Reportagen ziehen das Publikum in den Bann und zeigen Geschehnisse hinter harten Fakten. Doch kürzlich ist die Darstellungsform in Verruf geraten. Zwei Reporter*innen und ein Reportagefotograf berichten.
Leuchtend blauer Himmel reflektiert in den verspiegelten Fensterscheiben der Hochhäuser. Bunte Plakate mit Sprüchen wie „Gates, du bist schon verloren!“ oder „Stoppt die Experimente mit eurer Impfung!“ bewegen sich im mäßigen Gleichschritt durch die Straßen in Berlin-Mitte. Mittendrin: Julius Geiler. Der Reporter berichtet von der Querdenken-Demonstration via Twitter. Um ihn herum werden Menschen darauf aufmerksam, wütend, nähern sich mit lauten Drohungen. Es fängt an mit Schubsen, dann wird daraus mehr, Schläge, bis ihm schwarz vor Augen wird.
Das ist zwar ein heroischer Reportagen-Einstieg – entspricht aber nicht der Realität. Dass die Reportage Journalist*innen dazu verleitet, Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verschwimmen zu lassen, ist ein fortwährender Vorwurf an die journalistische Darstellungsform. Ausgelöst wurden diese durch einen der größten Fälschungsskandale im deutschsprachigen Journalismus: dem Fall von Claas Relotius.
Reportage im Journalismus: Sagen, was ist
Relotius ist festangestellter Redakteur im Gesellschaftsressort des Spiegels, als sein Kollege Juan Moreno auf Unstimmigkeiten in seinen Texten aufmerksam wird. Eine Untersuchungskommission prüft die knapp 60 Texte, die von oder mit ihm entstanden sind. Die Bilanz: viele davon sind gefälscht, vom leichten Hinzudichten bis zum freien Erfinden ist alles dabei. Im Abschlussbericht, Mai 2019, räumt der Spiegel ein: Der Fall Relotius „hat den Ruf des SPIEGEL und den Ruf einer journalistischen Gattung in Deutschland beschädigt, der Reportage.“ Auch der Reporterpreis verlor an Geltung, weil Relotius mehrfach mit diesem für seine gefälschten Texte ausgezeichnet wurde.
Doch was ist drei Jahre nach Aufdeckung des Fälschungsskandals aus der Reportage geworden? Warum gibt es die Reportage noch, obwohl der Umgang mit der Darstellungsform umstritten ist?
Reporter vor Ort: Julius Geiler zwischen Querdenkern und Gefahren
„Körperliche Anfeindungen hatte ich als Reporter noch nicht wirklich, aber virtuell geht das bis hin zu Morddrohungen und der Veröffentlichung meiner Adresse.“ Julius Geiler ist Tagesspiegel-Reporter und berichtet vor allem über die rechte Szene und die Querdenken-Bewegung. Seit der Berichterstattung ist es gefährlicher vor Ort zu sein, Kamerateams haben nun meistens Begleitschutz. Auf den Demonstrationen würde er bloß ein Handy brauchen, da er über Twitter berichtet und demnach nicht so stark auffällt.
Auf die Frage, ob die Reportage mittlerweile besser überprüft wird, antwortet Geiler: „Nein, auf keinen Fall. Bei vielen Redaktionen passiert das immer noch komplett auf Vertrauensbasis.“ Es fehle an Kapazitäten, auch generell für eine inhaltliche Überprüfung. Der junge Reporter habe auch schon Situationen erlebt, in denen er sich Geschichten vorgestellt habe und bei seiner Recherche kam das dann tatsächlich so. „Da dachte ich dann: Das kann ich so nicht aufschreiben, jeder wird sagen, das hast du dir ausgedacht.“ Somit hat Geiler Fotos gemacht und Beweise aufgehoben, falls jemand fragen sollte. „Wurde ich aber nie.“
Unterhaltsam aber relevant: Die Aufgaben der Reportage
Ganz anders sieht das Maria Christoph. „Bei meinen Reportagen wird konkret nach Primärquellen gefragt, damit nicht einfach Behauptungen unterstellt werden können.“ In einem vor kurzem erschienenen Zeit-Dossier, musste sie die Aussagen der Betroffenen untermauern: „Dafür haben wir zusätzliche Belege gesammelt wie einen Arztbrief, Arbeitszeitnachweise oder die Aussagen von Angehörigen.“
Die freie Reporterin arbeitet für den Bayerischen Rundfunk, Die Zeit und ikone.media. In der Redaktion von PULS, dem jungen Content-Netzwerk des BR, begleitet sie Filme von der Idee bis zum Schnitt.
Die Reportage sieht sie als eine Darstellungsform, die es Journalist*innen ermöglicht, komplexe Zusammenhänge verständlich aufzubereiten und dem Publikum unterschwellig zu vermitteln.
Christoph hat im letzten Jahr den Reporterpreis für ihre Mitarbeit am Podcast „Affäre Deutschland – die schwarzen Konten der CDU“ erhalten. Ob man sich denn über den Reporterpreis noch freuen könne, bejaht sie. „Aber das Wichtige ist doch, inwiefern eine Recherche auch Diskussionen außerhalb der Journalismus-Bubble anstoßen kann.“ Sie freut sich vor allem dann, wenn ihre Arbeit Menschen bewegt oder etwas in dem Bewusstsein eines Menschen verändert.
Authentizität und Manipulation: Die Reportagefotografie
Bei all der Konzentration auf textliche Richtigkeit, sollte die Wirkung der Reportagefotografie nicht vergessen werden, so der Fotograf Andi Weiland. „Fotografie hat den Ruf, authentisch zu sein, aber eigentlich ist sie sehr anfällig für Manipulation, vielleicht sogar noch anfälliger als ein Text.“ Weiland fotografiert für Redaktionen, Medienmachende und Blogger*innen. Zur Sicherstellung würden viele große Nachrichtenredaktionen nur noch Rohmaterial annehmen, um Fälschung durch Bildbearbeitung vorzubeugen.
Die Aufgaben von Fotografie in der Reportage sind sehr vielfältig. Einerseits gelten sie als Beweisstück für die Recherche der Journalist*innen, andererseits bilden Fotos ein kollektives, gesellschaftliches Gedächtnis. Sie bleiben im Kopf und man kann sich ihnen nicht entziehen wie dem Text.
In einem sind sich Journalist*innen und Fotograf*innen von Reportagen aber einig: „Alle müssen wissen, dass wir nur eine Perspektive zeigen und nie den Anspruch auf eine allumfassende Wahrheit erheben können.“