
©️ Carlo Rückamp / Jugendpresse Deutschland e.V.
Menschen auf der Straße zu fragen, ob sie wählen gehen und wen sie wählen – das ist in der Zeit vor den Bundestagswahlen normal. Menschen zu fragen, ob sie nicht wählen gehen, stößt dagegen bei vielen auf Verwirrung. Natürlich gehen sie wählen oder waren schon, ist doch wichtig, gerade jetzt. Trotzdem lassen sich in Berlin-Mitte Menschen auftreiben, die nicht wählen. Das erfordert aber Geduld und so einige Gespräche auf Berlins Straßen.
Enttäuscht von der Gesellschaft
Da findet sich zum Beispiel der 85-jährige Herr Fischer*, der an einer Bushaltestelle sitzt und sagt:
„Die Gesellschaft ist kaputt. Die Menschen, die Politik, das interessiert mich alles nicht. Ich haue ab in den Amazonas.“
Wahlen, die seien für ihn überhaupt nicht mehr relevant, sagt er und erzählt weiter. Von seinen Plänen für den Amazonas. Die Menschen zerstörten alles, angefangen bei der Umwelt.
In den 85 Jahren, die Fischer schon lebt, haben sich die Art zu leben und zu arbeiten in Deutschland stetig verändert. Unsere Gesellschaft sei beispielsweise viel individueller geworden. Verändert sich eine Gesellschaft sehr stark entgegen der Werte und Vorstellungen eines Menschen, wird es schwierig für den Einzelnen, sich mit ihr zu identifzieren. Wenn ein Mensch sich dann nicht mehr zugehörig fühlt, kann er die Gesellschaft als kaputt wahrnehmen, erklärt Dr. Robert Grimm, der Leiter der Politik- und Sozialforschungsabteilung des Forschungsunternehmens Ipsos in Berlin. Das könnte die Enttäuschung von Fischer erklären, meint Politikwissenschaftler Thorsten Winkelmann von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg dazu. Es sei es für ihn naheliegend, “sich komplett abzuwenden vom bestehenden demokratischen Status quo und zu glauben, woanders sei es vermeintlich besser als hier”.
Vertrauen in den eigenen Einfluss durch demokratische Wahlen bröckelt
Bei einem Gespräch zwischen zwei Tischtennispartien erzählt Herr Abbas*, Ende 20:
„Bis vor zwei drei Jahren hab ich SPD gewählt, dann hab ich mich auch von denen distanziert. Das mit den Wahlen ist doch nur so, damit die „Bürger“ denken, sie könnten wählen. Da wird doch was gedribbelt im System. Eigentlich gewinnt der, der gewinnen soll. Wenn die CDU gewinnen soll, gewinnt die CDU; wenn die AfD gewinnen soll, gewinnt die AfD.“
Ganz absurd ist diese Vorstellung von manipulierten Wahlen nicht, meint Grimm von Ipsos. Denn wir sind im Alltag immer wieder damit konfrontiert, dass Nachrichten absichtliche Falschmeldungen verbreiten oder politische Akteure Wahlen tatsächlich manipulieren. Fälle wie der Brexit oder russische Desinformationskampagnen bestätigen diese Befürchtung. Völlig frei von Einflüssen aus den Medien, der Familie oder von Freunden ist die eigene Meinungsbildung nie. Aber freier Meinungsbildung im demokratischen System zu misstrauen, kann sich ins Extreme steigern. Man müsse im Fall des Tischtennisspielers von einem Vertrauensverlust gegenüber demokratischen Strukturen sprechen, folgert Grimm.
Das Gefühl von Machtlosigkeit spielt bei diesem Vertrauensverlust eine große Rolle. „Egal, wen man wählt, es ist wirklich schwierig, mit seiner Stimme einen sichtbaren politischen Einfluss zu haben“, erklärt Robert Grimm. Wer nicht mehr glaubt, dass die eigene Stimme eine Wahl beeinflussen kann, der sucht Erklärungen außerhalb der demokratischen Wahlen. Dann befinden wir uns im weiten Spektrum der Verschwörungsideologien. Ihnen könnten demokratische Parteien wenig entgegensetzen.
Wählen wird zu einer situativen Entscheidung
Anders steht es um den 32-jährigen Herrn Schulz*. Er schaut den Tischtennis-Spielern zu und trinkt aus einer Dose. Er blickt zu Boden, während er spricht:
„Ich hab dafür gerade keinen Kopf. Mich beschäftigen andere Themen – der Tod meiner Mutter zum Beispiel.“
Damit vertritt Schulz laut Grimm ein häufiges Phänomen: Wer nicht wählen geht, lehnt Wahlen nicht unbedingt pauschal ab. Vielmehr gehe es darum, in welchen Lebensumständen ein Mensch sich befindet. Ob man eben einen Kopf für die Wahl hat. Das kann aus den verschiedensten Gründen nicht der Fall sein. „Der eine bricht sich ein Bein, andere sind krank, der nächste hat einen Kater, weil er am Tag davor zu stark gefeiert hat“, zählt Robert Grimm einige von vielen Gründen auf. Schulz hat aber nicht nur einen Kater, sondern seine Mutter verloren. Gerade in dem sehr kurzen Wahlkampf mag da kaum Zeit und Raum gewesen sein, sich ernsthaft mit den verschiedenen Parteien auseinanderzusetzen.
Wahlen als Kosten-Nutzen-Rechnung
Dass persönliche Umstände Priorität vor den Wahlen haben, war nicht immer so, sagt Politikwissenschaftler Thorsten Winkelmann. „Der Wahlgang war früher eine staatspolitische Pflicht bis in die 90er Jahre. Das war eine intrinsische Motivation, dass jeder zur Wahl geht.“ Heute stellten viele Menschen eine Kosten-Nutzen-Rechnung an, wenn es um die Wahlen geht. „Die Ursachen für eine Nicht-Wahlentscheidung hat man sogar schon mit schlechtem Wetter in Zusammenhang gebracht“, bringt Winkelmann als Beispiel. Ist am Wahlsonntag schlechtes Wetter, gingen weniger Menschen zur Wahl. Dieses Phänomen steht stellvertretend dafür, dass viele abwägen ob sich die persönlichen Kosten mit dem Nutzen der eigenen Stimme decken. Dazu passt die Frage, die der Herr Schulz ganz am Ende des Gesprächs stellt:
„Was hat sich in den 32 Jahren meines Lebens denn verändert?“
Hier wird Schulzes Frage nach dem Wert der eigenen Stimme sichtbar. Und seine resignierte Feststellung: meine Stimme kann doch eh nichts verändern. Gleichzeitig ist er damit gedanklich bei der zentralen Motivation für demokratische Wahlen angekommen. Sie sollen mit jeder Stimme etwas verändern und die politische Landschaft mitgestalten.
Nach der Einschätzung von Politik- und Sozialforscher Robert Grimm ist die aktuelle Wahl zum 21. Bundestag in dieser Hinsicht besonders gewesen. Wie die Wahl ausgeht und welche Regierungen möglich werden, sei diesmal nicht so leicht vorhersehbar gewesen. So entsteht das Gefühl, mit der eigenen Stimme etwas verändern zu können. Außerdem haben diesmal starke Polarisierungen die Wahl geprägt. Klimaneutralität vs. Wirtschaft. Neoliberal vs. Sozialstaat. Rechts-populistisch vs. links-progressiv. Man konnte laut Grimm leichter als sonst erkennen, wofür man die eigene Stimme einsetzt. Der Nutzen zur Wahl zu gehen, konnte so diesmal in der Kosten-Nutzen-Rechnung überwiegen.
Bewusst ungültig wählen als Sonderfall
Trotzdem gibt es Menschen, die sich von den vorhandenen Optionen nicht angesprochen fühlen.
„Seit ich wählen darf, wähle ich ungültig. Die Politik, das interessiert mich einfach alles nicht.“
Das erzählt Frau Meiners*, Mitte 50, auf dem Potsdamer Platz neben den Resten der Mauer, die Deutschland einmal geteilt hat. Gerade in der DDR haben Menschen die Erfahrung gemacht, dass ihre eigene Stimme nicht bedeutsam ist. Es gewann in jedem Fall die SED – mit in extremer Höhe manipulierten Zustimmungsraten. Ungültig zu wählen kann ein Ausdruck dieser Erfahrung sein. Politikwissenschaftler Winkelmann benennt einen weiteren Hintergrund dafür, bewusst ungültig zu wählen. Beispielsweise rufe die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands regelmäßig dazu auf, um mit demokratischen Mitteln Unzufriedenheit mit dem System auszudrücken. Wirklich gesicherte wissenschaftliche Informationen gebe es über bewusst ungültiges Wählen allerdings nicht.
Demokratie ist nicht passiv
Diese vier Menschen und ihre möglichen Beweggründe sind nicht repräsentativ für die Nicht-Wähler:innen. Aber sie sind bei Weitem nicht die Einzigen, die ihre Stimmen nicht nutzen. Winkelmann erklärt, es gebe „ein Panorama an Zugängen für Politikenthaltung“. Seien es Menschen, die sich schlicht nicht um Politik scheren. Oder die, die unzufrieden mit einer einzelnen Partei sind. Oder solche, die Demokratie nicht für funktionsfähig halten. Es geht bis hin zu denen, die den Staat und die deutsche Verfassung als solches ablehnen.
Dennoch gilt laut Thorsten Winkelmann: „Eine grundsätzliche Bejahung zum System Demokratie liegt in der großen Mehrheit vor.“ Die Wahlbeteiligung bei der aktuellen Bundestagswahl war so hoch wie seit den 90er Jahren nicht mehr. Die Wahl hat diesmal Millionen Nicht-Wähler:innen mobilisiert. Robert Grimm vom Marktforschungsunternehmen Ipsos schätzt die Gesellschaft vor allem im Kontext der Bundestagswahl als außerordentlich demokratisch ein. Pluralistische Positionen und sich im politischen Konflikt auszutauschen, seien essenziell in einer Demokratie. Im Rahmen dieser Wahl sind zudem viele Menschen auf die Straße gegangen. Sie seien durch die politische Debatte mobilisiert worden. Darauf kommt es laut Grimm an; dass Demokratie nichts Passives ist.
*Die Namen in diesem Artikel sind verändert, um die Anonymität der Menschen zu wahren.