„Ich hab den Film nicht verstanden“, sagt meine Freundin, mit der ich „In die Sonne schauen“ gesehen habe. Ich bin mir nicht sicher, ob man den Film verstehen kann. Er berührt dich, lässt sich aber nicht logisch analysieren und durchblicken. Er ist ein Ringen um die Blicke selbst.

Die Sonne scheint durch ein Fenster. Foto: Jack Thomas/unsplash
Vier Zeitzonen innerhalb des 20. Jahrhunderts. Vier Erzählstimmen aus dem Off. Erika, die 1940 den vom Krieg wiedergekehrten Onkel mit seinem verlorenen Bein pflegt, sich ihm mit einer hilflosen Obsession widmet und sich selbst ihr Bein hoch schnürt, um es nachzufühlen. Die sechsjährige Alma, die 1910 beim Gedenken der Familientoten auf einem Foto zum ersten Mal die Leiche ihrer kränklichen, siebenjährigen Schwester sieht, nach der sie benannt wurde. Angelika, die in den 1980er Jahren in der DDR den Familienverhältnissen entkommen will, den Berührungen ihres Onkels, den Blicken der Männer und dem Wegsehen ihrer Mutter. Und Nelly, die sich in der Jetztzeit tot imaginiert und wünscht, ihre Mutter wäre tot, um wie ihre Freundin oder einfach irgendjemand anderes mit einer anderen Lebensgeschichte zu sein.
Sie alle haben gemeinsam, dass sich ihr Leben auf demselben Hof in der Altmark abspielt. Doch wer in „In die Sonne schauen“ (Erscheinungsdatum: 28. August 2025) versucht, Verbindungen herzustellen, scheitert. Die Stimmen aus dem Off beschreiben Erzählungen und Erinnerungen von Figuren, die nicht wissen, warum sie sich daran erinnern. Die Spuren der deutschen Geschichte werden uns an den Leben anderer gezeigt. Armut, Krieg und patriarchale Gewalt über Jahrzehnte, ohne dass die Figuren unterschiedlicher Jahrgänge miteinander verwandt sind. Was zunächst verständlicher und anschaulicher scheint, wäre unpassend gewesen. Zu plakativ, nur auf eine Familie begrenzt. Natürlich werden Traumata auch durch epigenetische DNA-Veränderungen weitergegeben, aber die schonungslosen und schwierigen Momente müssen auch als Phänomen einer ganzen Gesellschaft gesehen werden. Denn es braucht mehr als die Einzelfall-Tragik im Diskurs über Traumata, wenn wir mit ihnen gesamtgesellschaftlich leben.
Warum wir den Film fühlen
Maria Schilinski, die in Cannes für den Film ausgezeichnet wurde, sagt in einem Interview, sie habe Fotografien als Referenz genutzt, unter anderem von Francesca Woodman. Woodman inszenierte vor ihrem Suizid die Vergänglichkei ihres eigenen Körpers mit Fotos. Die Regisseurin, Schilinski, beschreibt den Schaffensprozess von „In die Sonne schauen“ als Ergebnis von Assoziationen und unsichtbaren Themen. Geheimnisse, die mit ins Grab genommen werden, und die Körperlichkeit von Kontrollverlust.
Der Film spricht an, was viele von uns auch in sich tragen. Während meine Freundin keine deutschen Vorfahren hat, scheint es mir genau das zu sein, was Menschen an „In die Sonne schauen“ fesselt. Der Hof in der Altmark, der Mascha Schilinski als Erstinspiration und später auch als Drehkulisse diente, erinnerte mich stark an das alte Gehöft meiner Familie, mit den gleichen Öfen, Toren, Türklinken und Möbeln. Die gleiche Geschichte?
Während das Unsichtbare ohne persönlichen, familiären Kontakt im Film weitergegeben wird, ist das einzig Beständige der Hof, der das Leben und Leiden aller Protagonist*innen miteinander verknüpft. Es macht etwas mit mir, wenn die eigene Familie vor der Flucht vor sowjetischen Soldaten berichtet, von der Todesangst und Vergewaltigungen und ich dann Erika und ihre Schwestern sich mit Steinen in Rucksäcken im Fluss ertränken sehe.
Diese Spezifität, die gleichzeitig mit unsicheren Rückschlüssen und offenen Fragen kommt, erinnert an die Fragen, die unausgesprochen bleiben, wenn man zu seiner eigenen Familiengeschichte forscht. Wir imaginieren die Figuren als Platzhalter für Bekannte. (Die geknoteten Haare und schwarzen, langen Kleider der Frauen im Film haben mich an die älteren Fotografien erinnert, die in der Stube meiner Urgroßmutter hängen, einem Raum voll von altem Porzellan und Stühlen, auf denen auch Alma und ihre Schwestern 1910 hätten sitzen können.)
Was wir schon immer weggelächelt haben
Über bestimmte Dinge haben viele Familien nie gesprochen oder die Vergangenheit wurde schöngeredet. Zum Beispiel, dass in der DDR Frauen wie Männer gleichgestellt waren, weil alle mit angepackt hätten. Was aber auch passiert ist: Angelika beschreibt als Protagonistin, wie ihr Onkel sie als Schwimmtrainer dauerhaft ansieht. Sie tut so, als würde sie den Blick nicht sehen; beobachtet diejenigen, die sie beobachten. Patriarchale Muster und sexualisierte Gewalt gegen Frauen können mit gleicher (oder ähnlicher) Arbeitslast oder Lohn koexistieren. Auch die junge Nelly, die in der inszenierten Gegenwart eine zeitfremde Schwere einholt, windet sich unter dem Blick eines Familienfreundes.
Angelika ist abhängig von ihrem Onkel, nähert sich ihm an, damit er sie mit seinem Auto fährt, weil sie ohne ihn nicht in die Stadt kommt. Auch wenn keine expliziten Bilder zu sehen sind, ahnt das Publikum viele unausgesprochene Momente durch beiläufige Kommentare. „Weiß doch jeder, dass du dich von ihm knallen lässt“, sagt ihr Cousin, als sie dessen Annäherungsversuche abwehrt. Wie lange kann man glücklich spielen, ohne dass es jemand merkt, fragt Angelika aus dem Off.
Ein Blick als Stilmittel
Würde das Setting des Films ausschließlich eine Zeitzone umfassen, besonders wenn es die Gegenwart wäre, würden wir dem Cast vielleicht Depressionen attestieren. Wir würden womöglich an die Quaterlife-Crisis von Millenials denken und das Leid individualisieren. So erfahren wir nun allerdings die Pathologie der patriarchalischen Vergangenheit, die eine lange Geschichte hat, am eigenen Leib durch Bilder, die wir aushalten müssen.
Die Kamera spielt mit der vierten Wand, dem Bruch mit der goldenen Regel, niemals Blickkontakt herzustellen. Gerade während die jungen Figuren Grausamkeiten durch Schlüssellöcher und Türspalte mitbekommen, verweilt ihr Blick am Ende im Publikum. Das prägt die Szenen als Mischung aus schlechter Vorahnung und Befürchtung, mit der wir wie bei einem Autounfall Alma zusehen, die beobachtet, wie ihr ältester Bruder von der eigenen Familie durch Gewalt wehrunfähig gemacht wird.
Wir wollen das Kind davon abschirmen, wie ihre Schwestern, die rufen, sie solle den ringenden Erwachsenen nicht in die Scheune folgen. Wir wollen ihr die Augen zuhalten. Vielleicht, weil es unsere Intuition ist, das unschuldige Mädchen vor dem Leid zu bewahren. Vielleicht, weil uns unsere Urgroßeltern von genau solchen Geschichten erzählen, die immer weit weg und halb ausgedacht wirkten, als wir im selben Alter waren. Doch der Blick direkt in die Kamera danach ist das eigentliche Markenzeichen, das es schließlich auch auf das Cover des Films schafft. Er lässt beim Zuschauenden ein Gefühl von Schuld zurück, während er keinerlei Vorwürfe macht, nur schaut.
Das war halt damals so.
„In die Sonne schauen“ ist buchstäblich unangenehm, auch wenn es keine Dokumentation, sondern eine fiktive Erzählung ist. Ein Blick in die deutsche Geschichte ist nicht schön, in die eigene Geschichte noch weniger. Das Mitleid und die Erleichterung, heute aufzuwachsen, wird gleichzeitig als Fehlschluss enttarnt. Nicht nur, dass Nelly auf eine Art so ähnlich leidet wie alle anderen, auch die allgegenwärtige Attitüde der Mutterfiguren spricht Bände. So betont Angelikas Mutter nach einem Familienfest mehr zu sich selbst, es sei doch ein wunderbarer Tag gewesen: Alle seien satt geworden, sie hätte lange nicht mehr so gelacht. Angelika erzählt aus dem Off, „Mutti“ würde immer nur krampfhaft lachen, wenn etwas Schlimmes passiere. Dass sie ihren eigenen Körper dann nicht unter Kontrolle hat und sich dafür schämt.
Und auch als Almas Mutter plötzlich nicht mehr laufen kann, obwohl der Arzt keine Ursache feststellt, liegt sie mit verzerrtem Lachen auf dem Zimmerboden, verzweifelt, sich aufzuraffen.
Wie das Leid weiterlebt
Wir kennen das mitunter von unseren Großeltern. Das Erzwingen von Fröhlichkeit, die Eigeninszenierung von Spaß und Glück durch genug Essen und eine Verlorenheit oder Unverständnis, wenn es sich nicht glücklich anfühlt. Die Spuren der eigenen und der fremden Kindheiten ziehen sich bis ins Jetzt und die Mutterfiguren zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Schein und das leere Gehäuse einer glücklichen Familie zusammenhalten wollen.
Man könnte meinen, Männer kämen in dem Film nicht besonders gut weg. Viele Filmkritiker (die man hier ungegendert lassen kann) beschrieben auf YouTube oder in Feuilleton-Artikeln, dass sie der Film nicht gecatcht habe oder ihnen der Zugang fehle. Aber vielleicht sollten wir alle ihn genau deshalb sehen. Gezeigt werden nämlich auf allen Seiten verletzte und gebrochene Charaktere. Dass viele Soldaten mit Traumata aus beiden Weltkriegen wie verändert in die Familien zurückkehren und selbst gewalttätig wurden, ist keine Neuigkeit. Dass aber die Leidtragenden dieser Gewalt nicht das Ende der Kette sind, bedarf möglicherweise einer Erinnerung.
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