Wie wichtig sind Frauennetzwerke und sind Politiker*innen eigentlich überbezahlt? Antje Kapek spricht mit politikorange über ausbeuterische Systeme und die irreführende Effizienz unserer heutigen Gesellschaft.

Antje Kapek ist ein bekanntes Gesicht der Berliner Landespolitik. Die studierte Geografin und Stadtplanerin ist seit Oktober 2022 Sprecherin für Verkehrs- und Umweltpolitik der Grünen-Fraktion im Landtag. Im Februar desselben Jahres trat sie von ihrem Amt als Fraktionsvorsitzende zurück, das sie seit 2012 innehatte. Sie begründete dies damals mit dem Wunsch, mehr Zeit für sich selbst und die eigene Familie zu haben. In ihrem Buch „Macht und Müdigkeit“ hat sie 2023 erstmals die eigene Erschöpfung im Politikwesen beschrieben.
politikorange: Sie haben ein Buch zum Thema „Macht und Müdigkeit“ geschrieben. Wie haushalten Sie selbst mit Ihren Kräften?
Antje Kapek: Ich glaube, dass es eine Phase im Leben gibt, die eine einzige Rushhour ist. Sobald man richtig zu arbeiten beginnt, setzt bei vielen Menschen schnell eine systematische Überforderung ein. Ich war schwanger mit Anfang dreißig, war neben meinem Job auch Bezirksvorsitzende und habe somit 80-100 Stunden die Woche gearbeitet. Dann hatte ich irgendwann keine Tiefschlafphasen mehr. Ich hab’ versucht, das alles mit zwei Wochen Urlaub zu covern. Aber nach zehn Jahren war alles vorbei und ich konnte nicht mehr.
Kann man so etwas überhaupt „covern“?
Wenn ich schneller erschöpft bin, lerne ich auch früher, mit meinen Kräften zu haushalten. Wenn ich aber viel abkann, trage ich diesen ungesunden Lebensstil im Zweifelsfall viel länger mit mir herum. Und unsere Gesellschaft suggeriert uns, man könne das alles „weg-wellnessen“.
Das hat ja auch etwas mit vermeintlicher Effizienz zu tun, oder?
Genau, das ist aber Quatsch. Stress baut sich wie eine Treppe auf, aber nicht mehr ab. Wir brauchen Entspannungsmethoden, um Stress und Belastung abzubauen. Wenn ich versuche, mich darauf und auf ein ausgeglichenes Leben zu konzentrieren, dann brauche ich keine Tuchmaske und dann brauch ich auch kein Spa-Wochenende. Aber dieses immer Bestleistung erbringen zu wollen, wird uns von klein auf anerzogen. Und wenn wir nicht funktionieren, sind wir kaputt. Diese überzogene und ungesunde Leistungsgesellschaft, die sich ja in allen Lebensbereichen zeigt, ist durch einen kapitalistischen Wachstumsgedanken geprägt.
Natürlich verdiene ich mehr als der Durchschnittsbürger. Aber wir arbeiten auch viel mehr als der Durchschnitt.
Ist das Arbeitsfeld Politik anfälliger für solche Überbelastungen? Rücktritte wie der von Kevin Kühnert hatten ja explizit mit ihrer Gesundheit zu tun gehabt.
Politik setzt voraus, dass du 24/7 sendest, da bist, lieferst. Gleichzeitig sind Menschen in der Spitzenpolitik nicht nur resilienter, sondern auch narzisstischer. Das heißt, sie haben eine Art Schutz. Man liebt die Öffentlichkeit, man hält es aus.
Meinen Sie nicht, dass es einem eher schlecht geht und man dann diese Aufmerksamkeit als Ventil benutzt?
Nein! Ich will ja nicht überpsychologisieren und Politiker*innen haben keine Persönlichkeitsstörung. Aber sie präsentieren sich gern selbst. Die Öffentlichkeit ist nicht das Problem, obwohl heute alle verfolgen können, was ich tue und nicht tue. Ich glaube, dass es ganz viele Berufsfelder gibt, in denen körperliche Erschöpfung vorprogrammiert ist. Da muss man nur einmal ins Krankenhaus schauen. Für uns alle gibt es dennoch Grundbedingungen, die sich ändern müssen.
Was für Grundbedingungen?
Es fängt an bei der Frage: Wo bekomme ich Unterstützungsleistung? Egal ob ich einen Kitaplatz suche oder Ähnliches, das Bürgeramt sollte Ansprechpartner sein. Wir alle müssen irgendwann für pflegebedürftige Menschen da sein. An diesem Punkt bin ich nicht mehr voll arbeitsfähig. Es sollte Pflege- und Haushaltshilfen geben und das auch im psychischen Bereich, bei Traumata. Es gibt viel zu wenig unterstützende Angebote und verfügbares Personal.
Ein Care-Carepaket also?
Genau! Das gibt es in vielen Fällen nicht, obwohl es nötig wäre. Sehr viel Potential geht dadurch verloren, dass Menschen Überforderung in der Care-Arbeit erfahren und dann nicht mehr ihre Kreativität oder anderes in der Gesellschaft einbringen können.
Selbst Kinder zu haben, ist schon der maximale Nachteil.
Viele verlangen ja, darunter auch Carola Rackete, dass Politik nicht bezahlt werden oder nicht so komfortabel sein sollte. Was sagen Sie dazu?
Natürlich verdiene ich mehr als der Durchschnittsbürger. Aber wir arbeiten auch viel mehr als der Durchschnitt. Beispielsweise eine Finanzierung für die Kindergrundsicherung zu finden ist viel Arbeit und kostet viel Kraft und Zeit. Ich arbeite jede Minute, in der ich wach bin. Wer mir eine DM schickt, der weiß nicht, ob ich gerade die Hand meines kranken Kindes halte oder in der Badewanne bin. Ich bin immer erreichbar. Alles, was wertvoll im Leben ist, Beziehungen zum Beispiel, laufen dadurch Gefahr, kaputtzugehen.
Wenn ich meine Abgeordnetendiät gegen all meine Stunden Verpflichtungen rechne, komme ich auf einen deutlich geringeren Stundenlohn. Das ist deutlich weniger Geld, als es klingt. Die Behauptung, Politiker*innen würden sich bedienen, ist populistische Propaganda.
Michael Roth von der SPD wünscht sich, dass vor allem weniger resiliente Menschen in die Politik gehen, damit sich an dieser Norm etwas ändert.
Ich glaube nicht, dass es ausgeschlossen ist, dass Menschen mit weniger Resilienz in die Politik gehen. In meiner Erfahrung bleiben aber alle Menschen, die sich nicht zu 100 Prozent mit ihrem gesamten Leben in die Politik stürzen, irgendwann auf der Strecke. Selbst Kinder zu haben, ist schon der maximale Nachteil. Und viele der absoluten Spitzenpolitiker haben keine Kinder. Das heißt, Machtgefüge entstehen dadurch, dass ich jede freie Minute in Netzwerke stecke.
Wir hatten einen Girls‘ Day im Landtag und bei einer Plenarsitzung wurde die redende Senatorin vom halben Plenarsaal niedergebrüllt. Und danach haben die Mädchen dann gefragt: „Warum sollte ich diesen Job machen wollen?“ Wir denken darüber natürlich gar nicht mehr nach. Aber wie soll ich Menschen dazu motivieren, wenn es keine Eigenmotivation gibt?
Frauen müssen lernen, Frauen zu fördern, zu unterstützen und sich gemeinsam stärker zu machen.
Was verstehen Sie unter Demokratie?
Demokratie ist eine Vielfalt von Meinungen. Wir haben den Job, miteinander diese Meinungen zu diskutieren. Möglichst viele Meinungen in mir abzubilden – das ist nicht mein Job. In der Politik kannst du nichts Schlimmeres machen, als dem hinterherzurennen, was andere wollen. Ich bin hier, weil ich eine Überzeugung habe und Haltung zeige. Und wenn das den anderen nicht passt, prima (lacht). Wenn ich diese Welt zu einem besseren Ort machen möchte, mich aber nicht traue, dafür zu stehen, wofür bin ich dann?
Frauen leisten noch immer die meiste Care-Arbeit, Politik ist dadurch exklusiv. Was hat das mit der „Altherrenriege“ zu tun?
Unsere Gesellschaft ist total patriarchal strukturiert, wenn es darum geht, wem Kompetenzen zugetraut werden. Sigmar Gabriel [2009 bis 2017 SPD-Bundesvositzender] und Andrea Nahles [2018 und 2019 Vorsitzende der SPD] hatten gleichzeitig ein Kind bekommen. Beide nehmen einen Wochentag frei. Sie bekommt einen Shitstorm, er kriegt einen Candystorm. Und es gibt unendlich viele Beispiele, warum es für Frauen ungleich schwerer ist, öffentliche Positionen zu bekleiden.
Können private Entscheidungen von Politikerinnen von der Öffentlichkeit überhaupt je als richtig bewertet werden?
Ich glaube, dass Frauen oft unter schärferen Maßstäben leiden. Frauen sind ja in der Politik. Aber tatsächlich zweifeln sie häufiger, sind zeitlich mehr gebunden, schneller an dem Punkt aufzugeben und kommen schwieriger an Machtnetzwerke. Diese Machtnetzwerke sind an Männern orientiert. Und Männer verhindern, dass Frauen an Macht kommen, es sei denn, es bringt ihnen etwas. Solange Frauen nicht lernen, Bande zu bilden und die Männernetzwerke auszustechen, werden sie das Nachsehen haben.
Trotzdem müssen wir Männer überzeugen, Privilegien abzugeben. Denn es ist in Ordnung, sie zu teilen.
Braucht es dafür wirklich only-women-Netzwerke?
Ja! Frauen müssen lernen, Frauen zu fördern, zu unterstützen und sich gemeinsam stärker zu machen. Das patriarchale System hat ja hier genau seinen Kern: Das Männer immer Männer fördern. Frauen haben also solange das Nachsehen, wie es Ihnen nicht gelingt, eigene Banden zu bilden. Meine Haupterkenntnis ist: Auch ich muss so viele Frauen wie möglich mitziehen. Alleine gewinnen wir diesen Kampf nicht!
Männer behaupten oft, „für alle“ zu stehen. Sind „Frauenthemen“ überflüssig?
„Die unsichtbare Frau“ ist ein super Buch dazu, wie alles im Leben auf Männer genormt ist. Genau deshalb braucht es Repräsentanz von Frauen und Frauenthemen. Weil wir bislang nicht vorkommen. Diese Annahme ist eine diskriminierende und ignorante Einstellung, wo ich nur sagen kann: Informier dich mal. Irgendwann hat man einfach keine Lust mehr, die Diskussion übers Patriarchat zu führen. Trotzdem müssen wir Männer überzeugen, Privilegien abzugeben. Denn es ist in Ordnung, sie zu teilen.
Frau Kapek, vielen Dank für das Gespräch.
Gerne.
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