Kanzleramtschef Thorsten Frei erklärt im politikorange-Interview auf den JugendPolitikTagen, welchen Stellenwert junge Menschen für die neue Regierung haben – und warum ihr Fokus zuerst auf Außenpolitik und Wirtschaft liegt.
Kanzleramtsminister Thorsten Frei im politikorange-Interview, was er jungen Menschen für mehr Repräsentanz rät (Foto: Jugendpresse Deutschland/Caroline Sauter)
Thorsten Frei (51) sitzt seit 2013 für die CDU im Bundestag und ist seit Mai 2025 unter Friedrich Merz Bundesminister für besondere Aufgaben sowie Chef des Bundeskanzleramtes. Bei den JugendpolitikTagen stellte er sich auf der Bühne den Fragen der Teilnehmer*innen. Politikorange hat ihn danach zum Interview getroffen.
politikorange: Herr Frei, was glauben Sie, was junge Menschen gerade politisch am meisten bewegt?
Thorsten Frei: Ich glaube, dass es die außenpolitischen Herausforderungen sind. Der Krieg in der Ukraine oder der Krieg zwischen Israel und Iran, auch insgesamt die Vorgänge im Nahen Osten. Und natürlich eine ganze Reihe von Themen, die wir hier in Deutschland haben.
Zum Beispiel?
Wir spüren jetzt, dass die wirtschaftliche Stagnation der letzten drei Jahre sich auf die ganz persönlichen Lebensverhältnisse von Menschen auswirken. Das ist etwas, was vielen Angst macht. Und deswegen muss unser Ziel erst einmal sein, dass wir wieder aus dieser wirtschaftlichen Stagnation ins Wirtschaftswachstum kommen. Damit schaffen wir die Grundlagen dafür, dass der Staat die Dinge, die er tun muss, auch tatsächlich gut finanzieren kann.
Bei den vergangenen Bundestagswahlen hat ja die Mehrheit der jungen Menschen nicht die Union oder die SPD gewählt. Ist diese Regierung dann überhaupt eine Regierung von jungen Menschen gewählt und für junge Menschen?
Ja, das glaube ich schon. Wir müssen immer von der Mehrheit der Wahlberechtigten ausgehen in einer Demokratie. Und bedauerlicherweise ist es so, dass der Anteil der jungen Menschen in der Gesellschaft nicht besonders groß ist. Wir müssen trotzdem versuchen, Politik für alle Generationen zu machen, und zwar vor allem für junge Menschen. Wir müssen uns um gute Starvoraussetzungen kümmern, um Bildung und vieles andere.
Wie könnte konkret Ihre Partei mehr junge Leute für sich gewinnen?
CDU und CSU haben bei der letzten Wahl zwar mehr Stimmen von jungen Menschen bekommen als 2021, aber damit sind wir nicht zufrieden. Denn bei der letzten Wahl haben viele junge Menschen auch extreme Parteien gewählt. Das hängt sicher damit zusammen, dass sehr viele Menschen unzufrieden damit sind, wie Politik und Regierung Probleme lösen. Allerdings ist das für uns auch eine Chance: Wir können daran arbeiten, mehr Probleme zu lösen.
Wie lassen sich denn Regeln finden, um die junge Generation bei Gesetzen, die sie in Zukunft betreffen, mehr einzubeziehen?
Das ist nicht ganz leicht. Ich kann nur appellieren, sich in irgendeiner Weise politisch zu engagieren – egal ob bei einer Partei, in einem kommunalen Gremium, einem Jugendgemeinderat oder auch hier auf den JugendPolitikTagen. Ich selbst habe meine politische Arbeit in der Kommunalpolitik begonnen. Politik ist auf jeder Ebene hochinteressant und hat eine hohe Relevanz für das persönliche Leben von Menschen. Es gibt so viele Chancen und Möglichkeiten, sich einzubringen und zu engagieren. Wenn junge Menschen mit guten Argumenten ihre Punkte vortragen, werden sie auch gehört und ihre Interessen in die Meinungsbildung miteinbezogen. Demokratie ist zwar manchmal ganz schön anstrengend, aber nicht umsonst.
In einer Welt voller Unsicherheiten und Konflikte wird der Bayerische Hof zum Schauplatz, an dem sich Machteliten und Vordenker versammeln. Hier wird nicht nur über Strategien verhandelt, sondern auch über die Zukunft der globalen Zusammenarbeit. politikorange-Reporterin Nelly war vor Ort.(mehr …)
Auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz wurden langfristige Trends deutlicher als es einigen Transatlantiker*innen lieb ist. Die Versammlung, die auch seit 61 Jahren auf der engen Zusammenarbeit von Deutschland und EU mit den USA aufbaut und darauf begründet wurde, wurde mehr und mehr zum Schauplatz einer Entfremdung.(mehr …)
Der Krieg in der Ukraine ist ein Thema, dass viele Menschen seit dem 24. Februar 2022 umtreibt. Eine große Zahl an Menschen ist im vergangenen Jahr vor dem Krieg geflohen und nach Deutschland gekommen. Viele Menschen sind entweder direkt vom Krieg betroffen oder haben Freunde oder Familie, die betroffen sind. Auch für den Rest Europas war die Rückkehr des klassischen zwischenstaatlichen Krieges ein Schock.
AG 31: Krieg in der Ukraine. Foto: Jugendpresse Deutschland / Moritz Heck
Studien zufolge gehören Kriege zu den größten Bedrohungen, die junge Menschen aktuell für ihre Zukunft sehen. Die AG 31 setzte sich bei den diesjährigen JugendPolitikTagen daher mit dem Krieg in der Ukraine und der Zeitenwende auseinander. Geleitet wurde die AG von Marina Sidak, selbst Ukrainerin. Sie studiert Soziale Arbeit und lebt seit vier Jahren in Deutschland.
Marina Sidak eröffnete die Sitzung mit ihrer persönlichen Geschichte und stellte den von ihr mitbegründeten Verein Deutsch-Ukrainischer Dialog e.V. vor. Im Anschluss daran ging es in einer Gesprächsrunde um die Schwierigkeiten, mit denen insbesondere junge Ukrainer*innen in Deutschland aktuell kämpfen, wie beispielsweise die hohe Arbeitsbelastung von Schüler*innen durch das gleichzeitige Lernen an deutschen und ukrainischen Schulen.
Diskussion mit Expert*innen
Nach der Pause berichteten Referent*innen über ihre Arbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Zuerst sprach Sarah Steinbach über ihre Arbeit beim Auswärtigen Amt (AA) im Referat Vereinte Nationen. Dabei ging es um die Resolutionen zur Verurteilung des Kriegs in der Ukraine, die Russland zum Rückzug seiner Truppen auffordert und die mit großer Mehrheit der Mitgliedsstaaten angenommen wurde. Weiterhin erläuterte sie die große Bedeutung der Änderung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, durch welche die ‚P5’ – die fünf ständigen Mitglieder des Rates, ihr Veto den anderen UN-Mitgliedsstaaten erklären müssen.
Das klingt jetzt vielleicht erstmal nicht so hochtrabend, ist aber für dieses riesige Konstrukt „Vereinte Nationen“ ein gewaltiger Schritt nach vorne, einfach weil sie sich rechtfertigen müssen.
Sarah Steinbach (AA)
Weiterhin erklärte Sie, dass eine Beteiligung in der Außenpolitik auch für Menschen möglich ist, die nicht im AA oder BMVG arbeiten, da insbesondere die Staaten der EU immer offen gegenüber Vorschlägen von beispielsweise NGOs sind, beziehungsweise sind diese sogar erwünscht. Zusätzlich erklärte sie, welche Möglichkeiten es für junge Menschen gibt, sich in der internationalen Politik einzubringen.
Danach berichtete Stefan Quandt vom Bundesministerium der Verteidigung über seine Arbeit. Er ist Offizier und Referent im Territorialen Führungskommando bei der Bundeswehr in Berlin. Er sprach vor allem von der Zeitenwende und erklärte, was sie für die Bundeswehr, aber auch für die Zivilbevölkerung bedeutet. Er erläuterte den Rollenwechsel für die Bundeswehr, der mit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 einherging. Die Bundeswehr wurde in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr mit der Staatsverteidigung assoziiert, sondern mit Katastrophenhilfe und Auslandseinsätzen wie in Afghanistan oder Mali. Dies muss sich nach Quandt wieder ändern. Die Zeitenwende muss sich nun auch in den Köpfen der Zivilbevölkerung verfestigen. Die Verteidigungsausgaben müssen sich in den nächsten Jahren deutlich erhöhen, da die USA Europa in Zukunft immer weniger unterstützen werden und ihren Fokus mehr auf den pazifischen Raum legen werden, so die Prognose Quandts.
Weiterhin verwies er auf die Relevanz der Cybersecurity, ein Bereich der alle betrifft. Als Beispiel nannte er hier die Angriffe im Ukraine-Krieg, die nach gezielter Auswertung von Social Media ausgeführt werden.
Seit dem 24. Februar 2022 erleben wir eine Zeitenwende. Und Zeitenwende bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die Bundeswehr jetzt wieder einen Kernauftrag erfüllen können muss. Dieser Kernauftrag hat etwas mit Ausrüstung zu tun. Deswegen spreche ich lieber von Ausrüstung, einer vollständigen Ausrüstung der Bundeswehr und nicht von Aufrüstung. Und das steht jetzt auf der Agenda.
Stefan Quandt (BMVG)
AG-Leiterin Marina Sidak im Gespräch mit politikorange. Videoausschnitt: Jugendpresse Deutschland e.V. / Florian Hecht
Anschließend diskutierten die Teilnehmer*innen sehr angeregt mit den Expert*innen bis zum Ende der AG-Phase, die sehr offen und ausführlich auf die Fragen eingingen. Dabei ging es um eine große Bandbreite an Themen, die mit dem Bereich Außen- und Sicherheit zusammenhingen. Viel diskutiert wurde unter Anderem über die Zeitenwende und die Bundeswehr. Dabei ging es auch um die Frage, ob und wie europäische Staaten aufrüsten sollten. Es kam die Frage auf nach der Machbarkeit einer europäischen Armee im Zusammenhang mit dem prognostizierten Rückzug der USA aus dem europäischen Raum. Eingehend wurde auch der Vorschlag und die Umsetzung eines Pflichtjahres für junge Menschen diskutiert, welches Bundespräsident Steinmeier vorgeschlagen hatte. Ein weiteres Thema waren der Rechtsextremismus in der Bundeswehr, die Einstimmigkeit in der EU-Außenpolitik und das Verhältnis zu Russland, sowohl in der Diplomatie, als auch in der deutschen Bevölkerung. Weiterhin wurde die Rolle Chinas in der Weltpolitik besprochen, wobei Steinbach betonte, dass der wirtschaftliche Druck aus Europa als einer der wichtigsten Handelspartner nicht zu unterschätzen sei, da sich China kein Wirtschaftswachstum von unter 5% leisten könne. Dementsprechend sei auch die Enthaltung Chinas bei der Verurteilung Russlands durch die UN-Resolution ein sehr wichtiges Signal, auch wenn eine Enthaltung erst einmal nach nicht viel klinge.
Diese und noch einige weitere Themen wurden mit den Expert*innen besprochen. Die Teilnehmer*innen gaben dem Gespräch ein sehr positives Feedback. Sie lobten die Offenheit und Ehrlichkeit der Antworten und konnten bei dem Gespräch viel lernen. Außerdem konnten sie bestimmte Aspekte wie die Zeitenwende besser verstehen. Auch AG-Leiterin Marina Sidak war sehr zufrieden mit der Sitzung. Sie lobte die guten Fragen der Teilnehmer*innen und die Offenheitder Expert*innen.
Nox ist selbstbewusst, queer, rebellisch und aus der Ukraine. Als queere Person ist dey besonders gefährdet im Krieg.
Nox vor einer Mauer in Berlin. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Es ist Feierabend in Berlin. Leute strömen aus allen Richtungen und versuchen dem einsetzenden Regen zu entkommen. Sie spannen ihre Regenschirme auf und fluchen über Autofahrer*innen. Inmitten dieser Menschenmasse sitzt Nox vor einem Café auf einem hellblauen Plastikstuhl.
Nox trägt eine schwarze Hose und einen schwarzen langen Mantel. Deren lockige Haare sind schulterlang und um den Hals hängen Kopfhörer. Nox Ohren schmücken zwei Kronkorken-Ohrringe. Auf einem ein Busen, auf dem anderen eine Vulva gezeichnet.
Nox wirkt selbstbewusst. Deren Blick scheint zu sagen: „I don´t give a shit!“, deren Haltung ist stolz. Typisch Berliner*in könnte man denken. Selbstbewusst, politisch und queer.
Nox von der Seite. Auf dem Ohrring ist eine Vulva zu sehen. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck.
Zugezogen unter besonderen Umständen Doch das stimmt nicht. Nox ist zugezogen, oder eher geflüchtet. Nox kommt aus der Ukraine. Dey ist im Donbass geboren und dann mit den russischen Angriffen 2014 mit der Familie nach Kiew geflohen.
Ende Februar musste dey vor den Bomben aus Kiyv fliehen. „Es war so gefährlich dort. Zuerst sind wir nach Winnyzja geflohen. Das ist eine Stadt im Westen der Ukraine. „Dann haben wir uns dazu entschieden, dass es sicherer für mich und meine Mutter wäre zu fliehen.“
Die Umhängetasche von Nox, auf ihr steht der neue Wohnort: Berlin. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Ein Rebell in Kiew In Kiew ist Nox aufgewachsen und hat dessen queere Identität entdeckt. Nox ist bisexuell und nichtbinär. Dey benutzt genderneutrale Pronomen.
„Das erste Mal, als ich realisiert habe, dass ich bisexuell bin, da war ich glaube ich elf oder zwölf Jahre. Ich erinnere mich nicht mehr so genau”, erzählt Nox. „Da bin ich übrigens auch zum Aktivismus gekommen, also LGBTQ und Frauenrechte. Ich habe versucht, alles zu entdecken. Ich habe einfach über alles wie besessen gelesen und dann bin ich von alleine über das Geschlecht: non-binary gestolpert und gedacht: „Das bin ich!“
Das ist also Nox: Weder männlich noch weiblich, sondern nichtbinär. Die Eltern reagierten zuerst skeptisch. „Sie haben gedacht: Das ist nur eine Phase!“, erzählt Nox, halb ernst, halb scherzhaft. „Aber ich habe viele Jahre damit verbracht, mit ihnen zu diskutieren und sie umzuerziehen.” Anfangs seien sie noch sehr homofeindlich gewesen, mittlerweile hätten sie Nox Sexualität akzeptiert. “Nur mein Geschlecht verstehen sie, glaube ich nicht. Ich war halt schon immer ein Rebell”, sagt Nox stolz.
Zwischen Kiew und Berlin gäbe es sehr große Unterschiede in der queeren-Szene. In Nox Heimat sei sie vor allem im Untergrund tätig. „Die Gesellschaft ist sehr konservativ und die LGBTQ Szene wird immer noch unterdrückt“, erklärt Nox. Dennoch fühlt dey sich in der Szene wohl. „Die Community ist wie so eine Art Flucht, weil jeder einfach nett zueinander ist. Es ist einfach angenehm dort zu sein.“ Dey liebt die rebellische Atmosphäre und geht gerne in die Cafés, die in der queeren Szene bekannt sind. Nox versteckt sich nicht, erklärt jedem, der es wissen möchte, deren Identität.
Irgendwann steigt Nox bei Fridays for Future ein. Erst geht Nox nur zu den Demos, ruft mit den anderen die Sprechchöre und fühlt sich wieder einmal wohl, etwas verändern zu wollen. Als der Krieg anfängt, bringt Nox sich aktiver in die Bewegung ein und gestaltet Instagram Post für die Bewegung. Durch den Krieg hat sich die Bewegung vor Ort verändert. Statt Demos wird humanitärer Hilfe für die Ukraine organisiert.
In Berlin ist es anders. In der queeren Szene fehle der kämpferische Spirit aus der Ukraine. „Es ist logisch, dass wenn eine Untergrundbewegung akzeptiert wird, das Rebellische verloren geht. „Trotzdem fühle ich mich hier immer noch sicherer, weil ich nicht für meine Identität kämpfen muss.“
Nox vor einem Gebäude in Berlin. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Nox trinkt einen Schluck vom Eistee. Der kalte Tee scheint dey zurückzubringen in die Gegenwart. Nach Berlin. Hier gibt es keinen Krieg und keine Bomben. Das einzige ärgerliche an dieser Stadt ist momentan der Regen, der nicht aufhören will und die Kälte, die trotz des Frühlings bis in die Knochen geht.
Die Heimat vermisst Nox sehr. „Kiew hat so einen großen Platz in meinem Herzen, Es ist der Ort wo ich aufgewachsen bin und ich liebe einfach alles daran.“
Während die Bomben in deren Heimatland fallen, sitzt Nox in Berlin, zählt die Tage bis Ostern, dann fährt dey zurück nach Kiew und besucht die Familie.
“Mach Abends die Taschenlampe von deinem Handy an, wenn du durch die Straßen läufst”, sagte deren Vater an Weihnachten in Kiew zu Nox. “Sonst sehen dich die Autos nicht. Die Straßenlampen leuchten nicht wegen dem Stromausfall.“ Also geht Nox mit deren Taschenlampe durch die Straßen, besucht alte Freunde und hofft, eines Tages wieder in Kiew zu leben.
Fliehen und Ankommen Die Flucht von Nox und deren Mutter hat zwei Tage gedauert. In Polen haben sie einen kurzen Zwischenstopp gemacht, dann nach Berlin. Die Schwester wohnte schon hier.
„Zuerst war es echt schwierig, weil sie in einer Einzimmerwohnung lebte und unsere Mutter immer noch mit uns gewohnt hat, aber jetzt leben meine Schwester und ich in einer neuen Wohnung und wir haben getrennte Zimmer.“ Die Mutter ging nach ein paar Monaten wieder zurück in die Ukraine. „Sie hat meinen Vater vermisst und sie hat ja auch einen Job dort“, erzählt Nox.
Das neue Zuhause ist ungewohnt. Nox muss sich zuerst an die Stadt gewöhnen. „Hier in Berlin versuche ich zu überleben”, dey lacht auf, “es ist einfach schwer ein Hobby als Geflüchtete zu haben. „Das meiste meiner Energie geht einfach verloren und ich muss mich aufs Lernen konzentrieren.“ Nox geht auf eine internationale Schule, die durch ein Stipendium finanziert wird. „Ich habe sie einfach überzeugt mit meinem Charme“, lacht Nox und streicht sich spielerisch durchs Haar.
Die LGBTQ und die Ukraine Flagge auf einer Glasscheibe. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Anmerkung der Redaktion: Da die Protagonist*in non-binary ist, wird in diesem Artikel das genderneutrale Pronome dey benutzt.
Ukrainer Michael flieht mit seiner Familie vor dem Krieg als er 17 Jahre alt ist. Mittlerweile ist er 18 und fragt sich, ob er gerade nicht lieber in seiner Heimat sein sollte.
Der 18-jährige Michael in Berlin. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck
„Ich könnte mir jeder Zeit ein Ticket kaufen und nach Kiew fahren“, sagt Michael in einem überfüllten Café in Berlin-Charlottenburg. Seit der Ukrainer 18 Jahre alt ist, lebt er in einem ständigen Konflikt. Mit der Volljährigkeit kommen Schuldgefühle. Das Gefühl, seiner Heimat Unterstützung schuldig zu sein, ihr nicht den Rücken zu kehren, sondern dort sein zu müssen.
Er sagt, Geschichten wie seine gibt es zigfach. Viele junge Ukrainer flohen als Minderjährige und sind mittlerweile volljährig. Nun stehen sie vor der Entscheidung, ob sie wieder in die Ukraine zurück gehen oder im sicheren Ausland bleiben. Michael ist sich uneinig. Häufig fragt er sich, ob es ihn zu einem Verräter macht in Deutschland zu bleiben.
Das Zurücklassen der Heimat
Als Putin und seine Soldaten die Ukraine im vergangenen Februar überfallen, war Michael 17 Jahre alt. Mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester flieht er nach Deutschland. Sein Vater und seine Großmutter bleiben in Kiew.
Bereits im Kindesalter lernt Michael Deutsch, denn seine Mutter hat einen Plan: Zum Studieren soll ihr Sohn später mal nach Deutschland. Eigentlich hat Michael darauf keine Lust. Er will lieber in Kiew bleiben. Dass er auf diesem Weg nun doch nach Deutschland kommt, war nicht so vorgesehen.
Die Ukraine zu verlassen ist nicht leicht für Michael. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck
Bevor Michael 18 wurde, besuchte er die Ukraine noch zweimal. Angst hatte er in der von Krieg geplagten Heimat nicht. Er war froh, Freunde und Familie wieder zu sehen, endlich wieder in Kiew zu sein. Seit dem Eintritt in die Volljährigkeit sind Besuche jedoch nicht mehr so leicht. Zwar hat er als Schüler keine Mobilisierung zu befürchten, doch die Sorge nicht wieder ausreisen zu können, ist zu groß. Seiner Heimat bleibt er seither fern.
In Berlin besucht Michael ein Studienkolleg. Mit zwei ukrainischen Klassenkameraden tauscht er sich über die Heimat aus. Einer der beiden will unbedingt zum Kämpfen an die Front. Er habe mit seinen Eltern bei einem Kartenspiel gewettet. Wenn er gewinnt, darf er gehen. Gewinnen die Eltern, muss er in Deutschland bleiben. Er verliert das Spiel und bleibt vorerst hier, erzählt Michael.
Im Café ist es laut. Menschen strömen ein und aus, Kinder spielen und rennen umher, aber Michael lässt sich nicht ablenken. Nur als sein Telefon klingelt – seine Mutter – wird er kurz nervös. Sie sprechen miteinander und als sie auflegen, steigt er sofort wieder in seine Erzählung ein.
„Die Ukraine muss gewinnen!“
Michael zieht einen Kühlschrankmagneten aus seiner Hosentasche: die Siegesgöttin Nike. Ein Mitbringsel aus friedlicheren Zeiten. Eine Erinnerung, die ihn traurig macht. „Die Ukraine muss gewinnen,“ sagt er mit ernstem Blick. Der Magnet stammt vom Kühlschrank der Familie in Kiew. Auf zahlreichen Reisen sammelten sie früher gemeinsam diese Andenken. Zu Hause wurden sie sorgsam am Kühlschrank aufgehängt. Die Tür zu öffnen, ohne dass ein Magnet runterfällt, war fast unmöglich, erinnert sich Michael. Ein paar dieser Magneten nimmt die Familie bei der Flucht nach Deutschland mit, andere schickt der Vater per Post nach. So fühlt sich die enge Wohnung in Berlin wenigstens ein bisschen nach zuhause an.
So wie die Familie sind nun auch die Magneten in Europa zerstreut. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck
An eine graue Laterne lehnt der Magnet mit der Siegesgöttin Nike. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck
Michael plant, in Berlin Geistes- oder Sozialwissenschaften zu studieren. Der 18-Jährige begeistert sich vor allem für Geschichte. Er ist dankbar für die Gastfreundschaft und fühlt sich im multikulturellen Berlin wohl. Doch trotz seiner Pläne für ein Leben in Deutschland wird klar: Hier bleiben will der junge Ukrainer eigentlich nicht. Michael will nach Hause, in die Ukraine, nach Kiew. Im Gepäck den Magneten der Nike. Wenn sie wieder in Michaels Wohnung in Kiew einzieht, zieht auch Frieden in der Ukraine ein. Und in Michaels Leben.
Die ukrainische Flagge ist überall zu sehen. Doch warum wird sie aufgehängt und welche Bedeutung hat sie für die Ukrainer*innen?
Die Nationalflagge der Ukraine wird im Laufe der Geschichte unterschiedlich wahrgenommen, aber sie wird immer für die Freiheit stehen. Foto: unsplash/ Yehor Milohrodsky
Die Fahne: symbolisch und persönlich
Seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 ist die ukrainische Flagge weltbekannt. Überall strahlt es gelb-blau als Zeichen der Solidarität. Für ukrainische Geflüchtete eine berührende Geste. Viele sind begeistert, bei ihrer Flucht nach Deutschland von ukrainischen Farben begrüßt zu werden.
Die Flagge gebe ihnen ein Gefühl für Sicherheit, sie verbinden gute Zeiten mit ihr. Denn auch wenn sie nur aus zwei Farben besteht, hat die Fahne eine tiefe, symbolische Bedeutung für Ukrainer*innen. Nicht nur, weil die beiden Farben eine typische ukrainische Aussicht darstellen, blauer Himmel und ein goldenes Getreidefeld. Die Flagge ist ein Symbol der Freiheit.“
Die Flagge erinnert mich immer an meine Kindheit bei meiner Oma auf dem Dorf. Sie weckt in mir warme Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit meinen Freund*innen, an die Momenten der absoluten Freiheit, als ich die Sonnenblumen sammelte und entlang der endlosen Kornfelder lief,“ erzählt Djamilia, eine Besucherin im Café Ukraine.
Auch Inna gibt die Flagge Kraft und Hoffnung auf eine freie Zukunft ihrer Heimat. Sie ist sehr dankbar für die Solidarität und all die Unterstützung, die sie bekommt.
Julia erzählt, wie sich ihre Wahrnehmung der Flagge verändert habe. Früher sei sie etwas Selbstverständliches für sie gewesen. Nun habe die 72-Jährige selbst eine kleine Fahne auf der Fensterbank stehen. Sie ist stolz auf die Tapferkeit ihres Volkes.
Die Ukrainische Flagge stellt eine traditionelle Aussicht dar. Foto: unsplash / Bcny
War die Flagge immer selbstverständlich?
Der Ursprung der ukrainischen Flagge liegt weit in der Vergangenheit. Schon die Kosaken aus Zaporozhye verwendeten im 16. Jahrhundert Fahnen in blau-gelben Tönen. Die Flagge, wie man sie heute kennt, wurde dann zwei Jahrhunderte später erstmals dokumentiert als sie am 25. Juni 1848 am Rathaus in Lwiw aufgehängt wurde. Seitdem wurde sie immer beliebter innerhalb der ukrainischen Bevölkerung. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde sie zur Nationalflagge der ukrainischen Volksrepublik.
Doch wenig später sollte sich das ändern, als die Bolschewiki die Macht übernahmen und die ukrainische Sprache und Kultur stark unterdrückt wurden. Dies wirkte sich ebenfalls auf die nationalen Symbole aus: Die Flagge wurde rot. Blau und gelb wurden verboten. Sogar in Landschaftsbildern, erinnert sich Julia.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 erlangte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Dennoch war die zarische und sowjetische Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten. Zwar gab es in den folgenden zwei Jahrzehnten keine gravierenden Auseinandersetzungen, dennoch war der Einfluss der russischen Welt spürbar. In den Jahren verstärkte sich die ukrainische Identität, trotz dessen oder genau deswegen.
Blau und Gelb im Kampf um die Freiheit
Mit der Unabhängigkeit der Ukraine kommen auch die typischen Farben wieder zurück. Im selben Jahr noch, wurde die blau-gelbe Fahne als offizielle Landesflagge vom ukrainischen Parlament, die Werchowna Rada, eingeführt. Julia wird dieses Ereignis nie vergessen: Zum ersten Mal wurde bei ihr ein starkes Nationalgefühl geweckt.
Die Bedeutung der nationalen Flagge steigt, während der Maidan Revolution 2013 bis 2014 (auch „Revolution der Würde“ genannt), bei der die Protestierenden einen Rücktritt der Regierung sowie eine Demokratisierung des Landes forderten. Sogar die brutale Gewalt während der Proteste, konnte die Ukrainer*innen nicht dazu zwingen, ihre Sehnsucht nach Freiheit und eigene Identität aufzugeben. Djamilia wollte unbedingt vor Ort sein, um für die Freiheit zu kämpfen.
Die Nationalflagge ist ein wesentliches Symbol während der Maidan-Revolution. Foto: Pixabay / Oleg
Die Stimmung ist auch nach mehr als 400 Tagen Krieg nicht anders: Die Fahne steht buchstäblich für die Freiheit, indem sie auf die zurückeroberten Gebiete von den ukrainischen Soldaten aufgesetzt wird. Man kann nur hoffen, dass die ganze Ukraine bald wieder in gelben und blauen Tönen leuchtet.
Das Café Ukraine feiert seinen einjährigen Geburtstag. Hier treffen sich ukrainische Geflüchtete, um sich zu vernetzen und gegenseitig zu stärken. Ohne einige Menschen wäre das nicht möglich.
Dasha, aus Russland Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Figur aus Salzknete. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Das Café Ukraine leistet wertvolle Flüchtlingshilfe für inzwischen 4500 Mitglieder. Mit großer Herzlichkeit kümmern sich Natalie und Maryna um ihre Gäste, die das Hilfsangebot dankbar entgegennehmen. Aber auch Menschen wie Dasha und Peter und Horst von der Mahnwache arbeiten mit und unterstützen den Verein. In den ersten Kriegsmonaten gab es eine sehr große Spendenbereitschaft, die allerdings jetzt stark nachgelassen hat. Überall herrscht ein Mangel an gezielten Spenden für ukrainische Menschen. Aktuell finanziert sich das Café durch die Berliner Stadtmission. Im Juni läuft die Unterstützung der kirchlichen Organisation allerdings aus. Wie es dann mit dem Café weitergeht, weiß niemand so richtig.
Dasha
Ganz anders als viele deutsche Medien die Ukraine derzeit porträtieren, ist das Café Ukraine ein fröhlicher Ort. Es scheint, als will der Ort das ganze Trübsal verdrängen, das derzeit mit der Ukraine verknüpft ist. Genau diese Fröhlichkeit strahlt auch Dasha aus. Dasha kommt ursprünglich aus Russland und ist vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Auch sie ist heute, am ersten April, zur Geburtstagsfeier des “Café Ukraine” gekommen. Hier ist sie als Medienpädagogin tätig und betreut die Gäste des Cafés. Gemeinsam mit Ukrainer*innen, Deutschen und Kasach*innen wird sich hier ausgetauscht, werden ukrainische Spezialitäten verspeist und Figuren aus Salzknete gebastelt. Besonders die Selbstständigkeit, mit der sich die ukrainischen Frauen um die Flüchtlingshilfe kümmern, hat Dasha beeindruckt. “Was kann man gegen den Scheißkrieg schon tun?“, fragt sie. Definitiv sei es wichtig, für andere da zu sein. Für Geflüchtete aus der Ukraine sei dieser Ort die Rettung vor dem sozialen Abstieg.
Natalie
Natalie, aus Saporischschja Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Natalie mit Freundinnen Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Natalie, die Gründerin des Vereins, hat am Geburtstag alle Hände voll zu tun. Als sie am vierten März letzten Jahres in Berlin ankam, suchte sie sofort Gleichgesinnte, mit denen sie anderen Geflüchteten helfen konnte. Schon drei Tage später gründete sie mit Unterstützung der Berliner Stadtmission das “Café Ukraine”. Jeden Donnerstag gibt es hier im Café einen Treffpunkt: Es gibt Live-Musik, selbst gebackenen Kuchen und Raum für Austausch. Die Angebote sind kostenlos. Damit die Ukrainer*innen sich in Berlin nicht aus den Augen verlieren, sei es Natalie wichtig gewesen, einen geschützten Ort zu schaffen, an dem sie ihre Kultur pflegen können.
Ein größeres Problem ist die Sprachbarriere, meint Natalie. Auch wenn Berlin als Stadt zugewandt und offen ist, gebe es nur wenige Menschen, die ukrainisch sprechen. Sprache ist ein elementarer Teil der eigenen Kultur, deshalb ist es für ukrainische Menschen so wichtig, in ihrer eigenen Sprache zu kommunizieren. Andererseits müssen sich Ukrainer*innen auch mit Deutschen verständigen können. Dafür haben sie eine neue Initiative ins Leben gerufen: Das Spiel-Sprach-Café. Hier lernen die Geflüchteten durch Spiele, wie Deutsch funktioniert. Ein stärkerer Austausch zwischen den ukrainischen und deutschen Menschen sei dringend nötig, damit Deutsch besser gelernt werden kann, findet Natalie. Meist kommen zwischen 15 und 30 Leute aus vielen osteuropäischen Ländern: Kasach*innen lernen mit Ukrainer*innen, Russ*innen und Belaruss*innen gemeinsam. Aber die Begegnungen gehen weit über Europa hinaus: Japanische, indische und somalische Gruppen kommen zusammen und reden über ihre Fluchterfahrungen und ihre Heimat aus. Ganz gleich, ob sie mit 150 Freiwilligen die Warschauer Straße aufräumen oder gemeinsame Yogastunden machen, das wichtigste ist das Gemeinschaftsgefühl. “Wir haben alle dasselbe erlebt. Darum sind wir für alle Begegnungen offen.”
Peter und Horst
Peter und Horst gemeinsam. Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
„Ukraine wird siegen!“ Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
“Die Ukraine wird siegen.” Das steht auf dem Rücken von Peters Pulli, den er stolz präsentiert. Er ist heute im Café, weil er den Geflüchteten unbedingt helfen möchte. Seit einem Jahr steht er als “Mahnwache” vor der russischen Botschaft und demonstriert gegen den russischen Angriffskrieg. Heute ist er mit seinem Kollegen Horst hier, der mit 82 Jahren eines der ältesten Mitglieder des Vereins ist. Auch er steht jeden Tag, bei “Wind und Wetter”, vor der Botschaft. Oft seien Peter und Horst das Ziel von Angriffen und Anfeindungen. Sie würden als Neonazis und Faschisten beschimpft werden, sagt Peter. Als Sarah Wagenknecht mit rund 13.000 Anhänger*innen für einen sofortigen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine demonstrierte, sei es am schlimmsten gewesen. Die Polizei habe Peter und Horst vor den gewalttätigen Angriffen schützen müssen. Die Angriffe sind auch von russischsprachigen Menschen ausgegangen, sagt Peter. “Wir wurden beleidigt und angespuckt.” Peter glaubt, dass der Krieg nicht am Verhandlungstisch beigelegt werden kann. Jetzt würden nur Waffenlieferungen helfen, findet Peter.
Maryna
Maryna, aus Winnyzja. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Mlinzy Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Maryna ist ebenfalls eine der Organisatorinnen des heutigen Geburtstages. Sie kommt aus Winnyzja, einem kleineren Ort in der Ukraine, der viele Todesopfer zu beklagen hat. Um den furchtbaren Nachrichten zu entkommen, engagiert sie sich im Café. Heute ist sie mit Kochen beschäftigt: Es gibt Borschtsch, Wareniki und Knoblauchbrot.
Auf die Frage, ob sie sich manchmal überfordert fühlt, lacht sie nur: “Immer!” Weniger arbeiten möchte sie trotzdem nicht, denn das Café raubt ihr nicht nur Kraft und Nerven, es gibt ihr auch Energie und vor allem Ablenkung. Zuvor sei sie oft ängstlich gewesen, aber das habe sich mit dem Engagement geändert. Als sie noch neu in Deutschland war, sei sie oft gefragt worden, was ihr am Land nicht gefalle. Darauf konnte sie nur immer wieder antworten, dass sie zufrieden sei. Sie hatten eine Unterkunft, sie waren sicher, und: „Es gibt keine Raketeneinschläge.” Trotzdem sei die Frage, ob sie bleiben möchte oder nicht, sehr schwer zu beantworten. Flucht in ein völlig neues Land ist immer mit Heimatverlust verbunden. Teilweise wohnt auch die eigene Familie in der Ukraine. Die Fahrten in die Heimat können sehr schmerzhaft sein, weiß Maryna. Sie vermisst ihr Land und ist hin- und hergerissen zwischen dem sicheren Ausland und ihrer Heimat. Ihr Ehemann konnte mit ihr die Ukraine verlassen, da er schon etwas älter war. Ganz allein ist sie also nicht. Maryna wird sich weiter um Geflüchtete kümmern, ganz gleich, was noch auf sie zukommt.
Auch nach 400 Tagen Krieg sind viele Geschichten noch nicht erzählt. Wie es den ukrainischen Geflüchteten gerade in Deutschland geht.
Die Sonnenblume ist ein Symbol des Widerstands und der Unbeugsamkeit des ukrainischen Volkes. Sie wird weltweit als Zeichen für Solidarität eingesetzt. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Seit der russischen Invasion in der Ukraine hat sich das Leben von Millionen Menschen verändert. Viele mussten fliehen und gingen nach Polen, Tschechien und Deutschland. Wie sich das Leben ukrainischer Geflüchteter nach über 400 Tagen Krieg verändert hat, hat sich die politikorange-Redaktion angeschaut. Ukrainer*innen erzählen von Flucht, Ankunft und Konflikten.
Mit der Volljährigkeit kommen die Schuldgefühle. Ukrainische Männer werden oft mit einem schwerwiegenden Konflikt konfrontiert. Kämpfen sie an der Front für ihre Heimat oder bleiben sie im sicheren Ausland? Für Michael ist das kaum beantwortbar. Der junge Ukrainer vermisst seine Heimat sehr, doch sieht er in Deutschland eine bessere Zukunft. Mit Jacqueline Scholtes hat er über Sehnsucht, Schmerz und Zwiespalt gesprochen.
Queere Menschen gibt es auf der ganzen Welt, doch in jedem Land ist ihre Lebensrealität anders. Die Ukraine ist im Vergleich zu vielen anderen Ländern noch sehr konservativ. Viele queere Menschen erfahren Diskriminierung und Gewalt. Nox ist in Kiyv aufgewachsen und nichtbinär. Dey weiß, wie sich die Szene in der Ukraine auslebte. Wie viel rebellischer sie im Vergleich zur Berliner queer-Szene war, berichtet Nox politikorange-Redakteurin Johanna Warszawa.
Für Geflüchtete in Berlin ist die erste Station meist das Ankunftszentrum am Hauptbahnhof. Hier kommen täglich mehrere Züge mit Ukrainer*innen an. Doch während die Zahlen der Geflüchteten anfangs noch gewaltig waren, haben sie sich mittlerweile mehr als halbiert. Der Grund ist jedoch nicht, dass weniger fliehen. Was genau dahinter steckt und wie es ist, bei der Ankunft zu arbeiten, hat Victoria unserem Reporter Jan Wöller im Interview erzählt.
Das war die politikorange-Redaktion. Von links: Jan Wöller, Athena Riegel, Arne Seyffert, Jasper Erchinger, Moritz Heck, Elisabeth Sacharov, Johanna Waszawa, Jacqueline Scholtes. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V. / Moritz Heck
Blau und Gelb, überall. Seit der Ukraine-Krieg ausgebrochen ist, sind die beiden Grundfarben so präsent wie noch nie. Als Zeichen für Solidarität hängten viele öffentliche und privaten Gebäude die ukrainische Flagge auf. Bei den Ukrainer*innen stieß das auf Begeisterung. Die Farben, die schon immer Freiheit und Frieden symbolisierten berühren die Geflüchteten. Was sie mit ihren Nationalfarben verbinden, hat Elisabeth Sacharov herausgefunden.
Neben Nachrichten von Krieg, Gewalt und Tod ist es besonders erfrischend von diesem Ort zu erfahren: Das Café Ukraine in Berlin Mitte. Hier kommen Ukrainer*innen, Deutsche und Kasach*innen zusammen, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Neben kleinen Figuren und traditionellem Essen gibt es hier Raum für Gespräche. Mit Live-Musik und frischen Kuchen treffen sich die Menschen jeden Donnerstag kostenlos. Doch solche Projekte gibt es nicht ohne ein paar engagierte Menschen. Welche liebevollen Seelen hinter dem Café stecken hat sich Arne Seyfert angeschaut.
Ohne große Unterstützung ist auch ein Projekt wie politikorange nicht möglich. Mit passenden Fotos hat uns Fotojournalist Moritz Heck ausgestattet. Support bei Transkripten und Organisation lieferte Jasper Erchinger.
Victoria hat im letzten Jahr am Berliner Hauptbahnhof gearbeitet. Im Interview erzählt sie, was sich seitdem verändert hat und warum plötzlich nur noch halb so viele Geflüchtete ankamen.
Seit April 2022 hilft die Ukrainerin, Victoria, den Geflüchteten am Berliner Hauptbahnhof als Übersetzerin. Foto: Jugendpresse Deutschland/ Moritz Heck
Wie hat deine Arbeit am Hauptbahnhof angefangen? Ich bin kurz nach Ausbruch des Krieges aus Czernowitz im Westen der Ukraine nach Deutschland gereist. Kurz zuvor hatte ich noch meinen Geburtstag gefeiert und alles war gut. Wir hatten zwar gehört, dass es Krieg geben soll, aber niemand dachte, es würde wirklich passieren. Dann ist es doch passiert und ich bin losgefahren. Das war ein, zwei Tage nach Kriegsbeginn. Am Anfang konnte ich das alles gar nicht realisieren. Es hat sich so unecht angefühlt. In Deutschland bin ich bei meinen Verwandten untergekommen. Wir haben jeden Tag Nachrichten gesehen. Dann wurde es immer realer und wir haben alle geweint. Damals dachten wir noch, es würde nach einem Monat aufhören. Aber das tat es nicht. Deshalb habe ich im April als Freiwillige am Hauptbahnhof angefangen.
Was genau hast du dort gemacht? Wir haben Ukrainern auf der Flucht Gratis-Tickets ausgestellt, mit denen sie weiterreisen konnten. Früher gab es Tickets für Fahrten außerhalb Deutschlands. Jetzt sind die Tickets nur für Inlandsfahrten. Außerdem haben wir die beraten, die nicht wussten, wo sie hin sollten. Wir haben sie zum Flüchtlingszentrum nach Tegel geschickt. Wenn es noch Plätze gab, konnte sie dort ein paar Tage unterkommen und es wurde überlegt, wie es für sie weitergeht. Waren keine Plätze mehr frei, wurden sie einem anderen Ort zugewiesen. Das läuft auch heute noch so.
Machst du das immer noch? Nein, ich habe nach ein paar Wochen eine Stellenausschreibung bei der Deutschen Bahn im Reisezentrum als Übersetzerin gesehen. Da ich deutsch spreche, habe ich mich beworben und gleich am nächsten Tag angefangen. Zunächst war mein Vertrag auf einen Monat befristet und ich dachte wirklich, dass danach alles vorbei wäre. Ich hatte sogar Flugtickets nach Italien. Aber ich hab mich geirrt. Jetzt bin ich schon fast ein Jahr hier. Ich habe dann irgendwann eine Umschulung zur Reiseberaterin gemacht. So konnte ich vor Ort bleiben und den Ukrainern hier helfen.
Wie hat sich die Situation am Berliner Hauptbahnhof seit April verändert? Als ich im April angefangen habe, kamen täglich drei oder vier Züge, in jedem davon über 700 Menschen. Die Schlange am Reisezentrum war riesig und die Ausgabe der Tickets musste sehr schnell gehen. Und obwohl es früher noch viel mehr Helfer gab, haben wir keine Pausen gemacht. Von einem Tag auf den anderen kamen dann nur noch halb so viele Geflüchtete. Jetzt geben wir durchschnittlich vierzig Tickets pro Tag raus. Mal mehr, mal weniger. Nicht, weil weniger Menschen fliehen, sondern weil sie in Polen keine Gratis-Tickets mehr nach Deutschland bekommen. Viele bleiben dort, weil die Tickets so teuer sind. Aber sie bekommen in Polen nur wenig Geld und finden oft keine Arbeit. Deshalb kommen heute viele an, die ein halbes Jahr in Polen gelebt haben und es jetzt in Deutschland probieren wollen. Mittlerweile sind das die meisten.
Schilder leiten die ankommenden Ukrainer durch den verwinkelten Hauptbahnhof zum Ankunftszentrum. Foto: Jugendpresse Deutschland/ Moritz Heck
Was für Menschen kommen hier an? Meistens sind es Familien, Mütter mit Kindern. Väter und Männer im Allgemeinen kommen deutlich seltener. Männer dürfen ja nur in Ausnahmefällen das Land verlassen, beispielsweise wenn sie mehr als drei Kinder haben, schwerbehindert sind oder als Soldaten Ausgang haben. Das ist selten, kommt aber vor. Ich bin immer beeindruckt, wie stark und furchtlos die Soldaten wirken. Als ich das erste Mal alleine Schicht hatte, habe ich eine Gruppe betrunkener Soldaten getroffen, die zurück an die Front wollten. Trotz der harten Situation waren sie sehr ausgelassen, weil sie wussten, dass sie für einen guten Zweck kämpfen.
Wie ist die Stimmung der Menschen, die hier ankommen? Die Stimmung hat sich sehr verändert. Früher haben die Menschen ihre Geschichten erzählt. Niemand hat geweint. Wenn ich mich ein bisschen mit den Menschen unterhalten habe, haben sie erzählt, was sie durchgemacht haben. Es war sehr hart, all die Geschichten zu hören. Alle sind sehr stark und freuen sich, hier andere ukrainische Menschen zu treffen.
Haben die Menschen, die hier ankommen, irgendwelche Wünsche? Sie erwarten nichts. Die meisten sind einfach nur dankbar, dass wir da sind. Denn in vielen anderen Städten gibt es keine Freiwilligen mehr. Am Anfang war das noch ein wenig anders: Das Flüchtlingszentrum in Polen war nicht so ausgebaut wie das in Deutschland. Umgekehrt haben sie in Polen warmes Essen bekommen und hier gab es Stullen. Solche Kleinigkeiten eben.
Gab es auch Probleme bei der Ankunft? Früher, als noch viel mehr Geflüchtete ankamen, gab es eine Extra-Schlange für die Ukrainer. Das hat manchmal zu Konflikten geführt. Einige Deutsche waren nicht glücklich, dass die Ukrainer eine Sonderbehandlung bekommen haben. Diese Menschen gibt es leider immer noch. Es werden auch viele Vergleiche mit den syrischen Flüchtlingen gemacht. Viele haben nicht verstanden, warum die Syrer nichts bekommen haben und die Ukrainer so viel. Sie fanden es unfair.
Du hast gesagt, es kommen immer noch Freiwillige her, um zu helfen. Wie ist die Stimmung unter ihnen? Am Anfang hat man sie noch sehr unterstützt. Jetzt wird ihnen sogar der Container weggenommen. Es wird gesagt, dass kaum noch Ukrainer ankommen, aber das stimmt nicht. Doch ist die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen sehr schön. Manche kommen immer noch jeden Tag. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich eine sehr feindliche Meinung gegenüber russischen Menschen. Aber es gibt auch russische Freiwillige, die jeden Tag herkommen und helfen. Dadurch hat sich meine Meinung geändert. Ich bin ihnen für ihre Hilfe sehr dankbar.
Wie reagieren die ankommenden Ukrainer*innen auf die russischen Freiwilligen? Die Mehrheit reagiert sehr positiv. Viele Ukrainer haben Russisch als Muttersprache. Andere weigern sich, mit ihnen zu sprechen, und wenden sich lieber an ukrainischsprachige Freiwillige.
Wie blicken die Ukrainer*innen auf die Zukunft? Wir werden den Krieg gewinnen. Wir müssen einfach. Wir haben keine andere Wahl. Aber dafür brauchen wir Waffen. Wir sind Deutschland sehr dankbar für die Unterstützung. Alles, was wir uns wünschen, ist, dass wir die Waffen bekommen, um die wir bitten. Nur so können wir uns alle verteidigen.