Radikalisierungsmaschine und Thema in den Feuilletons der Republik: Twitter ist die Plattform für politischen Aktivismus. politikorange-Redakteur Lukas Siebeneicker hat mit zwei Userinnen gesprochen.
„Es gibt da diese Plattform Twitter, auf der auch Donald Trump, Elon Musk und Kanye West aktiv sind, wir haben auch jeder schon fünfzigtausendmal dort reingeschrieben und diskutieren mit Leuten, die einen Gartenstuhl als Profilbild haben, über Politik“, sagte einmal Kurt Prödel, einer der bekanntesten Twitter-User*innen.
Doch Twitter ist mehr als das. Es ist auch der Ort für alle, die aktiv am tagesaktuellen politischen Diskurs mitwirken wollen. Dass daraus auch ganze Bewegungen entstehen können, zeigten Ende 2017 bzw. Anfang 2018 Hashtags wie #metoo und #metwo. Meine Interviewpartnerinnen Rachel und Özge sind seit dieser Zeit dabei. Sie haben mit ihrer Bildungsarbeit und ihrem Aktivismus die deutsche Twitter-Szene geprägt.
Warum seid ihr bei Twitter aktiv, was motiviert euch weiterzumachen?
Rachel: In erster Linie möchte ich über das Judentum aufklären. Das geht am besten über Twitter, weil man dort am schnellsten viel Reichweite generieren kann. Es ist ein schönes Gefühl, wenn die eigene Arbeit wertgeschätzt wird. Diese Bildungsarbeit ist aber auch dringend notwendig, weil jüdische Menschen so viel Ignoranz von der weißen, christlichen Mehrheitsgesellschaft erleben. Am stärksten konnte man die kürzlich bei der Rede des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt an Yom Kippur in Halle spüren. Er sagte tatsächlich: „Der Anschlag wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöhnung gäbe“. Ich war fassungslos, wütend und verzweifelt – als wäre der Anschlag oder die Shoah die Schuld jüdischer Menschen gewesen.
Özge: Twitter ist für mich nicht nur Politik. Die Gemeinschaft und die Möglichkeit, nur Witze zu machen sind mir auch wichtig. Und wenn ich viel Feedback auf Tweets bekomme, die mir am Herzen liegen, freut mich das sehr. Trotzdem schafft das Digitale eine Barriere zu den Leuten. Es ist nicht das Gleiche wie auf einer Demo inmitten von Gleichgesinnten zu stehen, die genauso aufgebracht sind wie du.
Bezeichnet ihr euch als Aktivistinnen?
Rachel: Inzwischen schon. Mir fällt es als Jüdin nur schwer, mich vollständig als „linke Aktivistin“ zu bezeichnen. Solange Antisemitismus in der linken Szene existiert, geht das kaum.
Özge: Bei mir war das auch eine Entwicklung. Am Anfang war ich mir nicht sicher, ob ich mich so nennen würde. Doch dann habe ich gemerkt, dass es ein sehr offener Begriff ist. Du machst aktiv politische Arbeit? Dann bist du Aktivist*in.
Wollt ihr Menschen mit eurer Bildungsarbeit radikalisieren?
Özge: Ja, schon. ‚Radikalisieren‘ klingt von außen betrachtet nur nach der Extremismustheorie: Als gäbe es eine gute Mitte und alle anderen an den politischen Rändern seien radikal und böse. Auf jeden Fall werden die Generationen, die mit Social Media aufwachsen, viel politischer sein als die davor. Mit 15 war ich, im Gegensatz zu meinen Klassenkamerad*innen, schon total politisiert. Das war frustrierend, so allein zu sein.
Rachel: Das ist der Nebeneffekt. Man hat durch meine und andere Bildungsarbeit die Möglichkeit, mehr über unterdrückende Strukturen in der Gesellschaft zu erfahren. Wenn das Menschen radikalisiert, dann nicht ohne Grund.
Jan Böhmermann hat ein Buch mit seinen Tweets herausgebracht. Ist das peinlich?
Özge: Ich habe zwei Antworten darauf. Die erste, instinktive wäre: ‚Cringe, weg mit dem Bullshit.‘ Muss man ein Buch zusammen copy-pasten und das für 22,00 € veröffentlichen? Wenn ich das meinem Vater erklären müsste, wäre mir das peinlich. Zweitens denke ich mir aber auch, dass das schließlich der Job der Feuilletonist*innen ist. Die müssen über kulturell relevante Dinge sprechen und so etwas ist ein spannendes Zeitzeugnis.
Rachel: Nein, ich finde das nicht peinlich. Ich spreche allerdings auch aus der Perspektive einer Buch-Bloggerin, die sich mit Algorithmen der Sozialen Medien auskennt. Als solche lebe ich quasi davon, mich mit anderen auszutauschen. So sind Soziale Medien nicht nur die Plattform, auf der ich Bildchen von meinem Essen teilen kann. Es ist ein ernsthafterer Zugang. Deshalb finde ich es nicht schlecht, wenn Twitter auch im Feuilleton besprochen wird. Böhmermanns Idee ist mir aber zu einfach. Ich habe schon ein schlechtes Gefühl, wenn ich Screenshots von meinen Tweets auf Instagram hochlade.
Ihr beide folgt auch dem Lyriker und Sachbuchautor Max Czollek auf Twitter. In seinem neuen Buch „Gegenwartsbewältigung“ zeigt er auf, wie wichtig es ist, die Vielfalt unserer Gesellschaft radikal anzuerkennen und sichtbar zu machen. Seht ihr das auch als eure Verantwortung und Aufgabe?
Rachel: Ja! Die Repräsentation aller Menschengruppen der Gesellschaft in Kultur und Medien ist sehr wichtig. Ich lese gerne Jugendliteratur. Da merke ich schon, dass viel in Richtung Diversität passiert. Ich habe letztens einen Tweet gelesen, in dem eine Person erzählt, dass sie sich als genderfluid [sich zwischen den Geschlechtern männlich–weiblich bewegend, Anm. d. Red.] geoutet hat. Das Geschwisterkind meinte dann nur: „Ah okay, wie Alex Fierro in Rick Riordans ‚Magnus Chase‘. Was sind deine bevorzugten Pronomen?“. Das ist das, was Repräsentation mit den Kids macht. Sie verbinden dieses Merkmal nicht mehr mit einem historisch gewachsenen Stereotyp, sondern mit einer Romanfigur. Das trägt letztendlich dazu bei, dass sich diese Klischees auflösen. Das ist so cool!
Özge: Natürlich sind Vielfalt und Repräsentation wichtig. Doch das reicht allein nicht aus. Viele bürgerlichen Feminist*innen und Antirassist*innen lassen die Klassenfrage außen vor. Als Kommunist*innen müssen wir deshalb immer wieder darauf aufmerksam machen, dass z. B. Rassismus eben im Kapitalismus eine Funktion erfüllt. Warum werden rumänische Saisonarbeiter*innen wie der letzte Dreck behandelt? Mit Deutschen könntest du das niemals machen, die haben Arbeitnehmer*innenrechte. Warum haben die Rumän*innen die nicht? Weil das ein rassistisches System ist. Wer das nicht beachtet, betreibt bloß Lobbyarbeit für sich selbst. ‚Ich habe Abitur und kann ordentlich Deutsch, ihr dürft mich nicht behandeln wie einen Ausländer‘, das ist diese Denkweise. Das ist doch kein Antirassismus. Das ist Lobbyarbeit für Türk*innen mit Abi.
Rachel: Wir haben alle eine Verantwortung, die Bildungsarbeit zu leisten, die wir können. Wenn ich rassistische Aussagen in meiner Familie höre, dann spreche ich das an. Klar sind das unangenehme Gespräche, doch das gehört dazu. Noch mehr Verantwortung haben allerdings weiß-christliche Deutsche. Wegen ihrer Vorfahren haben Familien wie meine ein enormes generationsübergreifendes Trauma. Wir sind die Opfer der Shoah. Weiß-christliche Deutsche sollten sich wenigstens damit auseinandersetzen und unsere Bildungsarbeit in Anspruch nehmen. Zusammen können wir die Krisen der Gegenwart bewältigen.
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von sagwas.net und politikorange.de entstanden.