Im Workshop „Über den Osten berichten, aber richtig!“ haben Teilnehmer*innen der JugendPolitikTage nach typischen Klischees der Medien gesucht. Was sie über den richtigen Weg gelernt haben.
Die ersten Begriffe, die den Teilnehmer*innen zum Osten einfallen, sind negativ. (Foto: Jugendpresse Deutschland/Caroline Sauter)
Im Workshop “Über den Osten berichten, aber richtig!” erarbeiten die Teilnehmer*innen auf den JugendPolitikTagen Lösungen für eine bessere Berichterstattung aus und über dem Osten. Die jungen Menschen sammeln Begriffe, die sie mit der Berichterstattung über den Osten verbinden: „abgehängt“, „arbeitslos“ und „rechtsextrem“. In Bezug auf Westdeutschland fallen deutlich positivere Begriffe, wie „innovativ“, „Wirtschaftswunder“ und „Vielfalt“.
Eine einseitige Perspektive auf den Osten
Ein Experiment zeigt: In den Medien wird oft indirekt, kritisch und aus westdeutscher Perspektive über den Osten berichtet. „Sie vermitteln das Bild einer Mehrheitsgesellschaft im Westen. Der Osten muss dabei immer nur aufholen“, erklärt Workshopleiter Dennis Chiponda. Dieses Bild ist den Teilnehmer*innen zu einseitig. „Es geht immer nur um Rechtsextremismus. Die Menschen sollten mal nach Ostdeutschland kommen und die andere Seite kennenlernen“, sagt eine Teilnehmerin, die selbst aus Ostdeutschland kommt.
Eine Umfrage des MDR zeigt, dass die Teilnehmer*innen mit ihren Einschätzungen nicht alleine sind: 56 Prozent der Ostdeutschen finden die Berichterstattung voreingenommen. Reißerische Adjektive und der Fokus auf Extreme prägen das Bild. Wörter wie übergriffig, rechtsextrem und völkisch sind in Artikeln, die Ostdeutschland thematisieren, überrepräsentiert. Gleichzeitig fehlen positive Geschichten über Start-ups, Kultur und den Alltag. „Ich denke, der Osten würde sich nicht so darstellen“, meint ein Teilnehmer und bekommt dafür Zustimmung.
Perspektive als Gegenmittel
Im Workshop überlegen die Teilnehmer*innen, wie die Berichterstattung über den Osten fairer gestaltet werden kann. Ihre Ideen: Redaktionen diverser besetzen, lokale Journalist*innen einbinden, nicht nur zu Gedenktagen berichten. Und: Sprache überdenken. Statt „abgehängt“ lieber „im Wandel“. Statt „Problemregion“ lieber „Raum mit Potenzial“. Dieser kleine Schritt wirft ein neues Licht auf dieselbe Situation. Doch das alles sind nur einzelne Schritte. Was sich ändern muss, ist die Haltung und Einstellung der Menschen. „Man sollte öfter auf das Verbindende schauen“, findet Chiponda.
Das Fazit des Workshops: Der Osten ist keine Problemzone und er muss sich nicht anpassen. Er ist Teil Deutschlands – mit Chancen, Konflikten und Projekten. Er ist vielfältig. Und jede*r kann dazu beitragen, das auch medial abzubilden.
Wir schreiben das Jahr 2000: Reality-Formate erleben in den USA, dem Ursprungsland von Real Life Soaps, einen Boom und auch in Deutschland sorgt nun „Big Brother“ für Aufmerksamkeit. RTL 2 (heute: RTLZWEI), Produktionsfirma der ersten Staffel, kündigt diese damals schon als „alles andere als korrekt“ an. Diskussionen über die Menschenwürde sorgen schon vor der Ausstrahlung für Aufsehen. Denn das neue Format, bei dem Personen ständig von Kameras umgeben sein sollen, wird eine Revolution des Fernsehens einläuten.
Inzwischen Retro? 2000 lief in Deutschland die erste Staffel von Big Brother. Foto: Aleks Dorohovich (Unsplash).
Von Tradition zu Trash
Auf Grund der Einführung des dualen Systems in der BRD, wodurch privat-kommerzieller dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gleichgesetzt wird, erhalten private Fernsehsender, welche keinen festen Programmauftrag verfolgen müssen, mehr Aufmerksamkeit. Kandidat*innen dieser Reality-Shows sollen hierbei einer zugewiesenen Biografie entsprechen, was auch von Seiten der Redaktion festgelegt wird. Bereits in der ersten Staffel von Big Brother werden so Kandidat*innen als „Machosingle“ präsentiert und auch noch 2020 hat sich an dieser Art der Sexualisierung nichts geändert. Im Jahr 2000 läuten Reality-Shows den Wandel einer Gesellschaft ein, welche geprägt ist von traditionellen Lebensformen und nach persönlicher Identität und eigener Entscheidung sucht. Nach dem Soziologen Michael Hainz ist dieser Vorgang durch die Individualisierung der Menschen und die folgende Ausstrahlung und Präsentation des Privatlebens nach außen zu begründen. Ulrich M.Schmitz, Psychologe in der ersten Staffel, nennt das neue Zeitalter bereits 2001 ein Zeitalter der Grenzüberschreitung, welches durch die neue Verbindung durch das Internet ermöglicht wird. Big Brother integriert bereits zu Anfang die Zuschauer*innen und entwickelt das Einbeziehen des Publikums bis heute immer weiter, wodurch es den Zuschauer*innen ermöglicht wird, Entscheidungen durch das Internet für die Kandidat*innen zu treffen und auch auf Streaming-Formaten die Sendung zu verfolgen.
Von Kritik zu Interessenverlust
Die Show erreicht 2000 einen durchschnittlichen Marktanteil von 20% der 14- bis 49-Jährigen Doch diese Zahl nimmt stetig ab. Bereits in der dritten Staffel eröffnet sich eine große Breite an Big Brother-ähnlichen Formaten, welche Zuschauer*innen den Überblick verlieren und die Quoten einstürzen lässt. Die Kritik ist zahlreich und sorgt auch dafür, dass 20 Jahre später der Marktanteil in der jungen Zielgruppe nur noch bei etwa zwei Prozent liegt. Und dennoch: Die Zielgruppe der Show bleibt über die Jahre gleich. Unklar bleibt jedoch auch nach Jahren der Entwicklung, wie viel Teilnehmer*innen der Reality Formate über die anstehenden Aufgaben und Risiken wissen und welche Einschränkungen mit der aktiven Entscheidung des Einzuges verbunden sind. Privatsphäre würde, bestätigen Interne, ermöglicht werden, doch Toiletten-Szenen aus den Anfangsjahren und eine noch heute andauernde Überwachung auf der Toilette, welche für Sicherheit sorgen solle, stellt hierzu ein Gegengewicht dar und veranlasst auch die Landesmedienanstalten in 2000 dazu, ein Ausstrahlungsverbot erreichen zu wollen.
Heute wird nur noch selten über die Risiken und Einschränkungen diskutiert, denn seit 2000 erweitert sich das Angebot- und Streaming-Dienste gewinnen an Reichweite. Außerdem entwickelt sich das Interesse der Zuschauer*innen hinzu Shows mit Prominenten-, sowie Dating-Shows, wie es auch eine Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2023 zeigt. Während sich für die zweite Staffel noch 70.000 Interessierte bewerben, sind es davon in 2024 nur noch ein Fünftel. So wurde nach 2011 der Dreh von Big Brother eingestellt und bis 2020 nicht mehr fortgeführt.
Während dieser Zeit nimmt der ebenfalls privat-kommerzielle Sender Sat.1 den Dreh der Promi-Version von Big Brother auf, welcher eine auffällig hohe Quote erreicht. Diese folgt nun nicht mehr dem Prinzip, dass unbekannte Menschen unvoreingenommen ihren Alltag präsentieren, was nach der Soziologin Angela Keppler1 das Prinzip von Real-Life-Soaps sei. Der aktuelle Wunsch nach Diversität in Reality-Shows besteht und bereits im Jahr 2000 wird bei Big Brother auf individuelle Charaktere geachtet. Auch der Executive Director Rainer Laux wünscht sich für 2024 Menschen, welche normalerweise nicht abgebildet werden, unabhängig von Alter und Beruf. Warum Sat.1 sich entschieden hat, erneut Prominente zu wählen und damit rückläufig hinsichtlich Diversität arbeitet, liegt wahrscheinlich an dem Interesse der Zuschauer*innen.
Von Erfolg zu Langeweile
2024, nach jahrelangen Unsicherheiten wer Big Brother ausstrahlt, läuft die Reality-Life-Soap heute fast nur noch auf dem Anbieter „Joyn Plus“. Für die ständige Liveübertragung muss hier ebenso bezahlt werden, wie bereits schon für die fünfte Staffel. Für die aktuelle Staffel gibt es auf X viel Kritik. Es wird darüber diskutiert, warum die Teilnehmer*innen in die gleiche Unterkunft ziehen, wie die vorherigen Promi Big Brother Teilnehmer*innen. Weitere Kritik sind mangelnde Abwechslung und empfundene Langeweile beim Schauen der Livestreams. Sat.1 wird in dem Zuge vorgeworfen, dass es kein Interesse an Big Brother hätte.
Das Ergebnis, dass die Einzugsshow der Promi Version eine mit 1,73 Millionen etwa 700.000 Menschen mehr eingeschaltet haben, als zur nicht-Promi Version, spiegelt die Interessen der Zuschauer*innen wieder und somit auch die der Produzent*innen. In einem Gespräch mit einem Psychologen, welcher die Kandidat*innen der ersten Staffel betreute, spricht dieser im Spiegel über die verfliegende Faszination des Alltagslebens. Schmitz gibt an, dass Produzent*innen einen gewissen Druck hätten, etwas Neues zu machen, wenn die Faszination nicht mehr da ist, was sicherlich auch als ausschlaggebender Punkt für den Drehstart von Promi Big Brother gilt. Jene Ergebnisse zeigen auf, dass die Entwicklung von Reality-TV abhängig ist von Interessen der Zuschauer*innen und somit nicht direkt als positiv oder negativ dargestellt werden kann, da diese Shows stückweise unsere Gesellschaft widerspiegeln und Produzent*innen auf Änderungen dieser reagieren.
Ex-”Princess Charming” Finalistin Nina Burkhardt spricht im Interview über die Darstellung von Alkoholkonsum im Reality-TV und darüber, wie normalisiert die Volksdroge in unserer Gesellschaft ist.
Oft wird Alkohol als Symbol für Spaß und gute Laune genutzt. Foto: Wells Baum / Unsplash
Die Korken knallen und die Champagnergläser klirren. Der scheinbar grenzenlose Alkoholkonsum in Reality-TV-Formaten sorgt oft für große Schlagzeilen und wird heiß diskutiert. Doch wie viel davon entspricht der Realität? Um einen Blick hinter die funkelnden Kulissen zu bekommen, durfte ich Nina Burkhardt interviewen, die 2023 Kandidatin in der queeren Dating-Show „Princess Charming“ war und es bis ins Finale geschafft hat.
Nina, kommen wir direkt zum wichtigsten Punkt: Wie viel Alkohol wurde am Set von „Princess Charming“ Staffel 3 wirklich getrunken?
Nina: Also zu allererst: ich habe mich gewundert, als ich die Sendung im Nachhinein gesehen habe, weil es im Zusammenschnitt wirklich so aussah, als ob wir die ganze Zeit saufen.
Aber es war wirklich nicht so – es war im Schnitt ein Glas Sekt und eine Dose Bier für Jede da. Je weniger wir wurden, desto mehr Alkohol gab es natürlich für die, die noch übrig waren, weil sich die „Masse“ an Getränken nicht geändert hat. Aber es blieb immer sehr überschaubar.
Du meintest vor unserem Gespräch, dass es in vorherigen Staffeln von „Princess Charming“ trotzdem mehr Alkohol gab als in deiner Staffel? Woran liegt dieser Wandel?
Nina: Ich glaube, dass die Produktion was gelernt hat. Mit Leuten, die ultra hart betrunken sind, kannst du auch nicht mehr arbeiten. Und im Endeffekt ist es eine Arbeit, die da gemacht wird – sie sind da, um eine Sendung zu produzieren. Und wenn jemand gar nicht mehr geradeaus laufen kann und nur noch „reiert“, will das ja auch niemand sehen.
Gerade jetzt, wo viele Produktionen in einem ganz anderen Klima als in Deutschland produzieren, muss darauf geachtet werden, wie Alkohol auf die Teilnehmerinnen wirkt – da muss man vorsichtig sein.
Mich überrascht das total, weil ich mir gerade bei einem Dating-Format vorgestellt habe, dass die Produktion sagt: „Wir geben denen ganz viel Alkohol, damit Drama und Spiciness entsteht“. Warst du vor Ort überrascht als du gesehen hast, dass kaum Alkohol da war?
Nina: Mir war das ein bisschen egal. Ich wusste von vornherein, dass ich nicht trinken werde. Ich wollte selbst, dass ich immer genug da bin, um zu wissen, was ich von mir gebe. Und weil ich von vornherein Angst vor dem Schnitt hatte und nicht wusste, was die machen, wollte ich wenigstens so viel Kontrolle wie möglich haben. Und Alkohol hätte einen schon ein bisschen verändert.
Und ich glaube in einem Dating-Format steht allgemein etwas anderes im Vordergrund. Es geht vor allem darum, dass man sich, in unserem Fall vor der Princess, gut darstellen will. Es gibt ja aber auch andere Formate, wie zum Beispiel „Germany Shore“, wo das Konzept ein ganz anderes ist: Es ist ein Partyformat, es gibt Exzesse und Abstürze und zwischendrin ein paar Spiele, aber das war’s. Und dass da mehr Alkohol fließt, ist, glaube ich, von vornherein klar.
Bestimmt hat das aber auch viel mit Geld zu tun. Man kennt aus vielen anderen Formaten, dass es einen bestimmten Alkoholsponsor gibt. Und bei uns gab es den halt nicht. Vielleicht liegt es dann auch daran.
Aber wie stehst du dann dazu, dass es durch den Schnitt im Endeffekt so dargestellt worden ist, dass das Publikum dachte: “Hier ist viel Alkohol im Spiel“?
Nina Burkhardt stand 2023 bei Princess Charming im Finale. Foto: Nina Burkhardt.
Ich glaube, das ist gar nicht so ein bewusster, alkoholverherrlichender Schnitt, sondern ich habe eher das Gefühl, dass es ein gesellschaftliches Problem mit Alkoholkonsum gibt. Alkohol wird sehr viel mit Spaß haben gleichgesetzt. So sind wir sozialisiert und so haben wir und die Leute, die die Shows und den Schnitt machen, das auch internalisiert.
Nach außen möchte dem Publikum eine gewisse Art an Ausgelassenheit zwischen den Teilnehmerinnen gezeigt werden. Und dazu gehört vor allem für unsere deutsche Gesellschaft Alkohol. Ich glaube, das ist eher das Problem.
Würdest du dir wünschen, dass zukünftige, ähnliche Reality-TV-Formate den Alkoholkonsum komplett unterbinden und das auch transparent nach außen kommunizieren? Gerade im Hinblick auf eine gewisse Verantwortung gegenüber jüngeren Zuschauer*innen.
Nina: Also generell bin ich für Transparenz. Immer. Ich glaube nur, dass es der Show nicht gut-tun würde, weil die meisten Menschen, die sowas gucken und die, die mitmachen, auch das Konzept von Alkoholkonsum in sich tragen. Und bei solchen Formaten geht es immer um die Masse: Was denkt die Masse und was kommt bei der Masse gut an?
Also glaubst du, es würde so „ganz ohne“ gar nicht funktionieren?
Nina: Ich glaube, es würde nicht funktionieren. Das habe ich ja auch gemerkt als wir gedreht haben. Viele der Teilnehmerinnen sind mit der Erwartung reingegangen: „Ey, zwei Wochen einfach ein bisschen die Sau rauslassen und Party hart“ – und das heißt Alkohol konsumieren. Der Wunsch nach mehr Alkohol war immer da und auch der erste Stichpunkt jeder Einkaufsliste.
Du kannst die Villa ja auch nicht verlassen; was machst du dann den ganzen Tag? Du frühstückst, gehst schwimmen und irgendwann chillst du am Pool und möchtest dir vielleicht den ersten Drink gönnen. Man hat keine Verpflichtungen und da verstehe ich den Wunsch von Vielen, das auszunutzen und nicht darüber nachzudenken, was in den nächsten Stunden oder Tagen ansteht. Alkohol kann natürlich auch Spaß machen, aber es kommt immer auf das Maß an!
Genau, es kommt immer auf einen verantwortungsvollen Umgang an. Und wenn es nicht ganz ohne Alkoholkonsum geht, dann sollte doch wenigstens eine Art Kompetenz vermittelt werden, oder?
Nina: Ja, aber das wäre leider konträr zum Entertainment. Und je länger Reality-TV-Formate existieren, desto mehr muss passieren und desto extremer muss vielleicht der Entertainmentgrat werden. Wünschen würde ich mir das natürlich total. Gerade weil solche Formate auch eine gewisse Vorbildfunktion haben sollten. Und klar wäre es dann wichtig einen bewussteren Umgang mit Alkohol oder generell mit anderen Dingen, wie zum Beispiel Konsens, zu thematisieren. Aber am Ende des Tages ist es einfach „nur“ Reality-TV mit einem hohen Entertainmentfaktor und vielleicht muss diese Aufklärungsarbeit vermehrt woanders stattfinden.
Arbeiten die Teilnehmer*innen für die Einschaltquoten des Senders? Oder arbeiten die Produzent*innen für die Karriere der Teilnehmer*innen? Vielleicht arbeiten auch die Produzent*innen für die Unterhaltung der Zuschauer*innen? Oder sind doch die Teilnehmer*innen für die Unterhaltung der Zuschauer*innen zuständig? Ein Kommentar über Gewissensfragen.
Was lauert hier im Gebüsch? Foto: Jugendpresse Deutschland e.V.
„Das geht ja mal gar nicht“
Auf der einen Seite kann man kritisieren, dass im RTL-Dschungelcamp Menschen vorgeführt werden. Die Teilnehmer*innen werden die ganze Zeit gefilmt, müssen sich vor den Zuschauer*innen beweisen und sich in den sogenannten „Dschungelprüfungen“ Sterne verdienen, um mehr Essen zu erhalten. In diesen Prüfungen sollen beispielsweise Tiere wie Maden, Kakerlaken oder Ratten für den gewissen „Ekelfaktor“ sorgen.
Wenn ein*e Teilnehmer*in gegen die Regeln der Produktion verstößt, sind Bestrafungen die Folge. Im diesjährigen Dschungelcamp wurden, einer Schätzung der Augsburger Allgemeinen nach, von der Produktion zwischen 15.000 und weit über 100.000 Euro pro Teilnahme ausgegeben. Die Gagen hängen von der Bekanntheit der teilnehmenden Person ab, obwohl sich alle Teilnehmer*innen denselben Herausforderungen stellen.
Meiner Ansicht nach ist es kritisierbar, dass man Menschen bezahlt, damit sie würdelose Dinge vor ganz Deutschland tun. Dies dient dann der Unterhaltung und Belustigung von Zuschauer*innen.
Entertainment pur?
Fakt ist aber, dass es wissenschaftlich erforschte Gründe gibt, warum viele Menschen Reality-TV-Formate schauen. Die Medienwissenschaftlerin Dr. Laura Sūna von der Universität Siegen berichtet aus ihrer Forschung, dass Menschen, die regelmäßig solche Sendungen schauen, eine emphatisch-emotionale Bindung zu den Teilnehmer*innen entwickeln. Außerdem bilden diese Zuschauer*innen sogenannte „Emotionsgemeinschaften“. Damit ist gemeint, dass die Zuschauer*innen oft gemeinsam mit Freund*innen solche Sendungen schauen und sich über die Sendungen austauschen. Dabei lästern sie oft über die Teilnehmer*innen und grenzen sich dadurch von ihnen ab. Zu dieser Abgrenzung gehören Sätze wie: „Die nehmen da doch freiwillig teil“, „Die wissen doch worauf sie sich einlassen“ oder „Die bekommen doch Geld dafür, dass ich es mir anschaue. Also warum beschweren die sich?“
Einfach mal abschalten. Foto: Jan Vasek JESHOOTS.COM (Unsplash).
Die Sache mit dem Gewissen
Ich schaue selbst seit Jahren gerne „Ich bin ein Star holt mich hier raus“ und habe mir bisher nicht viele Gedanken über meinen Konsum gemacht. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich mehr mit ethischen und moralischen Fragen beschäftigt. Kritikpunkte wie der, dass Menschen für Geld vorgeführt werden, kann ich nachvollziehen. Allerdings spricht der Erfolg des Dschungelcamps für sich. Beispielsweise sahen laut Rheinischer Post über fünf Millionen Menschen die Auftaktfolge der diesjährigen Staffel.
Für mich persönlich hat die Sendung einen „Lagerfeuer-Charakter“ (im doppelten Sinne), da es sich um nichts Weltbewegendes handelt und man sich sehr gut über solche Banalitäten am nächsten Morgen im Büro oder Hörsaal austauschen kann. Die Sendung dient dem Entertainment und man kann dabei super vom stressigen Alltag abschalten. Ich fühle mich nicht schlecht, wenn ich die Sendung schaue. Die Teilnehmer*innen haben freiwillig bei vollem Bewusstsein den Vertrag unterschrieben und verdienen sich eine goldene Nase. Viele Menschen in Deutschland träumen von so einem Gehalt. Entweder kommen Teilnehmer*innen aus kleineren Formaten und wollen die Chance nutzen, sich einem größeren Publikum zu präsentieren. Oder sie versuchen Jahre nach dem ersten Durchbruch wieder in die Öffentlichkeit zu treten.
Die Verantwortung liegt bei uns allen
Außerdem gibt es die Sendung bereits seit 2004, sodass beide Seiten (Zuschauer*innen und Teilnehmer*innen) wissen, was auf einen zukommt. Auch zu erwähnen ist, dass in so einem Format gesellschaftlich relevanten Themen eine Plattform gegeben werden kann. Beispielsweise sprach die Gewinnerin der diesjährigen Staffel, Lucy Diakovksa, im Camp über ihre Homosexualität. Meiner Meinung nach macht sie das zu einem Vorbild für viele Menschen. Außerdem finde ich, dass es einer der Mitgründe war, warum sie Dschungelkönigin wurde.
Aufgrund der genannten Gründe, finde ich es nicht verwerflich, wenn man das Dschungelcamp schaut. Klar ist, dass jede zuschauende Person es mit ihrem eigenen Gewissen selbst vereinbaren muss. Jeder (volljährige) Mensch ist für sein eigenes Handeln und Auftreten verantwortlich. Egal ob auf der Seite der Zuschauer*innen, der Teilnehmer*innen oder der Produzent*innen.
„Rooooobert“ plärrt Carmen über das Deck der Luxus-Jacht der Geissens und das schon seit 2011. Seitdem wurden 22 Staffeln über die „schrecklich glamouröse“ Familie gedreht; mittlerweile haben beide Töchter ihre eigene Show. Auch das „Dschungelcamp“ gibt es seit 20 Jahren und derzeit läuft die 19. Staffel „Germany’s next Topmodel“ beim Privatsender ProSieben . Trotz wachsender Kritik genießen die Unterhaltungsshows hohe Einschaltquoten. Ein Erfolgskonzept – aber woran liegt das?
Reality TV: einfache Unterhaltung zum Abschalten vom Alltag. Foto: Glenn Carstens-Peters (Unsplash).
Sendepause, aber nur für das Hirn
Zunächst einmal zeichnet sich das Format in seiner Einfachheit aus. Reality-TV ist eine wunderbare Ablenkung nach einem langen Arbeitstag. Es gibt keine komplexen Handlungsstränge, Konzentration ist nicht zwingend erforderlich. Einschalten, sich berieseln lassen und wenn man etwas verpasst, ist das auch kein Problem. Einfache Unterhaltung also, die gleichzeitig auch noch als Ego-Boost fungiert. Die Medienwissenschaftlerin Dr. Laura Sūna der Universität Siegen hat zu diesem Thema geforscht. Ihre Ergebnisse zeigen, dass das gemeinsame Schauen von Reality-TV Formaten Emotionsgemeinschaften schafft, die verschiedene Aspekte des Zuschauens beschreiben: freundschaftliche Zusammengehörigkeit, die Lästergemeinschaft oder das Fremdschämen.
(Anti)soziales Fernsehen
Laut Sūnas Ergebnisse kommt der Ego-Boost durch die Lästergemeinschaft zustande. Man setze sich von den Teilnehmer*innen der Reality-TV Formate ab, lästere über deren Erscheinungsbild und Intellekt oder verspotte deren Verhalten. Man erfreue sich daran, dass andere Menschen sich öffentlich zum Affen machen. Durch den Vergleich mit sich selbst und der sozialen Abgrenzung im Anschluss fühle man sich selbst klüger, besser, kultivierter. Ein Ego-Boost also, der von einem Gefühl der Überlegenheit gefüttert wird.
Neben der Lästergemeinschaft spielt auch die Freundesgemeinschaft eine Rolle. Reality-TV Formate werden oft in Gruppen konsumiert und fördern somit die Entstehung sozialer Bindungen, so Sūna. Das gemeinsame Schauen wird zu einem Ritual und einem Fernseherlebnis, das mit Freude, Gemütlichkeit und Geborgenheit verbunden ist. Der Austausch mit anderen Zuschauer*innen stärke dabei das Zugehörigkeitsgefühl. Dank Social Media kann dies auch über den Bekanntenkreis hinaus gehen. So werden Zuschauer*innen Teil von etwas Größerem – sie werden Teil der Gruppe der Popkulturfans. Dieser identitätsstiftende Gedanke lässt sich auch noch weiterspinnen. Reality-TV als Bestandteil der Popkultur kann Generationen prägen, erklärt die Forscherin im Gespräch mit der politikorange Jugendredaktion.
Gemeinschaftsfördernd
Ob in der Schule oder im Arbeitsumfeld, ob mit engen Kontakten oder lockeren Bekanntschaften, Reality-TV Formate sind ein ergiebiges Gesprächsthema. Selbst wenn man das jeweilige Format nicht exzessiv angeschaut hat und nur beim Durchzappen gelegentlich draufgestoßen ist, hat man doch oft schon etwas darüber gehört. Und sei es nur durch ein aus dem Kontext gerissenes Meme. Käsekönigin Susanne, Claudia Oberts Champagnervorliebe oder auch Heidis Phrase „Heute habe ich leider kein Foto für dich“ werden somit zu popkulturellen Referenzen. Zudem ist es sehr leicht seine Meinung zu diesen Formaten zu äußern, da sie, wie schon der Begriff „Trash TV“ ahnen lässt, negativ konnotiert sind. Kaum jemand wird sich also für die Qualität dieser Formate aussprechen. Dass sich die Meinungen in einer Gruppe ähnlich sozialisierter Menschen überschneiden, ist folglich relativ wahrscheinlich. Dementsprechend ist die Gefahr jemanden vor den Kopf zu stoßen begrenzt. Und da wären wir wieder bei der Lästergemeinschaft.
Reality-TV ist also ein gemeinschaftsförderndes Format, das reichlich Gesprächsstoff bietet. Sich austauschen, echauffieren und mit dem Finger auf andere zeigen, ohne jegliche Konsequenz, schweißt zusammen. Anders als bei einer fiktiven Geschichte geht es bei dem Format Reality-TV um reale Menschen mit vermeintlich echtem Verhalten und Reaktionen. Es ist ein nahbares Format, das zu einem direkten Vergleich mit dem eigenen Leben einlädt. Ein Alleinstellungsmerkmal des Reality-TVs, wie bereits der Name verrät. Als Erfolgskonzept scheint es sich bewährt zu haben, was die Zuschauer*innenzahlen beweisen.
Und so bleibt uns auch nächstes Jahr Heidis Model-Expertise nicht aus. Neben der 20. Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ ist für das Jubiläumsjahr sogar schon eine weitere Show mit Heidi Klum angekündigt worden. Auch das Jetset-Leben der Geissens zwischen Monaco, Saint-Tropez und Dubai geht weiter und kann in der aktuell ausgestrahlten 22. Staffel mitverfolgt werden.
Ist der progressive Wandel der Show wirklich glaubwürdig? Welche Beweggründe stecken hier dahinter? Unser Redakteur Jona blickt hinter die Fassade der augenscheinlich so vorbildlichen Kultsendung.
Heidi Klum. Foto: Glenn Francis (Wikimedia Commons). Toglenn, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
„Mir war es immer schon wichtig, so unterschiedliche Mädchen wie möglich die Chance zu geben, Germany’s next Topmodel‘ zu werden“, sagte Heidi Klum im Jahr 2021. Gut, Germany’s Next Topmodel vor zehn Jahren war wohl für einiges bekannt – Diversity gehörte nicht dazu. Im Vordergrund standen damals wie heute persönliche Geschichten, Konflikte zwischen Teilnehmer*innen und ja irgendwo auch das Modeln an sich. Moralische Überzeugungen mussten sich hierbei der Quote unterordnen. So wurde beispielsweise eine Teilnehmerin in der 8. Staffel (2013) öffentlich bloßgestellt, nur weil sie zwei Kilo zunahm. Ähnlich respektlos war die Aussage eines Jurors aus der gleichen Staffel: „Wenn du mir sagst, dass du zwei, drei Kilo zugenommen hast, dann kannst du dir nicht, wenn wir Mittag essen, die Pommes reinpfeifen mit kräftig Mayo und Ketchup. Ich hab wirklich gedacht, ich fall‘ vom Stuhl.“ Ob also Heidi schon immer Diversity bei ihren Teilnehmer*innen gesucht hat, könnte man zumindest anzweifeln.
Im krassen Gegensatz dazu steht die aktuelle Staffel. Diversity wird so großgeschrieben, dass jetzt sogar Männer von Heidi objektifiziert werden dürfen. Natürlich sollte erwähnt werden, dass dieser Wandel im Allgemeinen komplett zu begrüßen ist. Unsere Gesellschafft ist divers – das sollte sich das auch in solchen Reality-TV Formaten widerspiegeln. Eine Fernsehsendung, die Kindern und Jugendlichen einredet, Mayo würde ihren Körper und somit ihren Selbstwert zerstören hat und hatte noch nie eine Berechtigung. Warum diese progressiven Werte nun plötzlich auch bei Heidi angekommen sind, sollte man sich trotzdem noch einmal etwas genauer anschauen.
Nur die Quote zählt
Auch wenn GNTM unbestreitbar einen Kultstatus besitzt, sank die Quote nach 2011 kontinuierlich – irgendwann hält sich die Empathie beim 12. Umstyling eben in Grenzen. Um schlussendlich die Quote doch noch zu retten, reagierte die Show auf die Kritik und gab sich einen neuen Anstrich. Ganz selbstlos gibt Heidi Menschen (fast) jeden Alters sowie Körpertyps, ungeachtet ihrer Herkunft, die Chance, in die Modewelt – oder zumindest in die Reality-TV-Welt – einzutreten. Die neuen progressiven Werte zahlen sich aus, weshalb der Auftakt zur aktuellen Staffel mit 23,3 Prozent Marktanteil den besten Start seit 15 Jahren markierte. Auch Dr. Laura Sūna, Medienwissenschaftlerin an der Uni Siegen, verwies im Gespräch mit der politikorange-Redaktion auf die Strategie von Produktionsfirmen die wirtschaftliche Verwertbarkeit des Themas Diversity erkannt zu haben und deshalb dieses Thema in den Sendungen aufzugreifen. Diversity ist somit eher der Marketingspruch einer profitorientierten Produktion, als der progressive Wert als der er gerne dargestellt wird.
Ramon Wagner. Foto: Maximilian Maurizio.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Ramon Wagner, der für seine humorvollen Reaktionen zu Reality-Formaten in den sozialen Medien bekannt ist. Vor allem durch sein Branchenwissen kann man ihn gut und gerne auch als Experten in der Reality-TV Bubble bezeichnen. „Man passt sich halt dem aktuellen Zeitgeist an, wenn man so ein Format so lange am Leben erhalten will“, antwortete er auf die Frage, wie sich GNTM über die Jahre verändert hat. Als Grund für diesen Wandel sieht er ein rein wirtschaftliches Interesse, wie bei allen anderen Shows. „Wenn heute Curvy angesagt ist, machen alle Curvy. Wenn morgen Size Zero angesagt ist, machen alle Size Zero. Man passt sich halt dem Zeitgeist an und natürlich steht da das Geld im Mittelpunkt.“
Wir bestimmen, was ausgestrahlt wird
Dass das finanzielle Interesse bei diesem Wandel an oberster Stelle ist, steht wohl außer Frage. Aber wie ist das einzuordnen? Natürlich sind die Sender in unserem System profitorientiert, daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Moral meist hinter dem Geld einordnen muss. Dementsprechend wird von einem Sender ausgestrahlt, was von den Zusehenden erwartet wird. Darin liegt aber auch eine riesige Chance! Wir als Zusehende können mit unserer persönlichen Entscheidung ein Format anzuschauen oder es zu ignorieren beeinflussen, was produziert wird. GNTM hat sich ja auch größtenteils durch die Kritik von außen und die damit verbundenen fallenden Quoten gewandelt. Somit sollten wir akzeptieren, dass sich bestehende Formate wohl kaum aus innerer Überzeugung wandeln werden – wir jedoch alle durch unseren persönlichen Konsum die Wahl haben, wie das Reality-TV von morgen aussieht.
Zwischen Kandidat*innen, Konkurrenz und kognitiven Fähigkeiten: Reality-TV ist eine leichte, beliebte Unterhaltungsform, um einfach mal abzuschalten. Aber inwiefern schaltet dabei auch unser Gehirn ab? Was wollen Produzent*innen wirklich erreichen? Wie verschiedene Studien belegen, macht Reality-TV zumindest in Teilen dumm.
Brain on Vacation. Bild: Jugendpresse e.V.
Einschalten und Abschalten im Hirn
599 Probanden, zwei bis drei Stunden am Tag, 20 Jahre lang: Eine Studie von Forschenden der John Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore (USA), die 2021 im Fachmagazin „Brain Imaging and Behavior” veröffentlicht wurde, zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen Reality-TV Konsum und Gehirnstruktur. Eine Versuchsgruppe konsumierte über den Zeitraum der Studie regelmäßig Reality-TV, während eine Vergleichsgruppe darauf verzichtete. Nach den 20 Jahren Versuchszeit stellten die Forscher*innen abschließende Messungen der Gehirnstrukturen gegenüber und bemerkten Veränderungen bei jener Gruppe, die regelmäßig vor dem Fernseher saß. Die sogenannte „graue Substanz“, deren Anteil auch über die Intelligenz des Menschen entscheidet, hatte sichtbar abgenommen. Auch das Volumen zweier Gehirnareale litt im Verlauf der Studie und war geschrumpft. Diese Bereiche sind unter anderem für unser Erinnerungsvermögen zuständig. Ähnliche Ergebnisse zeigen kognitive Tests, bei denen der Reality-TV Konsum ebenfalls in Zusammenhang mit tendenziell niedrigeren kognitiven Fähigkeiten gebracht wurde. Langfristig sei sogar Demenz im späteren Alter begünstigt.
Ist das von Produzent*innen so gewollt? Was für ein Ziel wird hinter den Kulissen von GNTM, Bachelor und Dschungelcamp wirklich verfolgt?
Dummheit als Add On eines Geschäftsmodells
Das, wovon wir uns so gerne berieseln lassen, ist nicht so unschuldig wie man zunächst denkt. Hinter dem vermeintlich realistischen Gesellschaftsspiegel steckt in Wahrheit ein ausgeklügeltes Geschäftsmodell. Folgen für unser Gehirn spielen erstmal keine Rolle. Pädagogischer Mehrwert muss sich der Gewinnmaximierung beugen; die Produzent*innen wissen genau, worauf das Publikum anspringt.
Den Fernseher nach einer Folge Reality-TV wieder auszuschalten fällt oft gar nicht so leicht. Die einfachen Inhalte entpuppen sich als psychologisch gut durchdacht. Foto: Freepik.
„People like to sit up and make decisions. I like you; I don’t like you”. Es ist ein einfacher Wirkungsmechanismus, von dem die Anbieter ausgehen, bestätigt eine Studie von Dr. Laura Sūna, Medienwissenschaftlerin an der Universität Siegen. Unsere Rolle dabei, die der Zuschauerinnen und Zuschauer? Wir sind nichts weiter als leicht abzufangendes Publikum, die das Geschäftsmodell ermöglichen. Und was wir wollen, ist eben mitfühlen, lästern und urteilen. Müssen wir uns deswegen jetzt schlechtfühlen? Ohne Reality-TV machen wir das im realen Leben doch genauso, oder?
Reality-TV: Hoffentlich nicht Realität
Die Frage gilt es wohl eher andersherum zu stellen. Hinter dem Begriff Reality-TV verbergen sich nämlich Medienhäuser, die überhaupt nicht die Realität abbilden wollen. Die Shows folgen keinesfalls einem gesellschaftlichen Wandel im echten Leben der Zuschauer*innen, sondern orientieren sich an simplen Trenderscheinungen. Kommt bald wieder Size Zero? YouTube Kommentator Ramon Wagner, der selbst aktiv in der Reality-TV Branche ist, hält das bei einer entsprechenden Trenderscheinung sogar für unabdingbar. Wen wir in den nächsten Staffeln unserer Lieblings-Reality-TV Show auf dem Bildschirm sehen, sei in jedem Fall primär wirtschaftlich begründet. Mögliche Auswirkungen auf Psyche und Gehirn finden im gewinnorientierten Geschäftsmodell also keinen Platz.
Was bedeutet das jetzt für den nächsten GNTM-Donnerstagabend? Wie gehen wir mit diesen beunruhigenden Aussichten und Studienergebnissen um?
„Richtig“ Reality-TV schauen: Der Inhalt macht das Gift
Wie die erwähnte Studie im Fachmagazin „Brain Imaging and Behavior” (2021) zum Fazit zieht, kann man sich beim Konsum von Reality-TV auf zwei Prinzipien verlassen. Erstens: Je anspruchsloser der Inhalt, desto größer der Einfluss auf unser Gehirn. Sprache, Narrative und Interaktion der Kandidat*innen werden von uns schnell übernommen und beeinflussen uns in unserem Denken und Handeln. Und zweitens: Je mehr wir schauen, desto größer auch die Konsequenzen. Exzessiver Reality-TV Konsum bringt weitaus größere Auswirkungen mit sich als der Konsum in geringem Maße. Das bedeutet aber nicht, dass wir komplett von unseren Lieblingsshows absehen müssen. Solange wir Reality-TV in Maßen konsumieren und auf den Anspruch der Sendungen achten, steht der Unterhaltungsform nichts im Weg. Wichtig ist es, das dahinterstehende Geschäftsmodell im Kopf zu behalten, kritisch gegenüber der Inhalte zu bleiben und sich möglicher Folgen bewusst zu sein.
Im Zeitalter von Fake News, Populismus und Politiker*innen auf TikTok ist Reality-TV jedoch nicht das einzige Problem. Oft werden Inhalte vereinfacht, einseitig und nach simplen polarisierenden Narrativen dargestellt – viele Fragezeichen mit Blick auf mögliche Folgen für unser Gehirn bleiben offen. Der Landesschülersprecher der bayerischen Mittelschulen Dalton Del Salto Blanco ist überzeugt, dass „Medienkompetenz“ im Skillset zukünftiger Generationen nicht mehr wegzudenken ist – es lohnt sich also, schon heute den kritischen Blick auf unschuldige, scheinbar objektive Inhalte nicht zu verlieren und auch die eigene Medienkompetenz einmal zu hinterfragen.
Love Island und Co. erfreuen sich seit geraumer Zeit großer Beliebtheit. Drama – solange es nicht im eigenen Leben stattfindet – ist einfach unterhaltsam. Dabei nehmen wir das Ganze als seichte Unterhaltung hin, um neben dem stressigen Alltag einfach mal den Kopf abzuschalten. So einfach ist es dann aber doch nicht. Zwischen dem Lachen über das Spektakel und unserer Rolle als Zuschauer*innen liegt oft eine Grenze, die es zu hinterfragen gilt.
Drama im TV – das Geschäft mit den Emotionen. Foto: Jugendpresse e.V..
Die Zukunft ist divers – oder?
Zur Erinnerung: Unterhaltungsmedien – unabhängig, ob linear oder über Streaming-Dienste ausgestrahlt – leben davon, angeschaut beziehungsweise angehört zu werden. Der Industrie im Hintergrund sind Ethik und Moral längst nicht so wichtig, wie die neu gefundene Diversität von „Germany’s Next Topmodel“ uns es vielleicht glauben lassen möchte. Dennoch ist zu beobachten, dass durch Formate wie „Princess Charming“ oder „The Ultimatum: Queer Love“ nun endlich Shows Platz finden, die nicht dem Narrativ einer heteronormativen Gesellschaft unterliegen. Diese sind zwar noch nicht im linearen Fernsehen zu sehen, sondern mit einem Abonnement von Streaming-Dienst-Anbietern verbunden, dennoch ist es ein Anfang. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass das Ausstrahlen von queeren Formaten, die stärkere Präsenz von BIPoC oder das Zeigen von nicht dem aktuellen Schönheitsideal entsprechenden Menschen nicht mehr als eine kalkulierte Marketingstrategie ist. Diversity ist gerade angesagt. Mit Blick auf aktuelle Wahlumfragen fragt sich, wie lange noch.
Gesellschaftsspiegel Reality-TV
Über die Zeit haben sich Produzierende genau gemerkt, was uns bei Reality-TV wichtig ist. Spoiler: Die Darstellung von gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen ist es nicht. Genauso wie der Großteil der Zuschauenden aktuell gerne Diversität in Shows vertreten sieht, ist ihnen das Drama mindestens genauso wichtig. Dass Kandidat*innen durch Schnitt, Interviews und gerne auch mal Alkohol so dargestellt werden, wie der Regie das für ihre Dramaturgie passt, ist da erstmal egal. Es ist nämlich viel einfacher, sich über das künstlich erzeugte Drama zu erfreuen, als das „Reality“ in Reality-TV zu hinterfragen. Kritik richtet sich fast ausschließlich an die Kandidat*innen. Nie aber mal an uns, die es genau deswegen schauen oder an die, die es nach unseren Wünschen produzieren. Es ist erschreckend, wie persönlich über Menschen gesprochen wird, deren Verhalten nicht unseren Wertvorstellungen entspricht. Auffällig dabei ist, dass Menschen, die sich den Kandidat*innen intellektuell überlegen fühlen, sich besonders abfällig über Verhalten und Personen äußern. Angeschaut werden sich dann aber genau die Formate, die von der besonderen Intensität der Konflikte leben.
Reality-TV als spannendes Heimkino Erlebnis. Foto: Pexels / JESHOOTS.com
Das optimale Karrieresprungbrett?
Charaktere, die an diesen Formaten teilnehmen, sind gerne mal ausgefallener und extrovertierter. Den meisten Teilnehmenden wird auch klar sein, wie in Teilen der Bevölkerung darüber gedacht wird, an solch einer Show teilzunehmen. Was also bewegt Menschen dazu, da mitzumachen? Ob man es glaubt oder nicht, manchen ist es egal, was andere über sie denken. Sie möchten einfach nur jemanden kennenlernen oder aufregende Erfahrungen sammeln. Andere hingegen gestalten auf dieser Grundlage ganze Medienkarrieren. Egal ob Teilnahmen an weiteren Formaten, Influencer*in oder etwas ganz anderes. Der Spielraum ist groß. Mit der richtigen Taktik ist man im Anschluss eine Person des öffentlichen Lebens. Verfolgt man dieses Ziel, ist es wichtig, im Rahmen der Show aufzufallen. So lässt sich nämlich hervorragend Reichweite generieren – also Follower*innen. Wenn man bedenkt, dass sich laut Schätzungen des Steuerportals „Accountable“ ab einer Follower*innenzahl von 50.000 bereits 200 bis 1.000 Euro pro Instagram Post oder Story verdienen lassen, ist das ein cleveres Ausspielen der eigenen Stärken und ein kluger Karriere-Schachzug. Da ist es doch nur logisch, dass sich Menschen bei solchen Shows anmelden, die jetzt nicht als zurückhaltend zu beschreiben sind. Dann wären die Shows, die wir so gerne sehen, nämlich ziemlich langweilig.
Der Ton macht die Musik
Reality-TV lebt vom Verhalten der Kandidat*innen. Es ist völlig in Ordnung, sich über die Handlung auszulassen oder Witze darüber zu machen. So funktioniert diese Art von Unterhaltung nun mal. Gesehenes zu kritisieren, ist wichtig. Jedoch sollten wir immer darauf achten, wie persönlich und tiefgreifend die Kritik an Kandidat*innen ist und an welchen Stellen wir bei den Produzent*innen oder sogar bei uns selbst ansetzen müssen. Sich diese Shows nur anzusehen, um sich über die Teilnehmenden lustig zu machen, ist höchst bedenklich. Wir sollten das Ganze als Unterhaltung anerkennen und verstehen, dass dabei auch Rollen gespielt werden und Personen nicht zwingend so sind, wie sie dargestellt werden. Zudem sollten wir darüber nachdenken, warum wir uns so sehr an Konflikten und Drama erfreuen und was wir dabei über unser eigenes Leben lernen können.
Wenn junge Menschen auf die Straße gehen, sind sie auch angewiesen auf die Berichterstattung über ihren Protest. Allerdings richten sich die Medien auf ein Publikum mittleren und höheren Alters – und das ist ein Problem. Ein Kommentar von Sophia Abegg.
Auf einem Demo-Plakat steht geschrieben: “Warum für die Zukunft lernen, wenn ihr sie zerstört?”. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./Moritz Heck
Die britische Tageszeitung „The Guardian“ hat vor Kurzem eine Recherche veröffentlicht, die eine neue Dimension in der Debatte um die Klimaproteste junger Menschen eröffnet hat. Der „Guardian“ kritisiert darin zwar vor allem die strafrechtliche Verfolgung friedlicher Proteste als staatliche Einschüchterung, allerdings lässt sich die problematisierte Taktik in Teilen auch auf die mediale Rezeption von Protesten junger Menschen übertragen.
Denn was mit „Fridays for Future“ 2019 begann, wird 2023 mit der selbsternannten „Letzten Generation“ fortgeführt: Die politische Stimme junger Menschen wird von der Darstellung ihres Protestes in einigen Medien dominiert. Diese sind allerdings auf ein Publikum mittleren und höheren Alters zugeschnitten – und das ist ein Problem.
Wie sehr einige Medien die politischen Anliegen junger Menschen verzerren, zeigt sich besonders deutlich bei der Berichterstattung über Protestbewegungen. Denn die Redaktione n thematisieren dabei zum Teil nicht etwa den eigentlichen Zweck der Proteste. Vielmehr machen sie den Protest junger Menschen zum Objekt oberflächlicher Abhandlungen über die gewählte Protestform. Wenn die Überschriften nicht mehr „Schüler streiken fürs Klima“ heißen, sondern „Sollen Schüler während des Unterrichts demonstrieren?“, kommt die Berichterstattung an einen kritischen Punkt. Schließlich missachten die betreffenden Journalist*innen damit die Verzweiflung der jungen Generation und setzen die Debatte um ein gesellschaftlich relevantes Thema auf die Ebene der Banalität herab.
Natürlich gehört es zur Aufgabe der Journalist*innen, das Zeitgeschehen zu durchleuchten und auch kritisch zu hinterfragen. Trotzdem würde es der Demokratie gut tun, wenn einige Medien ihre Rolle als Kontrollorgan noch stärker selbst reflektieren würden. In Anbetracht der medialen Kritik an den Strukturen der „Fridays for Future“-Bewegung zu ihren Anfangszeiten oder der selbsternannten „Letzten Generation” seit Beginn dieses Jahres, ist es von größter Bedeutung, dass Medien ihre Verantwortung gegenüber der jungen Generation gerecht werden. Jugendliche haben ihm Vergleich zu älteren Generationen nur wenig Möglichkeiten zur direkten politischen Partizipation. Deshalb ist es äußerst notwendig, dass Medien mit ihrer Berichterstattung jungen Menschen keine weiteren Hürden auf dem Weg zur politischen Teilhabe setzen, indem sie deren Forderungen in einem solchen Stil übergehen.
Anstatt die Protestierenden in einen Teufelskreis aus Aufmerksamkeit in Abhängigkeit zur Schlagzeilenreife der Protestaktionen zu verwickeln, sollten Medien eher vermitteln – und zwar nicht nur zwischen Politiker*innen und der Öffentlichkeit, sondern stärker auch zwischen den Generationen. Die teilweise einseitig perspektivierte Berichterstattung von Alt zu Alt, und auch von Jung zu Jung hat ausgedient. Stattdessen ist es Zeit für den gewagten, aber lohnenden Sprung in den Austausch von Alt zu Jung und Jung zu Alt.
Junge Menschen brauchen Plattformen, auf denen sie ihre Themen nicht nur mit Gleichaltrigen austauschen, sondern gezielt älteren Generationen nahebringen. Eine Möglichkeit wären neue Formate, in denen junge Menschen ihre Anliegen vortragen können. Gleichzeitig könnten Redaktionen die Meinungen und Themen junger Menschen stärker in bereits bestehende Formate einbinden. So kann sich die Berichterstattung von der Bevormundung junger Menschen lösen und ihren Teil zur demokratischen Ermächtigung junger Generationen beitragen. Gleichzeitig wäre es ein Startschuss für einen gegenseitigen Lern- und Lehrprozess, der für die gesamte Gesellschaft von Vorteil wäre.
Disclaimer: Der Beitrag spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin wider und nicht die der Projektpartner*innen des Jugendmedienworkshops im Deutschen Bundestag 2023 (Jugendpresse e.V., Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Bundestag).
“Internet ist unser Medium” – eine Kernaussage der Medien-AG „Wem gehört das Internet? Junge User*innen zwischen digitaler Freiheit, Algorithmen und (staatlicher) Kontrolle“ . Unter der Leitfrage “Wie kommt es zu Fake News” stellt sich die AG in einer teils sehr impulsiven Diskussion den Abgründen der Informationsbeschaffung.
Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck
Eine Bühne hat die Leitfrage direkt nach dem Einstieg erhalten: Drei Gruppen erarbeiten erste Punkte zu verschiedenen Schwerpunkten, eine der Gruppen thematisiert dabei direkt das Thema Fake News. Kaum wurde die Leitfrage von AG-Leiter Linus Walter in den Raum geworfen, da waren schon aufgeregt sämtliche Hände in der Luft. Einige Zwischenrufe konnten auch direkt vermuten lassen, dass Fake News wohl ein wirkliches Problem für die Jugend ist, dabei hatte die Diskussion noch nicht einmal richtig begonnen.
Erste Vermutungen zur Entstehung von Fake News waren dabei, dass Anonymität eine wichtige Rolle spielt. Besonders im Journalismus sei eine unabhängige und geschützte Berichterstattung teils nur durch Anonymität erreichbar, um unabhängige Berichte und die Sicherheit der Journalist*innen zu gewährleisten. Dem Missbrauch durch unseriöse und kontroverse Personen ist dabei schwer zu verhindern. Dabei tritt das Problem auch in der Berichterstattung selbst auf. Ganze Zeitungen spezialisieren sich rein auf Clickbait-Artikel, in extremen Fällen überwiegt dort der Werbeblock die Informationen.
Teilnehmer*innen bei einer Diskussion auf einem Balkon des Landwirtschaftsministerium. Foto: Jugendpresse Deutschland e. V. / Moritz Heck
Das letzte angesprochene Probleme sei das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dabei werde insbesondere in populistischen Kreisen die eigene Meinung als Fakt verbreitet, wirkliche Fakten geraten in den Hintergrund. Jedoch stellte sich spätestens bei der Suche nach einem ersten Lösungsversuch die Frage, wer überhaupt entscheidet, ab wann ein Fakt gültig ist, und ab wann als falsch deklariert wird. So wäre ein erster Lösungsversuch, dass eine zentrale Instanz sämtliche Informationen vor Veröffentlichung überprüft. Neben der Frage, welche Organisation diese Aufgabe übernehmen sollen, kamen direkt Bedenken zu Tage. Wer verhindert den Missbrauch der Informationshoheit dieser zentralen Instanz? Sollen KIs diese Aufgabe übernehmen oder gilt dies schon als Uploadfilter? Umso länger diskutiert wird, umso mehr wird klar, dass dieser Lösungsweg wohl nicht geeignet ist.
Wir sind der Schlüssel zum Erfolg!
Der Gedanke setzt sich durch, dass das Problem selbst sehr schwer gelöst werden kann, die Konsumierenden von Medien sollen verstärkt selbst eine Medienkompetenz antrainiert bekommen, in der Bekämpfung von Fake News solle es zu einer Schwerpunktverlagerung kommen.
Dabei sieht die Gruppe besonders die Schule im Fokus, “Schule soll Kompetenzen vermitteln” und “kritisches Denken braucht man überall” waren dabei Zitate mit großer Zustimmung in der AG. Die Gesellschaft müsse das Risiko eingehen, der Mehrheit das Vertrauen auszusprechen, kompetent und sorgefältig ihren Medienumgang selbst zu reflektieren. Durch schulische Förderungen und eventuell einem Faktenteam bei schwerwiegenderen Diskussionen über den Wahrheitsgehalt von Nachrichten, soll es in Zukunft erschwert werden, Fake News zu verbreiten. Gegen Ende der Diskussion wurde zudem die themenbezogene Vermutung geteilt, dass Fake News besonders durch digitale Medien besser verbreitet werden. Online könne viel einfacher und schneller Informationen verbreitet werden. Das hat natürlich sehr viele Vorteile, jedoch sollte bedacht werden, dass hinter Print Medien bis zur Veröffentlichung viel mehr Aufwand steckt, die sogenannten “Gate Keeper” sorgen für einen gewissen Standard an Qualität.
Somit empfiehlt sich als erstes Teilergebnis des Tages, dass eventuell einmal mehr zur klassischen Zeitung gegriffen wird, wenn man mehr Sicherheit erwarten möchte und gerade nicht die Zeit oder das Know-How für einen schnellen Medienkonsum hat.