Die Landtagswahl in Sachsen beschäftigt viele Menschen. po-Redakteurin Charlie Wien sogar so sehr, dass sie zwei Tage vorher an nichts anderes mehr denken konnte. Ein paar persönliche Gedanken und Erlebnisse zur Wahl im Erlebnis-Protokoll.
Freitag, 15 Uhr
Ich stehe am Leipziger Hauptbahnhof. Über das Wochenende werde ich nach Dresden fahren. Am Sonntag finden in Sachsen Landtagswahlen statt und ich bin bei einer politikorange-Redaktion dabei, um darüber zu berichten. Obwohl ich noch zur Schule gehe und aufgrund meines Alters nicht wählen darf, möchte ich teilhaben an dem, was die Gesellschaft prägt: An Demokratie und Meinungsäußerung. Ich möchte vor Ort sein, wenn darüber entschieden wird, wer die nächsten fünf Jahre die Entscheidungen trifft.
Der Zug ist voll, es sind fast 30°C. Auf Instagram reiht sich Wahlwerbung an Wahlwerbung. In weniger als zwei Tagen öffnen die Wahllokale. Wie in einem Film flackern in meiner Erinnerung die vielen Schlagzeilen der letzten Wochen vor meinen Augen: „Entscheidungswahl im Osten“, „Kaum eine Koalition möglich“, „Kretschmer lehnt Koalition mit AfD ab“, „Klimawahl 2019 – Jetzt muss gehandelt werden.“
Ich fühle eine Mischung aus Wut und Angst, es ist keine gute Mischung. Angst vor den Wahlergebnissen, dem Einfluss des Rechtsrucks, Wut über die Parteien, Frustration, dass ich mich von keiner wirklich vertreten fühle.
Freitag, 18 Uhr
Als ich bei der Cockerwiese in Dresden ankomme, sitzen hundert Jugendliche im Gras. Sie reden in kleinen Gruppen von drei bis zehn Leuten, überall liegen Plakate herum und neben einer Gruppe Studierender liegen Megafone auf dem Boden. Von einer großen Bühne schallt Musik, daneben locken Stände mit Essen. Es ist die Abschlussveranstaltung von Fridays for Future Sachsen. Aber trotz Musik und dem sonnigen Wetter scheint die Stimmung gedrückt. Die Frage „Was, wenn…“ ist überall zu hören. Was, wenn die AfD in die Regierung kommt? Was, wenn es Neuwahlen gibt? Was, wenn der Klimaschutz in Sachsen unter den Tisch fällt?
Ich höre zu, mein Unbehagen wächst. Diese politischen Diskussionen und Vermutungen der gesamten vergangenen Zeit sind ermüdend, manchmal denke ich mir: „Ich kann doch eh nichts verändern, warum also damit beschäftigen?“ Andererseits gibt es auch diese leise aber unüberhörbare und immer wiederkehrende Stimme in meinem Kopf: „Nicht aufgeben! Nicht aufgeben! Nicht aufgeben!“
Freitag, 20 Uhr
Um von den politischen Gesprächen wegzukommen, gehe ich mit ein paar Bekannten in den Alaunpark. Die Ärzte schallen laut über die Wiese, es ist trotz Sonnenuntergang immer noch warm. Überall wird laut gelacht, gegessen und getrunken. Die Stimmung ist ausgelassen, einige Jugendliche haben angefangen, zu tanzen. Ich kenne die Menschen um mich herum nicht, weiß nicht, ob sie sich überhaupt mit Politik beschäftigen. Auf einmal scheint es mir so, als wären die ganzen Gedanken und sinnlosen Spekulationen über die Wahl weggefegt worden von der sorglosen Freude am Sommer.
Freitag, 22:30 Uhr
Irgendwie bin ich an den Elbwiesen gelandet. Es ist inzwischen komplett dunkel. Hier sind bestimmt 300 Leute und feiern einen Geburtstag von jemanden, die oder den keiner wirklich zu kennen scheint. Ich kenne kaum jemanden, doch die Stimmung ist auch hier gut. Dann ruft plötzlich jemand laut: „Die Bullen sind da!“. Im Augenwinkel fällt mir auf, dass er schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln trägt, ein Symbol der Neonazis, bei dem die Stahlkappen mit dem Weiß für die überlegene Stärke der weißen Gesellschaft stehen. Urplötzlich hat sich die Party aufgelöst.
Verwirrt stehe ich irgendwo im Dunkeln und fühle mich brutal aus meiner guten Stimmung herausgerissen. Durch den bloßen Anblick von Schuhen, Schuhe von jemanden, den ich nicht einmal kenne, fange ich wieder an zu zweifeln: Ist Sachsen wirklich so, wie die großen Medien berichten: Ein braunes Nazi-Land? Oder doch eher, wie ich es aus Leipzig kenne: Vielfältig, engagiert, diskursbereit? Lebe ich tatsächlich in meiner komfortablen Blase mit Menschen, die für die Demokratie einstehen, oder sind die vielen Meldungen über Sachsen einfach Schwarzmalerei?
Freitag, 23 Uhr
Auf dem Weg in mein Hotel komme ich an eine Haltestelle, an der viele junge Menschen sitzen und auf die Straßenbahn warten. Ein Mädchen, vielleicht 16 Jahre alt, zeigt auf ein Wahlplakat der AfD, auf dem steht: „Bunte Vielfalt? Haben wir schon!“. „Lass uns das abreißen“, ruft sie wütend einem Jungen zu, er winkt ab, das Plakat sei zu hoch befestigt. Eine weitere Jugendliche mischt sich ein: „Man könnte auf den anderen Plakaten hochklettern!“. Sie beginnen, lautstark über weitere Möglichkeiten zu diskutieren. Der Versuch, eine Räuberleiter aus fünf Leuten zu bilden, scheitert als die Bahn einfährt.
Samstag, 14 Uhr
Ich stehe mitten in der Dresdner Neustadt und habe mich verlaufen. Ich sehe Aufkleber mit der Aufschrift „Kein Viertel für Nazis!“. Aus einem Fenster hängt die Europaflagge. Ist das das Pegida – Dresden, das vor drei Jahren dauernd in den Nachrichten war? Ich muss lächeln. Kurz ist es so, als sei ganz Sachsen für Europa.
Samstag, 22 Uhr
Ich komme an einer Straßenkreuzung vorbei. Dutzende Leute sitzen auf der Bürgersteigkante. Bierflaschen werden herumgereicht und vor den erleuchteten Schaufenstern spielen drei Frauen Skat. An einer Ecke stehen zwei Männer, die scheinbar zu den Grünen gehören. Mit Bauchladen, Wahlprogrammen, Kugelschreibern und kleinen Tüten voll Sonnenblumensamen sprechen sie die Passanten an und machen Werbung für morgen.
Es ist eine schöne Atmosphäre und ich fühle mich, als würde ich nach Hause kommen. Jeder unterhält sich mit jedem, alle lachen und selbst die beiden Politiker sehen locker und entspannt aus, als wären sich alle einig, als würde morgen alles gut ausgehen.
Sonntag, 2:45 Uhr
Ich liege im Bett in meinem Hotel. Von der Straße hallt eine angetrunkene Frauenstimme in mein Zimmer hinein und hält mich vom Schlafen ab: „Wisst ihr, meine Mutter wählt die FDP. Ich bin stolz auf sie, auch wenn die FDP nicht gut ist, denn mein Vater wählt die AfD.“
Sonntag, 7:34 Uhr
Nach dem Aufwachen schaue ich auf die Uhr und mein erster Gedanke ist, dass in weniger als einer halben Stunde die Wahllokale öffnen. Auf Instagram poste ich noch bevor ich aufstehe: „Bitte geht wählen!“. Ich komme mir kurz etwas albern vor, denn alle großen Parteien mit so viel mehr Reichweite haben seit Wochen bereits das selbe getan. Aber immerhin gibt es mir das Gefühl, etwas tun zu können.
Sonntag, 14:15 Uhr
Ich schaue Nachrichten. Die Wahlbeteiligung ist deutlich höher als bei der Landtagswahl vor fünf Jahren. Verlässliche Hochrechnungen gibt es noch nicht, aber in den Schlagzeilen geht es fast durchgehend um die „Wahl im Osten“, mit fragwürdigen Erklärungen, wie sich die neuen Bundesländer von den alten unterscheiden.
Ob sie recht haben, weiß ich nicht. Aber ich habe die Hoffnung, dass Sachsens Gesellschaft mit dieser hohen Wahlbeteiligung zeigt, dass die demokratischen Grundrechte, die wir hier in Deutschland glücklicherweise haben, auch auf demokratischen Wege verteidigt werden.
Mir wird manchmal gesagt, dass ich mit 16 Jahren kaum etwas weiß und zu wenig Erfahrung habe, um Politik zu verstehen. Vermutlich stimmt das, aber ich habe eine sehr klare Vorstellung von meiner Zukunft und sie heißt Demokratie. Eine Demokratie, in der gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Eine tolerante, weltoffene Demokratie, in der man frei miteinander redet, anstatt sich anzufeinden.