Immer noch werden die Genitalien Intersexueller Kinder* operiert, um sie entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht anzugleichen. Das soll nun mit einem Gesetz der großen Koalition verboten werden. politikorange-Redakteurin Helene Ruf berichtet.
Nach der Geburt lautet meist die erste Frage: „Na, was ist es denn geworden? Junge oder Mädchen?“ Manchmal kann diese Frage medizinisch aber nicht genau beantwortet werden. Laut Statistischem Bundesamt werden in Deutschland jedes Jahr etwa 300 Intersexuelle Kinder* geboren. Sie besitzen sowohl männliche, als auch weibliche Geschlechtsmerkmale. Dem geschlechtlichen Erscheinungsbild zufolge (also Hormonen, Chromosomen und Genitalien) können sie weder dem weiblichen, noch dem männlichen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden. Es gibt über 3000 verschiedene Varianten der Intersexualität.
Operation Intersexueller Kinder
Bis heute werden die Genitalien dieser Kinder* oft operiert – ohne Zustimmung der noch nicht geschäftsfähigen minderjährigen Kinder. Derartige Eingriffe sind mit Zustimmung der Eltern erlaubt und eine gängige ärztliche Praxis. Operationen dieser Art sind unumkehrbar und beeinflussen somit das gesamte folgende Leben des Kindes. Das Ziel ist es, den Kindern* ein eindeutiges Erziehungsgeschlecht zu verpassen. Sie sollen also entweder als Mädchen oder als Junge großgezogen werden. Diese geschlechtsverändernden Eingriffe beruhen auf den Studien des Psychologen John Money. Er wollte den Kindern* durch diese Methode eine stabile Geschlechtsidentität sichern.
Die geschlechtliche Entwicklung des Kindes können weder Eltern noch Ärzt*innen voraussehen. Nicht selten werden Betroffene deshalb an das für sie „falsche“ Geschlecht angeglichen. Dadurch leiden sie an einer besonders fragilen Geschlechtsidentität, wie im Falle von Julien aus München. Der heute 44- Jährige wurde als intersexuelles Kind geboren, im Kindesalter aber mittels einer OP ans weibliche Geschlecht angeglichen. Demnach wurde Julien als Mädchen großgezogen, obwohl er sich eigentlich eher als Junge fühlte. Heute lebt er als Transgender-Mann.
Er fühlt sich von den Ärzt*innen hintergangen und nicht ausreichend aufgeklärt. Aus solchen unfreiwilligen OPs im Kindesalter können ein generelles Unwohlsein und ein „Fremdheitsgefühl“ im eigenen Körper resultieren.
Intersexuelle Menschen* in Deutschland kämpfen schon seit Jahren für Selbstbestimmung über ihren Körper. Ein wichtiger Schritt dafür ist das Verbot unfreiwilliger geschlechtsangleichender Eingriffe im Kindesalter. Das ermöglicht es den Kindern*, so aufzuwachsen, wie sie sind – ohne in eine nicht passende Kategorie gesteckt zu werden.
Verbot und Bedeutung unfreiwilliger Geschlechtsangleichung
Dem Grünen Politiker Sven Lehmann zufolge, ist ein solches Verbot längst überfällig. Seine Partei drängt schon seit längerem auf ein Verbot geschlechtsangleichender Operationen im Kindesalter. Dieses Verbot wurde 2017 schließlich als Versprechen im Koalitionsvertrag der großen Koalition festgehalten. Im Januar 2020 wurde erstmals ein Referentenentwurf des Justizministeriums für ein „Verbot geschlechtsangleichender Operationen im Kindesalter“ vorgelegt. Es sieht vor, geschlechtsangleichende Eingriffe im Kindesalter nur bei Lebensgefahr zu erlauben. Ab dem 14. Lebensjahr können Jugendliche dann selbst über eine mögliche OP entscheiden. Derartige Operationen im Kindesalter, die nicht unbedingt nötig sind, gelten dann als Körperverletzung. Damit soll Kindern* Juliens Weg erspart bleiben.
Wann das Gesetz in den Bundestag eingereicht wird,
ist noch unklar. Derzeit wird es noch im Justizministerium überarbeitet. Seit einem halben Jahr ist nichts mehr bezüglich des Gesetzes bekannt gegeben worden. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Susann Rüthrich zeigt sich auf persönliche Anfrage aber optimistisch: „Ich gehe davon aus, dass das endgültige Gesetz noch in dieser Legislaturperiode erlassen wird. So steht es schließlich im Koalitionsvertrag“.
Ebenso wie die Einführung des dritten Geschlechts, ist der Gesetzesvorschlag ein großer Fortschritt für die gesellschaftliche Akzeptanz Intersexueller Menschen* in Deutschland. Es ist definitiv ein wichtiges Signal der Politik an die Intersexuelle Community und spiegelt die gesellschaftliche Rückendeckung wider. Das Gesetz lässt das Motto „Come as you are“, wenigstens juristisch, für Intersexuelle Kinder wahr werden. Eltern werden in Zukunft auf die Frage “Na, was ist es denn geworden?” antworten: “Ein Geschenk der Natur.”