Prof. Hans Vorländer ist Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung und des Mercator-Forums Migration und Demokratie an der TU Dresden. Für politikorange analysiert er, welchen Einfluss Migrationsskepsis in Sachsen auf die Bundestagswahl hat. Valentin Dreher.
Professor Vorländer, laut einer Umfrage des MDR sehen 27% der Sächsinnen und Sachsen vor der Bundestagswahl Zuwanderung als das größte Problem in Deutschland. Genauso viele stimmten bei der vergangenen Bundestagswahl für die migrationsfeindliche AfD – der bundesweit höchste Wert für die Partei. Woher kommt die große Sorge vor Zuwanderung in Sachsen?
Prof. Vorländer: In Sachsen gibt es eine Geschichte der öffentlichen Thematisierung und Mobilisierung beim Thema Migration. Ende 2014 ist PEGIDA in Erscheinung getreten – eine Bewegung, die sich sehr stark gegen Zuwanderung, gegen die vermeintliche sogenannte Islamisierung ausgesprochen hat und gegen eine, wie sie glaubte, ungeregelte, ungesteuerte Zuwanderung. Diese Ablehnung wurde seitdem verstärkt durch die sogenannte Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016. Dadurch ist dieses Thema gerade in Sachsen in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gerückt, sodass das Thema nach wie vor politisiert wird – vor allem von den migrationsabwehrenden Anhängern der AfD und auch anderer Splittergruppen, die im Bereich des rechten und rechtsextremen Spektrums in Sachsen aktiv sind. Diese erreichen durch das Thema Migration eine hohe Sichtbar- und politische Mobilisierbarkeit. Die Thematisierung gerade durch Gruppen, die davon glauben, profitieren zu können, hält dieses Thema virulent und manifest in der politischen Öffentlichkeit.
Das heißt, die vor allem durch die Corona-Pandemie gesunkenen Zahlen an Asylanträgen in Deutschland haben auf das öffentliche Stimmungsbild erstmal keinen Einfluss?
Prof. Vorländer: Das kann man erst dann beurteilen, wenn man zu diesem Zusammenhang eine empirische Studie machen würde. Aber wir sehen, dass Migration nach wie vor ein großes Thema ist in Sachsen. Und das liegt eben an der Mobilisierbarkeit dieses Themas durch rechte und rechtsextreme Gruppierungen, die es in der Öffentlichkeit halten. Das ist völlig unabhängig von der Zahl der Zugewanderten, unabhängig von den Zahlen der Asylanträge, auch unabhängig von der Frage, ob die Integration der Geflüchteten erfolgreich war oder nicht.
„Sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Zuwanderung“
Lassen Sie uns einen Blick in die Geschichte werfen – die DDR (von der Sachsen ein Teil war) und die BRD haben mitunter sehr unterschiedliche Ansätze in ihrer Migrationspolitik verfolgt. Sind die Folgen dessen in Sachsen bis heute spürbar?
Prof. Vorländer: In Ost- und Westdeutschland reden wir von sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit Zuwanderung. Die DDR kannte nur Vertragsarbeiter, die aber keine Kontakte hatten mit der einheimischen Bevölkerung. Sie mussten auch sehr schnell das Land wieder verlassen. In Westdeutschland gibt es schon seit vielen Jahrzehnten Erfahrungen mit Einwanderung, besonders durch die Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren. Hier gibt es sozusagen einen reichen Erfahrungsschatz. Was wir in der Migrationswissenschaft immer wieder bestätigt finden, ist die sogenannte Kontakthypothese. Das heißt, dort wo die Menschen schon lange und zahlreich persönliche Kontakte hatten, da gibt es positivere Einstellung gegenüber Migration als dort, wo eben solche Kontakte noch nicht so zahlreich sind oder noch nicht so lange bestehen. Und das macht den Unterschied aus. Der sehr schnelle und für Ost-Verhältnisse zahlreiche Zuzug nach 2015 hat auf manche in Ostdeutschland, vor allem in den ländlichen Regionen, verstörend gewirkt. Dennoch wächst der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Ostdeutschland – hier setzt derzeit ein Gewöhnungsprozess ein.
Sie haben von der Kontakthypothese gesprochen – im jährlichen MIDEM-Report aus dem Jahr 2020 macht Ihr Mercator-Forum eine weitere interessante Beobachtung: Die Wahlergebnisse der AfD sind dort am stärksten, wo in den letzten 20 Jahren besonders viele Menschen weggezogen sind – das betrifft vor allem ländliche Regionen in Sachsen. Wieso haben gerade Menschen in Regionen, die von massivem Wegzug betroffen waren, überdurchschnittlich viele Sorgen vor dem Zuzug von Migrant*innen?
Prof. Vorländer: Das ist in der Tat so. In Sachsen haben viele Menschen zwischen 2000 und 2020 die ländlichen Regionen verlassen, da dort die Arbeitsplätze fehlten – junge Leute haben ihre Chancen eher in den großen Städten im Osten, Leipzig oder Dresden gesehen oder aber – noch viel einschneidender – in Westdeutschland oder im Ausland. Das hat zur Ausdünnung und Überalterung der ländlichen Regionen geführt. Vor allem unter den älteren Menschen fühlen sich viele alleingelassen. Gleichzeitig ist auch die öffentliche Daseinsvorsorge geringer geworden. Kliniken sind geschlossen, der öffentliche Personennahverkehr eine Zeit lang sehr ausgedünnt worden. Das führte zu diesem Gefühl des Zurückbleibens im wortwörtlichen Sinne. Diese Gefühle werden immer sehr deutlich von rechten Gruppierungen angesprochen und – ebenfalls im wortwörtlichen Sinne – auch „eingesammelt“, indem Menschen, die dieses Einsamkeitsgefühl haben, auch Möglichkeiten angeboten werden, zueinander zu finden. Vor allem in Sachsen haben die Rechten schon früh Jugendkulturen zu etablieren versucht und damit vor allem jungen Männern ein neues Gemeinschaftsgefühl gegeben – und das Gefühl, die eigentlichen Bewahrer ihrer Heimat zu sein, die von anderen zerstört wird.
„Zuziehende Fachkräfte sind skeptisch“
Konnten Sie in dieser Studie auch eine gegensätzliche Einstellung feststellen, die Migration als wertvolles Mittel gegen Fachkräftemangel und Strukturschwäche begreift?
Prof. Vorländer: Es ist ein großes Problem, dass Zuwanderung im Wesentlichen als Risiko gesehen wird und nicht als Chance. Bundesweit benötigen wir eine Fachkräftezuwanderung von mindestens 400.000 Menschen im Jahr. Auch in Sachsen gibt es einen hohen Bedarf. Deshalb versuchen Politik, Wirtschaftsverbände und Unternehmen die Akzeptanz in der Bevölkerung zu steigern. Leider ist Ostdeutschland aber oft auch nicht die erste Wahl von Fachkräften: Die Löhne in Ostdeutschland sind in der Regel nach wie vor geringer als in Westdeutschland. Gleichzeitig gibt es auch regional ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit und eine starke AfD im Osten Deutschlands, wodurch aus dem Ausland zuziehende Fachkräfte oft skeptisch sind, ob sie sich tatsächlich mit ihren Familien im Osten niederlassen können.
Fassen wir zusammen: Das Thema Migration ist nach wie vor hochgradig politisiert, und insbesondere in einigen Regionen in Sachsen mobilisiert es zahlreiche Wähler*innen. Wo sehen Sie die konkreten Auswirkungen der öffentlichen Thematisierung, etwa durch die AfD, auf die Bundestagswahl am 26.09.?
Prof. Vorländer: Das Migrationsthema ist bundesweit nach der Mehrheit der Befragungen nicht mehr das allergrößte Problem. In Sachsen gibt es aber immer eine ganz klare Profilierung der AfD bei diesem Thema. Und selbst wenn das Thema kaum noch Relevanz hätte, das heißt, wenn es keine hohen Zahlen von Asylbewerberinnen und –bewerbern oder erhebliche Fluchtbewegungen gibt, wird es trotzdem immer wieder nach vorne gespielt. Bei jedem Auftritt macht die AfD davon Gebrauch. Und insofern wird die AfD im Freistaat Sachsen sehr stark wahrgenommen mit ihrer Opposition zur Migration, zur Zuwanderung, zur Aufnahme von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern. Gerade deshalb wird im Freistaat Sachsen die AfD auch bei der Bundestagswahl wieder stark abschneiden.
„AfD malt Bedrohungsszenario an die Wand“
Welchen Einfluss auf die öffentliche Debatte hat das erhöhte Potenzial für Migration aus Afghanistan, das nach dem gescheiterten NATO-Abzug und dem Wiedererstarken der Taliban entstanden ist?
Prof. Vorländer: Es gibt zwei Antworten. Das eine ist: Im Wesentlichen wird dieses Thema ja nicht diskutiert in der Öffentlichkeit, auch nicht in den sogenannten Triellen, also in den Diskussionen zwischen den Kanzlerkandidatin und den Kanzlerkandidaten. Das heißt, man versucht dieses Thema möglichst aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Wenn man sich auf der anderen Seite aber die Stellungnahmen der AfD anguckt, auch in Diskussionen oder in Interviews, dann wird immer sehr deutlich gesagt: Wir wollen aus Afghanistan keine Flüchtlinge aufnehmen, sie sollen dort, in Nachbarländern, untergebracht werden. Und selbstverständlich soll auch weiter dahin abgeschoben werden. Das heißt, wo die anderen das Thema aus dem Wahlkampf herausnehmen, versucht die AfD das Thema sehr stark hineinzubringen. Aus der Erfahrung der letzten Wahl kann man auch bestätigen, dass sie damit punkten kann. Die Ängste sind eigentlich in der Sache nicht gerechtfertigt, aber die AfD malt ein Bedrohungsszenario an die Wand, um damit die Leute für sich zu gewinnen.