Nach der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel scheinen sich die deutsch-türkischen Beziehungen allmählich zu entspannen – oder? Jan Blanke hat mit dem Politikwissenschaftler Sharo Garip über die Lage in der Türkei gesprochen.
28 Tage vor Deniz Yücel durfte Sharo Garip die Türkei verlassen. Die Anklage gegen beide lautete: Terrorismusunterstützung. Als Terrorist oder Terroristin in der Türkei wird inhaftiert, wer von der Polizei in Verbindung mit dem Putschversuch 2016 oder PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê), der kurdischen Arbeiterpartei gebracht wird. Aufgrund des letzteren Vorwurfs wurde gegen Sharo Garip ein zweijähriges Ausreiseverbot verhängt.
Vor seinem Ausreiseverbot war Garip, der in Deutschland Politologie und Soziologie studierte, Dozent für Politik an der Universität der ostanatolischen Stadt Van. „An der Universität konnte ich alles ohne Zensur unterrichten, ohne Probleme von der Universitätsverwaltung oder der Polizei. Auch der Nationalsozialismus, die PKK, Frauenemanzipation oder Kurdistan waren unproblematische Themen“, so Garip. Als er jedoch im Januar 2016 die Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ unterzeichnete, sollte sich alles ändern.
Gefangen in der Türkei
Mit Garip unterschrieben in der ersten Auflage 1.128 Akademiker und Akademikerinnen die Petition, die eine friedliche Lösung im Konflikt um Kurdistan mit der PKK forderte, der nach den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 neu und gewaltsam aufflammte. Mittlerweile haben 300 der Unterzeichnenden eine 15-monatige Haftstrafe erhalten, weiß Garip zu berichten. Wie auch er wurden beinah alle von ihnen aus dem Universitätsdienst entlassen. Für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft wurden Ausreiseverbote verhängt, zunächst ohne Anklageschrift. Wer einmal aufgrund von Terrorismusunterstützung aus dem Staatsdienst entlassen worden ist, habe kaum eine Chance, erneut eine Anstellung zu finden. Garip wurde von der Deutschen Botschaft mit Sozialleistungen unterstützt. Ansonsten war er auf sich gestellt.
Politik mit zweierlei Maß
Garip fühlt sich alleine gelassen vom deutschen Staat. „Man hätte zum Beispiel Universitätspartnerschaften auf Eis legen können, Delegationen schicken oder medial mehr Druck aufbauen können“, um ein Zeichen zusetzten, dass Deutschland auch am Schicksal von Deutsch-Türken in der Türkei interessiert ist, sagt Garip. Dabei war er zwar einer der ersten Deutsch-Türken, die Restriktionen in der Türkei erfuhren, aber bei Weitem nicht der einzige. Im Jahr 2017 waren laut Informationen des Auswärtigen Amtes bis zu 54 Deutsche in türkischen Gefängnissen inhaftiert. Auf Garips Ausreiseverbot folgten in weniger als einem Jahr unter anderem die Verhaftung von Deniz Yücel (Journalist), Peter Steudner (Menschenrechtsaktivist) und Mesale Tolu (Journalistin).
„Die deutsche Außenpolitik ist ein Skandal. Mit zweierlei Maß kann man keine Politik machen. Auf der einen Seite paktiert Deutschland mit der Türkei, auf der anderen Seite propagiert es die Demokratie und Menschenrechte“, sagt Garip mit verzweifeltem Ton.
Deutschland und die Türkei
Für Ihn ist es unvereinbar, dass Deutschland mit der Türkei kooperiert, aber die im Grundgesetz festgelegten Leitziele der deutschen Außenpolitik Frieden, Abrüstung und die Realisierung der Menschenrechte sind. 2017 wurden Güter im Wert von 21,5 Milliarden Euro in die Türkei exportiert, auf Waffen entfielen dabei 25 Millionen Euro. Die Unterbringung von syrischen Flüchtlingen in der Türkei unterstützt Deutschland mit Milliardenzahlungen. Auch setzt sich Deutschland für die Heranführung der Türkei an die EU ein. All das empfindet Garip als Symptome dafür, dass hier Politik mit zweierlei Maß gemacht werde. Er wirft der deutschen Politik vor, schon viel zu lange zugesehen zu haben. Mit der Armenien-Resolution im Juni 2016 begann die Verhärtung der deutschen Politik gegenüber der Türkei. Als Reaktion verbot die Türkei deutschen Parlamentariern und Parlamentarierinnen den Truppenbesuch in Incirlik. Ein Jahr später kündigte Sigmar Gabriel (SPD) auf der Pressekonferenz des Auswärtigen Amtes eine neue Eskalationsstufe in der Beziehung zur Türkei an. Begründung dafür waren die vielen inhaftieren Deutschen. Reisewarnungen wurden verschärft und angekündigt, die EU-Beitrittsverhandlungen auf den Prüfstand zu stellen. Waffenexporte, die an Nato-Partner normalerweise einfach und schnell genehmigt werden, wurden eingeschränkt, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Die Planung der Luftwaffenverlegung aus Incirlik nach Jordanien wurde im Juli realisiert.
Ausreiseverbot aufgehoben
Zum Ende letzten Jahres kam Tolu frei. Steudner und Yücel folgten. Auch das gegen Sharo Garip verhängte Ausreiseverbot wurde aufgehoben. Er erzählt, dass er froh sei, wieder nach Deutschland zurückkommen zu können. Er sei auch wieder zurück an der Universität und erhält dort ein Postgraduentenstipendium. Der Wechsel in die Lehre an der Universität Köln sei geplant. Währenddessen laufe der Prozess gegen ihn in der Türkei weiter. Was die türkischen Institutionen bewogen hat, die Deutschen frei zu lassen, ist unbekannt. Es wurden bisher noch nicht alle Repressionen gegen deutsche Bürgerinnen und Bürger in der Türkei eingestellt. Laut Recherchen des Mitteldeutschen-Rundfunks (MDR) sitzen nur noch fünf Deutsche aus politischen Gründen in türkischen Gefängnissen. Gegen knapp 30 Personen wurde ein Ausreiseverbot verhängt. Die Haftentlassungen haben Wirkung gezeigt – besonders die von Yücel. In den deutsch-türkischen-Beziehungen stehen die Weichen auf Entspannung. Kurz nach der Freilassung Yücels thematisiert Sigmar Gabriel (SPD) auf der Münchener Sicherheitskonferenz Deeskalationsmaßnahmen: „Wir müssen, glaube ich, dieses Momentum nutzen, jetzt alle Gesprächsformate wieder zu beleben mit der Türkei – wissend, dass das nicht einfach wird, wissend, dass das nicht von heute auf morgen zu ganzen einfachen Zeiten führt.“ Wie schnell der Entspannungskurs mit der Türkei ablaufen kann, wurde Reporterinnen und Reportern von Abgeordneten aus Kreisen des nordrhein-westfälischen Landtags berichtet. So wurden allein im Februar in Nordrhein-Westfalen fünf Demonstrationen gegen den türkischen Einmarsch in Afrin, im Januar dieses Jahres, mit der Begründung abgelehnt, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten der PKK nahestehen. In den Monaten Februar und März wurden nach Yücels Befreiung 31 Rüstungsexporte in die Türkei wieder vollumfänglich genehmigt. Und auch die Wahlkampfauftritte von AKP-Funktionären, die mit der Abstimmung über das türkische Verfassungsreferendum im April 2017 in Deutschland verboten worden sind, dürfen wieder stattfinden. Erst am Donnerstag durfte Bozdağ, der Außenminister der Erdoğan-Regierung in Baden-Württemberg auftreten.
Trotz allem möchte Garip wieder in die Türkei zurückkehren, um seinen Prozess zu führen .