Wie sieht jüdisches Leben in Deutschland aus? Lisa Mika fragt für politikorange im Jüdischen Museum Westfalen nach. Auf der Suche nach einer Gegenwart mit Aushandlung von Vergangenheit. Zwischen Klischee und Widerspruch.
Vom Bahnhof Dorsten ist es nicht weit bis zur Straße gegenüber vom Jüdischen Museum Westfalen, die ein gepflegter Wassergraben ziert. Und ein Polizeiwagen, in dem zwei Polizist*innen sitzen. Seit im Frühjahr Raketenangriffe zwischen Israel und Palästina die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen und es in Deutschland zu antisemitischen Ausschreitungen kommt, steht der Wagen wieder dort im vorderen Bereich. Eine Schutzmaßnahme, die vor vielen jüdischen Einrichtungen in Deutschland vorbeugend getroffen wird. Dass es die Jahre davor Ruhe vor dieser Maßnahme gab, erzählt Kurator und Historiker Thomas Ridder, der das Museum seit kurz vor seiner Öffnung vor knapp 30 Jahren begleitet.
Mit gefalteten Händen sitzt er im Garten des Museums. Heute wird hier die dritte Dauerausstellung mit dem Titel „L`Chaim! Auf das Leben! Jüdisch in Westfalen“ gezeigt.
Thomas Ridder ist, wie auch die meisten Mitarbeitenden im Museum, selbst nicht jüdisch. Mit viel Zeit und Gelassenheit erzählt er von der Geschichte des Museums und seiner Wahrnehmung, als Außenstehender mit Kontakten nach innen, von der Entwicklung jüdischen Lebens. Das Museum gehe auf die Initiative der Geschichtswerkstatt „Dorsten unterm Hakenkreuz“ zurück. Ridder lacht etwas, als er erklärt, dass er den Schwerpunkt heute stärker auf die Gegenwart legen würde, als damals, als das jüdische Thema noch völlig neu war.
Wer ist hier verklemmt?
Lauter wird sein Tonfall, als er davon spricht, dass nicht-jüdische Personen heute ein Problem damit haben, das Wort ‚Jude‘ zu benutzen. Juden*Jüdinnen haben das Problem nicht, denn sie „sind es ja“. Damit wird das deutsche Verklemmtsein im Bezug auf Juden*Jüdinnen kritisiert. ‚Jude‘ ist in vielen Köpfen ein Schimpfwort. „Weil jüdisches Leben mittlerweile stärker in den Medien gezeigt wird, hat es sich in den letzten Jahren teilweise verbessert“, erzählt Ridder. Doch auch heute noch ist für viele die einzige bekannte Rolle für Juden*Jüdinnen in Deutschland die Opferrolle. Auch das ist Teil der jüdischen Erfahrung in einer deutschen Gesellschaft, die beim Judentum immer auch an den Holocaust denkt. Dieser ist zwar Teil der jüdischen und deutschen Geschichte, doch viele Jüdinnen und Juden finden, dass die Schoa nicht den Schwerpunkt bestimmen sollte, wenn es um lebendiges jüdisches Leben heute geht. Sie sind auch nicht alle Zeitzeug*innen oder haben familiengeschichtliche Bezüge zur Schoa.
Bei dem Gedanken an eine Ausstellung kommen Bedenken auf. Jüdisches Leben gibt es hier und jetzt, in Gemeinden, Familien, Vereinen und eben überall, wo sich Juden*Jüdinnen aufhalten. Kann das wirklich in einem Museum ausgestellt werden? Welchen Beitrag kann eine Ausstellung leisten, ohne wieder Klischees zu eröffnen? Stärkt ein Museum nicht die Vorstellung davon, dass etwas ganz weit weg von einem selbst ist? Oder in der Geschichte liegt?
Die Dauerausstellung des Museums soll, um das zu vermeiden, den Schwerpunkt auf die lebendige Darstellung jüdischen Lebens bis in die Gegenwart legen: „Wir sind kein Holocaustmuseum und keine Gedenkstätte. Vielfach haben Menschen das im Kopf und können sich nicht auf die Fröhlichkeit vom tatsächlichen jüdischen Gemeindeleben einlassen.“, sagt Ridder. Natürlich spielt die Schoa eine Rolle in der jüdischen Geschichte, aber hier nimmt sie eben nicht den Schwerpunkt ein. So gibt es Raum für anderes Wissen, beispielsweise über Essen, hebräische Schreibmaschinen oder jüdische Promis, wie die im Ruhrgebiet geborene IT-Pionierin Stephanie Shirley. Eine Sonderausstellung beschäftigt sich mit ‚Provenienzforschung‘: Der Suche nach der Herkunft der Gegenstände, um aufzuklären, ob sie beispielsweise zur NS-Zeit unrechtmäßig entwendet wurden, bevor sie das Museum kaufte. Zielsetzung ist, diese an Besitzer*innen oder Nachkommen zurückzugeben.
Gründe zum Feiern
Das Gemeindeleben ist besonders seit Mitte der 90er Jahre aufgeblüht. Mit der Zuwanderung von etwa 220.000 Juden*Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion wurde es in den wachsenden Gemeinden wieder möglich, neben Beerdigungen auch das Leben zu Feiern: In Form von Jugendgruppen, Hochzeiten, Bar Mizwa und Bat Mizwa, Sederabenden oder Chanukkafeiern im Gemeindesaal. Die Migration aus der ehemaligen Sowjetunion zeigt beispielhaft auf, dass jüdische Erfahrungen vielfältig sind; durch Migration aus verschiedensten Gebieten geprägt. Es gibt mehr als die eine jüdische Erzählung.
Was bei jüdischen Festen traditionell passiert, wird in der oberen Etage der Ausstellung in blauen Farbtönen präsentiert. Eine kreisförmige Auslage bietet Informationen über die Feste, wie sie im Laufe des jüdischen Jahres gehalten werden. Es gibt Hörmaterial, Videoreportagen, Infotexte und Dinge zum Anfassen, wie Kochbücher oder Speisen aus Plastik, die am Sederabend auf dem Sederteller liegen können. Doch besonders an diesem Punkt ist nicht zu vergessen: Nicht jede*r Jude*Jüdin ist religiös oder feiert jüdische Feste traditionell. Der Anspruch, eine lebendige Ausstellung zu gestalten, ist zu merken. Traditionelle Feste, geschichtliche Erzählungen, schwarz-weiß Bilder und Schoa-geprägte-Biografien sind trotzdem Teil der Ausstellung, so wie sie auch Teil jüdischer Erfahrung sind. Das Museum ist ein Ort des Lernens über mögliche Verbindungen jüdischer Lebenserfahrung. Oder über sich selbst. In der Ausstellung sind zwei ältere Männer, einer von ihnen trägt eine kurze Sporthose und eine Markenjacke. Er erzählt dem anderen in angeregtem Ton von jiddischen Wörtern, an die er sich von seiner Mutter erinnert.
Gründe zum Lernen
Das Museum ist also ein Lernort. Und doch steht dieser Streifenwagen vor dem Museum. Warum ist er dort? Thomas Ridder schlägt eine andere Frage vor: „Warum muss er dort stehen?“ Mit einem Hinweis auf die gesellschaftlichen Entwicklungen seit Corona beantwortet er diese Frage selbst: „Er steht dort nicht, weil wir oder die Polizei es toll finden, sondern weil es in der Gesellschaft Kräfte gibt, die nach wie vor jüdisches Leben und jüdische Einrichtungen bedrohen.“ Damit sind die zuvor genannten Auseinandersetzungen um Israel und Palästina gemeint, aber auch die Demonstrationen, die unter dem Label ‚Querdenken‘ gegen die Corona-Maßnahmen stattfinden. Sie bringen immer wieder durch die Verbreitung antisemitischer Verschwörungserzählungen große Menschenmengen auf die Straße. Das hat innerhalb des letzten Jahres gezeigt, dass Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft weiterhin Anschluss findet. Für Juden*Jüdinnen ist Antisemitismus dabei nichts Abstraktes, sondern eine Gewalterfahrung und Bedrohungssituation. Das Problem liegt dabei bei den Nichtjuden*jüdinnen, die die absurdesten Erzählungen über Juden*Jüdinnen glauben, um sich komplizierte Zusammenhänge zu erklären. Auch das ist Teil der örtlichen jüdischen Erfahrung. Aber eben nur ein Teil.
Zum Schluss…
Was lässt sich also lernen über den Besuch im Jüdischen Museum Westfalen? Gedenkstätten gibt es an anderen Orten, und es muss sie geben; doch eben auch den Freiraum davon. Jüdisches Leben ist kein Aufruf zu Betroffenheit und keine Gedenkveranstaltung. Es ist lebendig, vielfältiger als oft gedacht, und nichts Mystisches: „Man darf in der Ausstellung lachen, singen, laut sein“, so gibt uns Thomas Ridder die Aufforderung höchstpersönlich.
Dafür müssen nicht-jüdische Personen ihre Denkmuster aufbrechen, normal mit Juden*Jüdinnen sprechen und sie nicht ausschließlich als Opfer oder schlimmer noch, als das Böse sehen. Denn dieses Umdenken ist nicht Problem der Juden*Jüdinnen. Und erst dann lässt sich Vielfalt von jüdischen Lebenswelten sehen.