Schlagwort: Kultur

“Den Osten” gibt es nicht 

Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung sprechen Menschen noch von “Ostdeutschland” – jedoch nie von “Westdeutschland”. Zeit, solche Schubladen und Stereotype hinter sich zu lassen.  

Das Thema des angebotenen Workshops auf den JugendPolitikTagen (Foto: Jugendpresse Deutschland/Caroline Sauter)

Niemand kann leugnen, dass es strukturelle Ungleichheiten gibt, die auch 35 Jahre nach der Wende präsent sind. Sei es zum Beispiel die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen oder die Lohnungleichheit im Vergleich zu westdeutschen Bundesländern.  

Doch allein aus einer strukturellen Ungleichheit abzuleiten, dass „der Osten“ zurückgeblieben sei, ist schlichtweg zu kurz gedacht. Tiefe Gräben liegen zwischen dem, was manche über „Ostdeutschland“ glauben zu wissen und dem, was wirklich ist.  

„Mehr über den Osten erfahren wollen”: Das war die Motivation einiger, an dem Workshop “Jung und ostdeutsch” auf den JugendPolitikTagen teilzunehmen. Viele Teilnehmer*innen schilderten den Eindruck, dass sie nur deshalb so wenig über „den Osten“ wissen, da in den Bundesländern der früheren BRD kein Interesse an den Neuen Ländern bestand. Und dadurch, dass in westdeutschen Haushalten kaum über den „anderen“ Teil Deutschlands gesprochen wird, entsteht eine Wissenslücke bei der Nachwende-Generation. Diese Lücke schafft den Raum für die Entwicklung und Verfestigung von Stereotypen. Ostdeutschland als Region wird dadurch konsequent unterschätzt. So findet eine Teilnehmerin aus Frankfurt am Main zum Beispiel, der ÖPNV im Osten sei unzureichend ausgebaut und die Infrastruktur schlecht. Allerdings fahren zum Beispiel in Leipzig Bus und Bahn genauso regelmäßig wie in Frankfurt, nämlich im 10-Minuten-Takt. Dass Leipzig dabei nicht stellvertretend für fünf Bundesländer steht, dürfte wohl klar sein. Das Stadt-Land-Gefälle zum Beispiel im Fall des öffentlichen Nahverkehrs ist allerdings kein „ostdeutsches” Problem, sondern findet sich bundesweit wieder. Zu behaupten, „der Osten” sei infrastrukturell und strukturschwach, ist zu kurz gegriffen und oberflächlich.  

Doch was ist „der Osten“ überhaupt? Bei den fünf Bundesländern handelt es sich keinesfalls um einen einzelnen homogenen Block, in dem die Menschen sich klar von den Menschen im heterogenen „Westen“ unterscheiden. Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern identifizieren sich häufig als norddeutsch – ebenso wie Hamburger*innen. Was haben die Leute von der Ostsee mit den Bewohnern des Erzgebirges gemeinsam? Zumindest nicht mehr als mit denen der Nordsee. 

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Zappeln, strampeln, schuften – vergeblich 

Michel Friedmans autobiographischer Roman „Fremd“ wurde im Berliner Ensemble als Lesung inszeniert, bei der Sibel Kekilli dem Text Stimme und Gesicht lieh. Eine Rezension.  

Schauspielerin Sibel Kekilli bei der Lesung von ”Fremd” im Berliner Ensemble. Foto: Jugendpresse Deutschland/Lisa Schmachtenberger

Wenn wir über Erinnerungskultur sprechen, geht es meist um die unmittelbare Zeit der Verfolgung, des Leids und des Holocausts. Aber wie ging es für die Menschen, die diese Zeit überlebt haben, weiter? Die traumatisiert und ohne Eigentum zurück in ihre alte Heimat kamen, aus der man sie vertreiben hat – und die sich nun ein neues Leben aufbauen mussten, in einer Zeit, in der Großteil nicht über die Verbrechen der NS-Zeit sprechen wollte? 

Michel Friedman wird 1956 in Paris geboren, als staatenloser Sohn zweier Holocaustüberlebender „Lebenstrauriger“, die aus Polen stammten. Später zieht die Familie nach Deutschland, die Großmutter bleibt in Paris, weigert sich, im Land der Mörder zu leben. Doch nur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ist für die heimatlose Familie kein Platz im Land der Täter: Während die Eltern Friedmans in Deutschland nach einer Heimat suchen, traumatisiert vom Getto und vom Holocaust, wächst zwischen Angst und Trauer ein Kind auf. Das Kind, das es einmal besser haben soll, das auf keinen Fall krank werden oder verletzt werden darf, das zum Leben, zum Überleben bestimmt ist.   

„Die Angst ist mein Lebensgefährte“, schreibt Friedman in seinem autobiographischen Roman „Fremd“ (2023). Er wird sozialisiert in einer Gesellschaft, die keine Überlebenden und die Auseinandersetzung mit ihnen will. Die von ihm verlangt, mitzulaufen und zu funktionieren, und ihn trotz späterer Einbürgerung und Spitzenleistungen in Schule und Studium immer als „den Fremden“ betrachten wird. Als „Ich im Transit“ bezeichnet er die Suche nach sich selbst – eine Suche, die ihn zu einem der bekanntesten Publizisten des Landes macht, zum späteren Publizisten und Talkmaster, zum Mitglied im CDU-Bundesvorstand, stellvertretenden Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Jüdischen Allgemeinen.  

politikorange-Autorinnen (v.l.n.r.) Lotta Berendes-Pätz, Lisa Schmachtenberger und Hannah Engel bei der Aufführung von “Fremd” im Berliner Ensemble. Foto: Jugendpresse Deutschland/Lisa Schmachtenberger 

Im Berliner Ensemble wurde Friedmans Buch nun als Lesung unter der Regie von Max Lindemann inszeniert. Sibel Kekilli, national und international bekannt durch „Gegen die Wand“ und „Game of Thrones“, gibt dabei ihr Theaterdebüt. Die Schauspielerin füllt die Worte Friedmans mit Leben und personalisiert sie: Während der Lesung wird Kekilli von einer Kamera gefilmt, ihr Gesicht dabei an eine Leinwand projiziert. Sie spielt mit dem Lauten und dem Leisen, der Kraftlosigkeit und der Stärke in ihrer Stimme. Jedes Stirnrunzeln, jedes Augenbrauenzucken und jedes Kräuseln ihres Mundes prangt vor dem Publikum, übersetzt Friedmans lyrischen Text in einen eindrücklichen Film. 

Sibel Kekillis Spiel lässt die Zuschauer das erahnen, was kaum nachzuvollziehen ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Wie es ist, belastet durch die Verantwortung der Geschichte  „auf einem Friedhof geboren“ zu sein, andauernd „nicht ausreichend“ zu sein, zu „zappeln, strampeln, schuften, um nicht ein Fremder zu sein“. Was davon bleibt ist ein eindrucksvoller Einblick in eine Welt der Zerrissenheit und Fragilität und ein Mahnmal für den künftigen Umgang mit der Erinnerungskultur.  

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Das HKW– ein Ort des Gedankenaustauschs

Die diesjährigen Jugendpolitiktage haben begonnen und das nicht an irgendeinem Ort. Aber wo genau befinden wir uns eigentlich?

Das Haus der Kulturen der Welt. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck

„Im Haus der Kulturen der Welt werden verloren gegangene Sachen akzentuiert. Sie werden geehrt und bekommen wieder an Bedeutung.“ Mit diesen Worten begrüßt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Intendant des Hauses, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen JugendPolitikTage (JPT). In Berlin, dem politischen Zentrum Deutschlands, hätte eine Veranstaltung wie diese in allerlei Gebäuden stattfinden können. Dass also genau das Haus der Kulturen der Welt (HKW) ausgewählt wurde, kann kein Zufall sein.

Intendant Bonaventure Soh Bejeng Ndikung bei der Eröffnung der JPT23. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck

Das HKW ist geprägt von einer langen Geschichte. Als Deutschland, und somit auch Berlin, noch in Ost- und Westgebiete geteilt waren – keine*r der Teilnehmenden wird es selbst erlebt haben – lag das Grundstück im Westen. Die Kongresshalle sollte ein „Leuchtfeuer der Freiheit, das seine Strahlen nach Osten sendet“ sein, verkündete die US-Diplomatin Eleanor Dulles bei der Grundsteinlegung 1956. Ein Geschenk der Amerikaner, ein Symbol der deutsch-amerikanischen Allianz.

Die Freiheit des Westens, beflügelt durch das geschwungene Dach. Eine architektonische Besonderheit von der sich Bürger*innen und Journalist*innen wenig beeindruckt zeigten. Vielmehr ähnele das Gebäude einer aufgeklappten Muschel, so wurde die Kongresshalle im Volksmunde dann auf den Namen „schwangeren Auster“ getauft.

Allzu lange hielt sich die Auster allerdings nicht: 1980 stürzte ein Teil des Daches ein. Ob das Gebäude überhaupt erneut aufgebaut werden soll, wurde lange diskutiert. Doch die geschichtliche und politische Bedeutung überwog, 1989 wurde das Gebäude wiedereröffnet. Diesmal aber nicht als Kongresshalle, sondern als Haus der Kulturen der Welt. Von nun an ein Ausstellungsort für internationale Künste und ein Forum für aktuelle Entwicklungen und Diskurse.

Einen passenderen Ort für die JugendPolitikTage gibt es wohl kaum: Junge Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen kommen zusammen. Sie besprechen Ideen und Konzepte, arbeiten an einer gemeinsamen Zukunft und legen dabei eigene Schwerpunkte. Sie machen aufmerksam auf von der Politik Vergessenes, sie akzentuieren es, um es mit den Worten des Intendanten Ndikung zu sagen. Die JugendPolitikTage, eine Veranstaltung, bei der Neues entsteht – im Haus der Kulturen der Welt, einem Ort, der diesem Neuen Raum gibt.

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