Zappeln, strampeln, schuften – vergeblich 

Michel Friedmans autobiographischer Roman „Fremd“ wurde im Berliner Ensemble als Lesung inszeniert, bei der Sibel Kekilli dem Text Stimme und Gesicht lieh. Eine Rezension.  

Schauspielerin Sibel Kekilli bei der Lesung von ”Fremd” im Berliner Ensemble. Foto: Jugendpresse Deutschland/Lisa Schmachtenberger

Wenn wir über Erinnerungskultur sprechen, geht es meist um die unmittelbare Zeit der Verfolgung, des Leids und des Holocausts. Aber wie ging es für die Menschen, die diese Zeit überlebt haben, weiter? Die traumatisiert und ohne Eigentum zurück in ihre alte Heimat kamen, aus der man sie vertreiben hat – und die sich nun ein neues Leben aufbauen mussten, in einer Zeit, in der Großteil nicht über die Verbrechen der NS-Zeit sprechen wollte? 

Michel Friedman wird 1956 in Paris geboren, als staatenloser Sohn zweier Holocaustüberlebender „Lebenstrauriger“, die aus Polen stammten. Später zieht die Familie nach Deutschland, die Großmutter bleibt in Paris, weigert sich, im Land der Mörder zu leben. Doch nur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ist für die heimatlose Familie kein Platz im Land der Täter: Während die Eltern Friedmans in Deutschland nach einer Heimat suchen, traumatisiert vom Getto und vom Holocaust, wächst zwischen Angst und Trauer ein Kind auf. Das Kind, das es einmal besser haben soll, das auf keinen Fall krank werden oder verletzt werden darf, das zum Leben, zum Überleben bestimmt ist.   

„Die Angst ist mein Lebensgefährte“, schreibt Friedman in seinem autobiographischen Roman „Fremd“ (2023). Er wird sozialisiert in einer Gesellschaft, die keine Überlebenden und die Auseinandersetzung mit ihnen will. Die von ihm verlangt, mitzulaufen und zu funktionieren, und ihn trotz späterer Einbürgerung und Spitzenleistungen in Schule und Studium immer als „den Fremden“ betrachten wird. Als „Ich im Transit“ bezeichnet er die Suche nach sich selbst – eine Suche, die ihn zu einem der bekanntesten Publizisten des Landes macht, zum späteren Publizisten und Talkmaster, zum Mitglied im CDU-Bundesvorstand, stellvertretenden Zentralrats der Juden in Deutschland und Herausgeber der Jüdischen Allgemeinen.  

politikorange-Autorinnen (v.l.n.r.) Lotta Berendes-Pätz, Lisa Schmachtenberger und Hannah Engel bei der Aufführung von “Fremd” im Berliner Ensemble. Foto: Jugendpresse Deutschland/Lisa Schmachtenberger 

Im Berliner Ensemble wurde Friedmans Buch nun als Lesung unter der Regie von Max Lindemann inszeniert. Sibel Kekilli, national und international bekannt durch „Gegen die Wand“ und „Game of Thrones“, gibt dabei ihr Theaterdebüt. Die Schauspielerin füllt die Worte Friedmans mit Leben und personalisiert sie: Während der Lesung wird Kekilli von einer Kamera gefilmt, ihr Gesicht dabei an eine Leinwand projiziert. Sie spielt mit dem Lauten und dem Leisen, der Kraftlosigkeit und der Stärke in ihrer Stimme. Jedes Stirnrunzeln, jedes Augenbrauenzucken und jedes Kräuseln ihres Mundes prangt vor dem Publikum, übersetzt Friedmans lyrischen Text in einen eindrücklichen Film. 

Sibel Kekillis Spiel lässt die Zuschauer das erahnen, was kaum nachzuvollziehen ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Wie es ist, belastet durch die Verantwortung der Geschichte  „auf einem Friedhof geboren“ zu sein, andauernd „nicht ausreichend“ zu sein, zu „zappeln, strampeln, schuften, um nicht ein Fremder zu sein“. Was davon bleibt ist ein eindrucksvoller Einblick in eine Welt der Zerrissenheit und Fragilität und ein Mahnmal für den künftigen Umgang mit der Erinnerungskultur.  

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