Der Drache Klimawandel

Es ist leicht, Herausforderungen wie den Klimawandel als reines Naturphänomen zu betrachten: Zu viele Klimagase, zu wenige Regenwälder, also wird es heißer und der Ozean größer. Das klingt vielleicht nicht angenehm, aber zumindest verständlich. Es steckt mehr dahinter. Auch eine große Chance. Ein Essay von Philipp Neudert.

Bunte Flyer auf dem Tisch. Ein Kind, das einen Globus umarmt. EINEWELT – Unsere Verantwortung. Meilensteine der Nachhaltigkeitspolitik. Eine Straße, ein Wäldchen, sanfter Morgennebel, den das Sonnenlicht vergoldet. Kein Auto auf der Straße – ist das die Lösung? Weiterblättern. Pflänzchen in Wüstenlandschaften, glückliche Afrikaner*innen bei der Arbeit, Sonnenuntergänge, so geht es weiter – die Bilder versprechen Hoffnung oder wollen ins Herz schneiden. Aber das fällt ihnen immer schwerer – weil die Adressaten sich an die von der Arbeit niedergedrückten Kindergesichter, die brennenden Regenwälder und vergifteten Flüsse gewöhnt haben. Seit Jahrzehnten stattfindende Aufklärungskampagnen, Arte-Dokus und Plakate über Bahnhöfen haben Hässlichkeit und Zerstörung zur standardisierten Ikone gemacht. Fantasie, Fernsehen und Plakate verschwimmen zu einem unklaren Bilderbrei. Stets erschallen die Forderungen: BRING DICH EIN. Oder: Bewegen Sie etwas mit ihrer Geldanlage. Sei einfach mal ein guter Mensch, denn wenn du nicht anfängst, fängt vielleicht niemand an. Und dann sind nicht alle zusammen schuld – sondern du.

Verantwortung?

Klimaschutz, Umweltschutz, sozialer Ausgleich – überall schieben sich große Politik, NGOs und kleine Privatpersonen gegenseitig die Verantwortung zu. Postwendend. Nicht, dass währenddessen gar nichts getan würde. Aber alle sind sich einig, dass das noch lange nicht genug ist. Wer den Rest bis hin zu diesem Genug leisten soll, ist die Preisfrage. Ja, alles hat seinen Preis, und wer soll den bezahlen? Alle, die heute leben, oder alle, die morgen leben – oder vielleicht endlich diejenigen, die aus der massiven Ausbeutung bisher am meisten Nutzen gezogen haben?

Bedroht und zerstört

Wir alle sind bedroht. Wissen wir. Wenn wir weitermachen wie jetzt, zerstören wir Land, Menschen, ganze Zivilisationen. Wissen wir. Veränderte Naturgewalt, Fluten, Dürren, Desertifikation – unser Lebensstil vernichtet Lebensgrundlage. Wissen wir. Auf Armut folgt Instabilität, wissen wir, auf Instabilität Kriege. Wissen wir, wissen wir alles! Und was jetzt? – Es wird schlimmer werden, natürlich. Wir kennen die wissenschaftlichen Fakten, die Prognosen, natürlich. Und die Angst, die kennen wir auch. Natürlich. Aber eben auch das Gefühl, im Supermarkt zu stehen und nicht verzichten zu können, allem Fortschritt zum Trotz muss das täglich Brot her, und obendrauf der tägliche Luxus. Wozu mach ich mir den ganzen Stress? Die auf dem Balkon gezogene Petersilie reicht nicht über den Winter! Und was bleibt von einer auf Arbeit und Konsum ausgerichteten Gesellschaft, wenn man ihr den Konsum wegnimmt?

Die am häufigsten postulierte Antwort: Alles halb so schlimm, viele kleine Schritte in die richtige Richtung werden Großes bewirken. Wir müssen nicht plötzlich auf alles verzichten, damit andere auch leben können und die Welt nicht untergeht. Wir können die Fernreisen, die Whirlpoolwannen und die Unterhaltungselektronik schon behalten – wir müssen nur alles anders herstellen! Erneuerbare Energien, nachhaltige Produktion, schöne Versprechen. Antithese: Wenige Länder, die durch rücksichtsloses Wirtschaften sehr reich und mächtig geworden sind, stellen jetzt einen Klimawandel fest, der nur durch den Verzicht der vielen ärmeren Länder auf mehr Wohlstand gestoppt werden kann – so wird Klimaschutz zur größten repressiven Maßnahme aller Zeiten!

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Das Dilemma der Großen…

Die große Politik steckt in einem Dilemma: Es ist kein Konsens in Sicht, wie man die Klimarettung betreiben soll. Also kann man einerseits auf eigene Faust das Klima zu retten versuchen; damit begibt man sich aber in Gefahr, das eigene Land wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten zu lassen. Der große Knall scheint kurz bevorzustehen. Andererseits kann man die eigene Wirtschaft mehr oder weniger gut auf der Basis von massivem Ressourcenverbrauch und Wachstum weiterpeitschen. Aber dann geht das Klima früher oder später flöten, mit allen daraus entstehenden Kosten. Und Kosten, die lassen Regierungen hellhörig und spontan legislativ werden.

Am besten wäre natürlich, die große Politik fände gemeinsame Regeln, wie man die Emissionen verringern, den Handel fair und die Produktion nachhaltig gestalten kann. Aber das alles hat man nun auch tausendmal gehört und passiert ist wieder nichts. Die Hindernisse sind ja auch massiv: sehr unterschiedliche nationalstaatliche Interessen, sehr unterschiedliche Meinungen, welche Maßnahmen nun wichtig sind und welche nicht, und eine neoliberale Deutungshoheit, die jeder Einschränkung von Handel oder Produktion reflexhafte Watschen verpasst.

…und ihr Hilferuf nach den Kleinen

In dieser verfahrenen Lage ruft die große Politik die vielen kleinen Menschen zur Hilfe: Wenn wir alle gemeinsam was tun, jeder ein bisschen, dann können wir schon viel erreichen. Das ist das Credo. Und wenn Jeder-macht-ein-bisschen nur heißt, dass man sich über Facebook und Twitter bei Textilherstellern über die Produktionsbedingungen beschwert, na und? Ist doch soziales Engagement! Die Strategie hat natürlich Vorteile. Vor allem kostet sie erst einmal nichts und schmeichelt dem Einzelnen: Du, genau du hast die Macht, die Welt zu verändern! – Und es ist auch nicht gesagt, dass das Engagement vieler nichts bewirkt. Trotzdem bleibt es schizophren zu glauben, ein bisschen Zivilgesellschaft könne dem Treiben im Namen jener größten Macht, mit der wir unsere Erde teilen, Einhalt gebieten – der Gier. Wenn das Land durch den Klimawandel knapp wird, könnte ein Landbesitzer denken, dann wird mein Land umso wertvoller. Solange es eben nicht überflutet wird. Lösung: Hochebenen kaufen, einzäunen und politischen Aktivismus gegen Einwanderer betreiben!

Was tun?

Erstmal müssen wir uns von ein paar bequemen, aber gefährlichen Illusionen befreien. Erstens, dass wir einfach weitermachen könnten wie bisher und nur ein bisschen mehr Geld für grüne Energie und Dämmstoffe in Hand nehmen müssten, und dann wird das schon. Nein, ohne Verzicht wird es nicht gehen, und verzichten kann nur das obere Drittel der Weltbevölkerung und ganz besonders die obere Prozent dieses oberen Drittels. Wir werden uns wohl davon verabschieden müssen, für dreizehn Euro mit Ryanair nach Mallorca fliegen zu können, davon verabschieden, zum Preis eines McDonald’s-Menüs Kleiderschränke von Primark-Textilschrott zu erwerben, und uns vor allem von der Annahme befreien, jeder Mensch habe Anspruch auf einen fahrbaren komfortablen Sicherheitsraum aus Blech. Aus der Traum vom unendlichen Fortschritt! Zumindest bis wir einige Planeten finden, welche die uns fehlenden Ressourcen ersetzen, oder die wunderbare Wissenschaft Möglichkeiten findet, die Endlichkeit zu überwinden. Das wäre sowieso der bequemste Ausweg: Darauf vertrauen, dass die Wissenschaft schon Wege findet, quasi unbegrenzt Energie bereitzustellen, Wohlstand einfach weiter zu vermehren und gesellschaftliche Probleme daher unangetastet zu lassen. Damit würden wir aber eine Chance vergeben. Auch das ist ein Credo.

Die große Chance…

Brozenstatuen von Goethe (links) und Schiller (rechts.)
Schiller (rechts) neben seinem Dichterkollegen und Freund Goethe. In Schillers Gedicht „An die Freude“ ist der Gedanke weltumspannender Brüderlichkeit präsent.  Foto: Tino Höfert,  www.jugendfotos.de, CC-Lizenz/3.0

 

 

Das ineinander verzahnte und verworrene Problemknäul, in dem sich ungerechte Verteilung, durch endliche Ressourcen begrenztes Wirtschaftswachstum und die aus dem rücksichtslosem Verbrauch dieser Ressourcen herrührenden Umweltproblemen und der Klimawandel vermischen – das ist nämlich nicht nur ganz schlimm und gefährlich und zum Verzweifeln. Sondern auch eine Chance.

Wir nähern uns gerade einer jener Abzweigungen in der Weltgeschichte, diese Momente, in denen notgedrungen definitive Entscheidungen von größter Wirkungsmacht getroffen werden. Herausforderungen wie der Klimawandel verunmöglichen einen Vielleicht-aber-vielleicht-auch-nicht-Kurs. Entscheidungen müssen her und werden notgedrungen gefällt. Auch durch Nichthandeln. Entweder schaffen wir es gegen den Klimawandel anzukommen oder wir schaffen es nicht. Entweder kommt die internationale Querfront gegen die Selbstzerstörung unserer Welt an oder nicht. Entweder fallen wir ins frühe zwanzigste Jahrhundert zurück und folgen nationalen Simplizismen, die letztendlich in einer Katastrophe enden müssen. Oder wir schaffen endlich den Sprung in eine nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Globalisierung, eine echte und nicht nur symbolhafte symbiotische Union der Völker zu etwas, für das man diesen großen Begriff die Menschheit endlich bedenkenlos verwenden kann. Zum Wohle aller. Ja, ein bisschen Utopismus ist angebracht. Zeiten des Umbruchs fordern auch mal große Worte und Ideen, und wir leben in Zeiten des Umbruchs, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Die Welt mitsamt ihrer fragilen Ordnung kann und wird nicht bleiben, wie sie ist! Um Herausforderung der Dimension eines Klimawandels zu bewältigen, werden gemeinsamen Entscheidungen und Aktionen kommen müssen, von einer Qualität, die effizient zusammenschweißt. Platt gesagt: Wenn wir als Menschheit die Gefahr des Klimawandels überwunden haben werden, wird die Welt eine weitaus bessere sein als jetzt. „Alle Menschen werden Brüder.“ Der Klimawandel ist der Drache, durch den Siegfried erst zeigen kann, dass er ein Held ist.

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