der etablierten Parteien, der Männerüberschuss in der thüringischen Bevölkerung und die Frustration über die Abwanderung junger Menschen- ein idealer Nährboden für den Populismus, den die AfD als Mittel der Wahl für sich nutzt.  

Die etablierten Parteien in Ostdeutschland nehmen, spätestens nach dieser Wahl, wahr, dass ihre Strategien im Osten nicht funktionieren, sie sich anpassen und ihre Vorgehensweisen ändern müssen. Ob sie das schaffen, wird sich in Zukunft zeigen- ein Blick nach Thüringen und in den Osten lohnt sich also auch weiterhin. Um zu sehen, ob die Parteien Rezepte gegen die Strategie der AfD finden und ob sie es schaffen, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. 

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Bodo Ramelow: Beliebter Ministerpräsident einer unbeliebten Partei – wie passt das zusammen?

Bodo Ramelow

Ministerpräsident Bodo Ramelow ist der beliebteste Politiker in Thüringen. Seine Partei landet bei der Wahl allerdings auf dem vierten Platz. Warum wollen die Menschen ihn, aber nicht die Linke?

Freitag Nachmittag auf dem Anger im Zentrum von Erfurt: Die Sonne scheint, die Leute freuen sich auf ihr Wochenende und genießen den Tag. Die Linkspartei ist mit einer Bühne vor Ort und begeht ihren Wahlkampfabschluss mit politischer Prominenz. Linken-Ikone Gregor Gysi spricht über die Lage in der großen Welt, über Krieg in der Ukraine und in Nahost. Bodo Ramelow hingegen redet über die Themen im kleinen Thüringen: Den Schulgarten, den Borkenkäfer und die kommunale Wärmeplanung. Das mag die Leute etwas weniger mitreißen als die Rede seines Vorredners, aber so kennen und mögen die Thüringer*innen ihren Ministerpräsidenten. Praktisch, realistisch, volksnah. 

Diese Zustimmung zu Bodo Ramelow zeigt sich auch in Umfragen. Laut infratest dimap sind 51% der befragten Menschen zufrieden mit seiner politischen Arbeit. In seiner Regierungszeit baute sich Ramelow einen Ruf als Pragmatiker auf, mit dem man reden kann, auch wenn er politisch andere Positionen vertritt. Das brachte ihm parteiübergreifend und in Teilen der Gesellschaft, die sich normalerweise nicht mit der Partei identifizieren können, Anerkennung ein. Unter den 51%, die zufrieden mit der Arbeit von Bodo Ramelow sind, sind auch 92% der SPD-Wähler*innen. Ein Wert, der fast so hoch ist wie die 96% der zufriedenen Linken-Wähler*innen. Ramelow würde weniger in Verbindung mit seiner Partei gesehen, heißt es zur Erklärung aus Mitgliederkreisen der Linken. Während der Partei noch ihre Geschichte als SED-Nachfolgepartei anhänge, kennen und schätzten die Menschen Bodo Ramelow persönlich.  

Im Wahlergebnis der Linken bei der jetzigen Landtagswahl zeigt sich diese Anerkennung allerdings nicht. Mit mageren 13,1% und einem gigantischen Verlust von 17,9% liegt sie weit abgeschlagen auf dem vierten Platz hinter AfD, CDU und BSW und ist damit von einem realistischen Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten meilenweit entfernt. Aber woran liegt das? Warum mögen so viele Leute Bodo Ramelow, aber wählen dann nicht seine Partei?  

Die Linke: „Kannibalisiert durch das BSW“

Der Journalist Henry Bernhard sieht eine eindeutige Erklärung hierfür: „Das BSW hat hauptsächlich die Linke kannibalisiert“, erklärt er im Gespräch mit der Jugendpresse. Das zeigt sich auch in der Wählerwanderung. Die Verluste der Linken an das BSW sind mit 84.000 verlorenen Stimmen mehr als an alle anderen Parteien zusammen. Dass Viele statt der Linken das BSW gewählt haben, muss allerdings nicht heißen, dass die Menschen auch unzufrieden mit Bodo Ramelow sind. Laut infratest dimap sind 65% der BSW-Wähler*innen zufrieden mit seiner Arbeit.  

Warum wählen sie dann trotzdem das BSW und nicht die Linke? Bei der thüringischen Landtagswahl ginge es mehr um Bundes- als um Landespolitik, erklärt Henry Bernhard. Unzufriedene Wähler*innen würden mit ihrer Stimmentscheidung die etablierten Parteien in Berlin abstrafen. Themen wie Migration und innere Sicherheit wurden durch den Anschlag in Solingen im August für viele Menschen noch relevanter als ohnehin schon: Laut Wahlbefragung waren Kriminalität, innere und soziale Sicherheit sowie Zuwanderung die Inhalte, die für die Menschen bei ihrer Wahlentscheidung am wichtigsten waren. Das BSW spricht diese Wähler*innen, denen sowohl Sozialpolitik als auch die Begrenzung von illegaler Migration wichtig ist, besser an als die Linke. 

Politikwissenschaftler*innen bezeichnen das BSW deshalb häufig als „links-konservativ“, als eine Mischung aus linker Sozialpolitik und konservativer Gesellschaftspolitik. Die Linke hingegen gilt als „links-progressiv“ und steht für viele Wähler*innen für eine ausgeprägte Sozialpolitik und eine weniger harte Migrationspolitik. 

Auch die Position des BSW zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schätzen viele der befragten BSW-Wähler*innen. 83% befürworten, dass sich das BSW gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine einsetzt. Der Linken sprechen die Befragten mit 8% nur halb so viel Kompetenz bei diesem Thema zu wie dem BSW mit 16%. 

Die Linke nicht wählen, um die AfD zu schwächen?

Neben dem BSW haben allerdings auch andere Parteien der Linken erhebliche Verluste zufügen können. Insbesondere die CDU konnte von der Linken zahlreiche Stimmen abwerben. Mit rund 39.000 Stimmen fällt die Menge der übergelaufenen Wähler*innen zumindest fast halb so hoch aus wie beim BSW. Das dürfte neben dem konservativen Profil der Partei, etwa bei der Migrationspolitik, vor allem an dem Zweikampf zwischen dem CDU-Kandidaten Mario Voigt und AfD-Bewerber Björn Höcke gelegen haben. Bei der vergangenen Landtagswahl 2019 prognostizierten schon Monate vor der Landtagswahl Umfragen Die Linke als stärkste demokratische Partei und somit als aussichtsreichste Kandidatin, um die AfD als stärkste Kraft zu verhindern. Das war eine mögliche Motivation für Wähler*innen die Linke zu wählen.  

Bei der diesjährigen Landtagswahl kam diese Motivation allerdings der CDU zugute. 55% der befragten Wähler*innen stimmten der Aussage zu, dass sie die Partei nur gewählt hätten, damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt. Der CDU war dieses erhebliche Wählerpotential durchaus bewusst, nicht ohne Grund plakatierte sie: „Höcke stoppen. CDU wählen.“  

Ein Wahlplakat der CDU mit dem Titel Höcke Stoppen. CDU wählen.
Die CDU warb um Anti-AfD-Stimmen. Foto: Caroline Sauter

Den Eindruck zu erzeugen, nur die CDU sei eine ebenbürtige Gegnerin der AfD, dürfte auch ein strategisches Ziel der CDU gewesen sein. So inszenierte Mario Voigt bereits im April in einem Fernsehduell einen Zweikampf zwischen ihm und Björn Höcke. Das Medienecho war gigantisch. Voigt konnte sich als seriösen Politiker mit starker Verwurzelung in Thüringen inszenieren. 

Mit blauem Auge davongekommen

Trotz der schweren Niederlage in Thüringen scheint die Katastrophe im Vergleich mit anderen Ergebnis der Linken in Deutschland im Rahmen zu liegen. In Sachsen ist die Partei bei der zeitgleich stattfindenden Wahl unter die 5%-Hürde gefallen und nur durch das starke Abschneiden in zwei Wahlkreisen noch in den Landtag gekommen. In zahlreichen anderen Landesparlamenten ist die Linke mittlerweile gar nicht mehr vertreten und auch der Einzug in den nächsten Bundestag ist nicht sicher. Der beliebte Spitzenkandidat Bodo Ramelow konnte diesen bundesweiten Abwärtstrend für Thüringen zwar nicht aufhalten, aber zumindest eindämmen.  

Hierin liegt jedoch auch eine Gefahr: Ob die Linke in Thüringen auch ohne Bodo Ramelow weiterbestehen kann, ist unklar. Immerhin sagen 60% der Linken-Wähler*innen, dass sie ohne Bodo Ramelow die Linke nicht gewählt hätten. Noch will Ramelow auch im nächsten Landtag politisch aktiv sein, doch was kommt danach? Es bleibt abzuwarten, ob die Linke sich in Thüringen auch ohne ihn politisch beweisen kann oder nicht doch zu einem „Bündnis Bodo Ramelow“ verkommt.  

Anmerkung: Alle der im Artikel verwendeten Zahlen beziehen sich auf das vorläufige Endergebnis und die Befragung durch infratest dimap und sind unter https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/index.shtml auffindbar. 

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Wahlen ab 16 auf Bundesebene- Entwicklung und Meinung aus der Gesellschaft

Die Anträge zum Wahlrecht ab 16 Jahren scheiterten im Bundestag an der Zweidrittel-Mehrheit, die notwendig ist, um das Grundgesetz zu ändern. 2023 lehnen 62 Prozent der Deutschen das Wahlrecht ab 16 auf Bundesebene weiterhin ab. Das ergab eine Studie des Meinungsforschungsinstituts INSA. Aber wo stehen wir in der Diskussion gerade?

Unterschiedliche Wahrnehmungen im Diskurs 

Tilmann Weickmann, Leiter des Landesjungendrings Berlin, äußerte sich bereits 2017 zu diesem umstrittenen Thema. Seiner Meinung nach führe die Art und Weise, wie Jung und Alt aufeinandertreffen, und welche Erfahrungen gemacht werden dazu, wie Jugendliche wahrgenommen würden. Laut einer Studie des Deutschen Kinderhilfswerks von 2023 ist die öffentliche Meinung zum Thema geprägt von den älteren Generationen. Während junge Menschen von 10 bis 18 Jahren es zu 69 Prozent noch als sinnvoll erachten, das Wahlalter zu senken, sinkt diese Zustimmung mit zunehmendem Alter.

Für den Verfassungsrechtsexperten Prof. Dr. Christoph Müllers ist die Entscheidung des Absenken des Wahlalters eher sozial als demokratisch. „Die Geschichte des Wahlrechts ist gepflastert von Behauptungen von Unmündigkeit. Und auch davon, dass diese Unmündigkeit irgendwann mal überwunden wurde“ sagt er. Die Behauptungen hätten sich eigentlich nie bewahrheitet. Die Änderung oder Beibehaltung des Grundgesetzes basiere neben rechtlichen Grundlagen eben auch auf guten und aussagekräftigen Argumenten, bestärken auch die Deutschen Jugendverbände. Der Landesjugendring Berlin erwähnt ebenfalls, dass die bestehende Diskussion Grundlage unseres Demokratieverständnisses sei.

Politische Reife als Grundlage  

Dauerhaftes und meist zentrales Argument gegen das Wahlrecht ab 16 Jahren ist die angeblich fehlende Reife von Jugendlichen. Stochastik-Professor Dr. Friedrich Pukelsheim, ist sich sicher, dass Bürger*innen unter 18 Jahren, wenn sie ein Wahlrecht besäßen, ihre eigene Meinung bilden könnten und würden. Das belegt auch eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung aus dem Jahr 2021. Bei den 5000 Befragten zwischen 15 und 20 Jahren sei klar sichtbar, dass die politische Reife der unter 18-Jährigen die gleiche sei wie die der über 18-Jährigen. Außerdem wird klar, dass das Interesse an Politik stetig steigt.

Bei der letzten Absenkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre im Jahr 1970 und dem damit verbundenen Gesetz war das Wahlalter an die Volljährigkeit geknüpft. Damals wurde argumentiert, dass junge Menschen bereits die nötige politische Bildung besäßen. In der Diskussion hat sich also nicht viel geändert. Laut der Professorin für öffentliches Recht Prof. Dr. Silke Ruth Laskowski brauche es die Erfahrung mit dem Wahlrecht ab 16, um wissenschaftlich fundiert darstellen zu können, ob Jugendliche die nötige Reife besitzen. Die Auswertung der bereits umgesetzten Wahlen mit jungen Menschen unter 18 zeige jedoch, dass das Alter 16 Jahre angemessen sei, um das aktive Wahlrecht daran zu knüpfen.

Umsetzung von Wahlen ab 16

Bereits im Jahr 1999 wurde das Projekt „Juniorwahlen“ durch die Robert-Bosch-Stiftung umgesetzt. Als ein großes, finanziertes Schulprojekt, erreichte der Veranstalter Kumulus e.V. in gemeinsamen Projekten mit weiteren Partizipationseinrichtungen wie „Jugend debattiert“ und Partner*innen wie der Bundeszentrale für politische Bildung eine Wählerschaft von 3,6 Millionen Schüler*innen. Sie konnten parallel zu Landtags-, und Bundestagswahlen an Schulen und Lerneinrichtungen ihre Stimme abgeben. Laufende wissenschaftliche Studien zeigen, dass die deutschlandweite Ausbreitung der Juniorwahlen zu einer Erhöhung der allgemeinen Wahlbeteiligung führt. Bei den Eltern von Jugendlichen, die bei den Juniorwahlen wählen, steigt die Wahlbeteiligung um bis zu 9 Prozent. Auch eine Erstwähler*innen-Studie der Universität Stuttgart beweist, dass der Anteil der Nichtwähler*innen durch das Projekt um 15 Prozent sank.

2015 erfasste die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie, dass die Erstwahlbeteiligung um 20 Prozentpunkte steigen könnte, wenn Jugendliche wählen gehen dürften. Offen bleibt jedoch, wie viele der Jugendlichen tatsächlich auf Bundesebene wählen gehen möchten. Statistiken über Landtagswahlen, bei denen das Wahlrecht ab 16 bereits durchgesetzt wurde, zeigen einen durchwachsenen Trend. Obwohl die Gruppe der unter 18-Jährigen als offen für das Wählen galt, lag deren Wahlbeteiligung in den letzten Jahren bei nur knapp 50 Prozent.

Ergebnisse von Jugendwahlen

Spannend ist vor allem die Auswertung der Juniorwahlergebnisse der diesjährigen Landtagswahlen im Vergleich zu denen im Jahr 2018. Während die Grünen von unter 30-Jährigen weit weniger gewählt wurden, hat sich die Wahlquote der AfD in Bayern fast verdreifacht und auch die CDU gewann einen Zuwachs an Wähler*innenstimmen. Funk, das junge Angebot von ARD und ZDF, verglich in einem Beitrag die Wahlergebnisse der unter 30-Jährigen mit denen von älteren. Heraus kam, dass fast doppelt so viele junge Menschen kleine Parteien wählen. Die Begründung dafür scheint zu sein, dass die großen Parteien nicht das umsetzen, was von jungen Menschen erwartet wird, wie eine Befragung zum Wählen von kleinen Parteien der Nachrichtensendung ZDFheute ergab.

Tillmann Weickmann vom Landesjugendring Berlin ist sich sicher, „dass im Zusammenhang mit der nächsten Bundestagswahl, also 2025, das Thema wieder stärker auch öffentlich diskutiert wird“. Es ist schwer zu sagen, wie lange die Diskussionen um das Wahlalter 16 noch anhalten. Fest steht, das Thema wird vor allem unter 18-Jährige noch weiter beschäftigen.

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Der Sonnenkönig der Freien Wähler

Hubert Aiwanger von den Freien Wählern ist die prägende Figur des bayrischen Wahlkampfs. Seine Methoden kommen nicht überall gut an, doch der Erfolg scheint ihm Recht zu geben. 

Es heißt viele Köch*innen verderben den Brei. Ob nun der politische Brei, den die Freien Wähler in Bayern produzieren, einem Hauptgericht in Alfons Schuhbecks bestem Restaurant entspricht oder kaum runterzubekommen ist, das muss jede*r für sich selbst entscheiden. Klar ist: An der hohen Anzahl der Köch*innen kann es nicht gelegen haben. Seit Jahren gibt es genau einen Chefkoch: Hubert Aiwanger. Auch in diesem Wahljahr richtete sich die ganze Partei – ach was, der ganze Wahlkampf in Bayern – nach seinem Rezept.  

Eine Besonderheit des bayrischen Wahlkampfs waren schon immer die obligatorischen Auftritte bei aufgeheizter Stimmung und Temperatur in den Bierzelten des Freistaats. Eine Umgebung, die, laut des Kommunikationsexperten Olaf Hoffjann, besonders empfänglich für „Emotionales, Postfaktisches und Übertriebenes“ ist – ähnlich wie in den sozialen Medien. Beides sind Spielwiesen, auf denen Aiwanger sich besonders wohlfühlt. Hier wie dort stößt seine direkte, unverblümte Art auf viel Zustimmung. Unter den blau-weißen Planen der bayrischen Festzelte und auf seinem X-Account ist er die Stimme einer Wähler*innenzunft, die sich hohem Druck aus Politik und Gesellschaft ausgesetzt fühlt. Das sind laut Hoffjann überwiegend Männer, die unter anderem ihren gesellschaftlichen Status in Gefahr sehen. Damit setzte er den Ton im Wahlkampf. Markus Söder scheiterte in Erding an dem Versuch, ihn zu kopieren und die Ampelparteien hatten kaum Chancen, überhaupt in Erscheinung zu treten. 

Ende August sorgte eine Recherche der Süddeutschen Zeitung dafür, dass das Spotlight auf den FW-Vorsitzenden noch heller strahlte. Die Zeitung berichtete über Kopien eines extrem menschenverachtenden und antisemitischen Flugblatts, das er während seines 17. Lebensjahres in seiner Schultasche bei sich trug. Zwar bekannte sich anschließend sein Bruder dazu, dieses verfasst zu haben, doch Zweifel daran halten sich bis heute. Sein Umgang mit dieser Affäre sorgte bei vielen für Kopfschütteln. Auf eine für viele unzureichende Entschuldigung folgten relativierende Aussagen, mit denen er sich auch in den Augen Olaf Hoffjanns „um Kopf und Kragen redete.“ Anschließend ging er in die Gegenoffensive und warf den Medien vor, eine gezielte Hexenjagd gegen ihn durchzuführen. Ein Vorgehen, das stark and Donald Trump erinnerte, der ebenfalls immer wieder von einer „Witch Hunt“ gegen sich sprach. Im Stile des ehemaligen Präsidenten der USA stellt sich Aiwanger damit als das eigentliche Opfer dieser Geschichte dar. Seine Partei trägt das mit und stärkt ihm den Rücken. Susann Enders, Generalsekretärin der Freien Wähler Bayern, gratuliert ihm auf der Wahlparty am Abend des Wahltags zum Überleben des schmutzigsten Wahlkampfs, den sie je erlebt habe. Und Loraine Bender, stellvertretende Vorsitzende der Jungen Freien Wähler, erzählt im Gespräch mit politikorange, die Affäre habe ihm sehr zugesetzt. Er sei oft blass gewesen. Es funktionierte. Mehr als einen Monat später muss auch der Experte Hoffjann zugeben: „Am Ende hat Aiwanger alles richtig gemacht. Zynisch gesprochen war die Flugblattaffäre aus seiner Perspektive ein Geschenk, das vom Himmel gefallen ist. Er ist weiterhin stellvertretender Ministerpräsident und die Freien Wähler sind in der Wählergunst gestiegen.“ Letzteres zeigte sich am vergangenen Wahlsonntag. Der Bundes- und Landesvorsitzende der Freien Wähler führte seine Partei zum Rekordergebnis von 15,8% der abgegebenen Stimmen und holt dabei selbst das erste Direktmandat für die Partei. 

Nicht nur deswegen ist er in den eigenen Reihen weiterhin unumstritten. Für Bender, war und ist er „ein riesiges Zugpferd für die Partei.” In Zukunft soll er das auch auf Bundesebene sein. Aiwanger möchte bei den Wahlen 2025 in den Bundestag einziehen. Olaf Hoffjann denkt, dass dies gelingen kann: „Seine offene, gerade Art, auf Augenhöhe mit den Menschen käme auch außerhalb Bayerns gut an.“

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