Juso-Chef Kevin Kühnert will es besser machen, als die Ex-Juso-Vorsitzenden Gerhard Schröder und Olaf Scholz. Auch die machten einst mit provokanten Thesen auf sich aufmerksam. Gehören solche Aussagen etwa zum Standardrepertoire eines Juso-Vorsitzenden? Das hat unsere Reporterin Isabel Knippel versucht herauszufinden.
Hallo, Kevin! Schön, dass du dir die Zeit nimmst. Wie schätzt du den Einfluss der Forderungen der Jugendpolitiktage auf die Bundespolitik ein: Können die Jugendlichen wirklich etwas verändern?
Alle aktuell relevanten Bewegungen sind Jugendbewegungen. „Fridays for Future“, die Proteste gegen Uploadfilter, das Bündnis „Unteilbar“ – das sind alles Bewegungen, die überwiegend von jungen Menschen getragen werden. Das liegt auch daran, dass unsere Generation zu wenig in Parteien und Parlamenten repräsentiert sind und viele das Gefühl haben: Ich kann nur von außen Einfluss gewinnen, ich muss auf die Straße gehen. Das ist ein richtiger Impuls, aber besser wäre, wenn man ihnen auch Verantwortung gibt und sie in Parlamente bringt. Daher glaube ich, der entscheidende Punkt für Einfluss, wird in den nächsten Jahren die Frage sein: Wer öffnet den Jugendlichen die Tür zu Entscheidungspositionen?
Was könnten die Jugendpolitiktage daran konkret bewirken?
Sie können die Botschaft nach draußen tragen, dass es nicht stimmt, dass die Jugend politikverdrossen ist. Politisch zu sein fängt nicht erst an, wenn ich in eine Partei eintrete. Man kann auch auf andere Art und Weise politisch sein: In Bewegungen, bei Demos, indem ich diskutiere oder mich journalistisch einbringe. Wir haben es mit einer hochpolitischen Generation zu tun.
Kannst du als Juso-Vorsitzender nachhaltig auf die Bundespolitik einwirken, fühlst du dich ernst genommen?
Wir Jusos haben uns in den letzten Jahren enorm Gehör verschafft. Das hat auch damit zu tun, dass wir Lücken und Leerstellen genutzt haben, die andere gelassen haben. Das war ein großes Glück, und trotzdem ist der Umgang manchmal ein wenig ungelenk. Viele wissen nicht, wie sie einen Ende-20-Jährigen behandeln sollen, der politisch aktiv ist. Da wird dann immer auf die Biografie geschaut. Darauf, was er oder sie schon geschafft hat. Und dann werden Kommentare gemacht à la „Milchgesicht“. Viele können sich das nicht verkneifen, es fällt aber immer häufiger auf diejenigen selbst zurück. Wenn ich mich inhaltlich nicht mit einem Thema auseinandersetzen will, dann greife ich jemanden persönlich an. Das mag vor 30 Jahren gut funktioniert haben, heute klappt das glücklicherweise nicht mehr so einfach.
Dein Sozialismus-Interview in der Wochenzeitung Zeit hat viele Diskussionen und Hysterie hervorgerufen. Wie begegnest du der massiven Kritik aus der eigenen Partei?
Ich fand die Kritik gar nicht so viel, ich hatte mit mehr gerechnet. Die zwei bis drei Leute, die sich wirklich übel zu Wort gemeldet haben, wundern mich jetzt nicht. Ich fand es erstaunlich, wie viele zumindest gesagt haben, dass die Fragen richtig gestellt sind – unabhängig davon, ob man mit den Antworten übereinstimmt.
Alle haben gemerkt, auch die, die mir nicht zugestimmt haben, dass es um Grundsätzliches geht. Darüber, wie wir eigentlich zusammenleben. Was überlassen wir dem Markt, was gehört in die Hände der Gesellschaft? Mich nervt es, dass wir immer nur über Symptome diskutieren und nicht über die Ursachen. Ein Beispiel: Wir reden über die schlechte Situation in der Pflege, als wäre das eine Naturkatastrophe, die über uns gekommen ist. Dabei hat es doch damit zu tun, dass wir die Pflege privatisiert haben und bestimmte Leute damit krasse Rendite machen. Ich möchte, dass das in das Bewusstsein zurückkommt. Nach zwei Tagen lächerlicher DDR-Hysterie ist es gut, dass wir mittlerweile beim Kern des Problems angekommen sind.
Es ist nicht neu, dass Juso-Vorsitzende viel Kritik aus der eigenen Partei bekommen. Gerhard Schröder wollte als Juso-Vorsitzender „Vorrechte der herrschenden Klasse beseitigen“. Olaf Scholz forderte „die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie“. Schröder hat später die umstrittene Agenda 2010 umgesetzt und Scholz folgt heute der „schwarzen Null“-Politik der CDU. Verliert man den linken Geist, sobald man in die Bundespolitik geht?
Zur Wahrheit gehört: Ich habe mehr als zwei Dutzend Vorgänger im Amt gehabt. Nur die wenigen, die politisch ganz woanders gelandet sind, fallen einem direkt ein. Die Mehrheit ist ihren Werten ziemlich treu geblieben. Glaubwürdigkeit besteht aber auch nicht darin, über ein ganzes Leben hinweg immer das Gleiche zu sagen. Das wäre überhaupt nicht fortschrittlich. Ich finde es völlig okay, wenn Leute eine Meinung ändern. Es muss aber nachvollziehbar sein. Bei Schröder ist es überhaupt nicht nachvollziehbar und bei Scholz von Fall zu Fall auch sehr schwierig zu verstehen. Ich wehre mich aber gegen diesen Automatismus, dass man von links unten nach rechts oben kommt. Jeder kann bewusst für sich entscheiden, wo man politisch hinsteuert. Ich habe auch keine Lust, mit 50 als Volltrottel in den Chroniken zu stehen.
Gehören Aussagen zum Sozialismus zum Standardrepertoire eines Juso-Vorsitzenden? Glaubst du, deine Aussagen werden in den nächsten Jahren nicht mehr als revolutionär, sondern ganz selbstverständlich diskutiert werden?
Ich bin vor 14 Jahren in einen Verein eingetreten, der „Jungsozialisten und Jungsozialistinnen“ heißt. Ich vertrete diese Standpunkte aus Überzeugung. Diese Positionen standen schon immer in unseren Grundsatzbeschlüssen. Wenn das klar wäre, hätte es vielleicht diese Aufregung nicht gegeben. Ich glaube, dass in Zeiten wie diesen, wo sich soziale Verwerfungen zuspitzen, nicht die Ideen oder Vorschläge im Zeit-Interview radikal sind. Für viele Menschen sind die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal.
Im Gegensatz zu den 70er Jahren unter Schröder als Juso-Vorsitzenden erscheinen unsere Forderungen heute vielen Menschen logisch. Im Silicon Valley wird schon jetzt ganz offen über die Zerschlagung von Digitalkonzernen diskutiert. Ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren in großen Schlüsselunternehmen ganz konkret darüber reden werden, ob wir sie teilweise oder ganz in staatliche Hand überführen lassen wollen.
Diese Themen sprechen ja vor allem junge Menschen an. War dein Zeit-Interview eine Taktik, um junge Wählerstimmen für die SPD bei der Europawahl abzufangen?
Also wenn ich mir anhöre, was manche in meiner Partei über das Interview denken, dann gibt es so kurz vor den Wahlen zumindest mal sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob das jetzt hilfreich war – schließlich sorgt das Interview nun für Diskussionen. Ich habe da eine klare Position. Als wir bei der SPD auf Hundert Seiten die letzte Bundestagswahl und unsere Fehler dabei ausgewertet haben, gab es ein paar spannende Feststellungen.
Die Kernaussage war: Leute, wir müssen aufhören, so taktisch zu sein. Wir müssen aufhören, immer den Finger in die Luft zu halten und zu schauen, wie der Wind gerade steht. Und nur wenn mal keiner zuhört, dann kann man auch mal was Radikales fordern, aber sonst eher nicht. Wir müssen aufhören, zu sagen, dass wir keinen Streit und keine Diskussionen vor Wahlen wollen. So funktioniert Politik nicht. Der wichtigste Satz aus diesem Papier hat sich mir eingebrannt: Eine Partei, die versucht, es allen Recht zu machen, kann es am Ende niemandem recht machen. Danach versuche ich Politik zu machen. Deswegen schaue ich nicht auf den Kalender: Wenn man mich nach meiner ehrlichen Meinung fragt, dann kriegt man die auch.
Ich habe viele kluge Beiträge in den letzten Tagen gehört, denen ich zwar inhaltlich oftmals nicht zugestimmt habe, die aber nicht DDR-Vergleiche gemacht haben, sondern gesagt haben: richtige Fragen, falsche Antworten. Lasst uns diskutieren! So wünsche ich mir eigentlich Demokratie, dass man um offensichtliche Missstände in der Gesellschaft offen ringt und Lösungen sucht. Mehr will ich erstmal gar nicht.