Wenn von Entwicklungszusammenarbeit die Rede ist, denken die meisten an zwei Regierungen an einem Tisch, an Korruption und an Brunnen. Warum dieses Bild teilweise stimmt und wie es verändert werden kann, hat unser Autor Leon Lobenberg im Gespräch mit Vertreter*innen der deutschen Zivilgesellschaft und dem BMZ herausgefunden.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue auf die Weltkarte, die rechts von mir hängt. Sie hängt verkehrt herum – die Welt steht Kopf, mit dem afrikanischen Kontinent in der Mitte. Perspektivenwechsel steht oben drauf und in der Tat ist der „Nahe Osten“ plötzlich sehr nahe an der Stelle, wo mal Washington DC war. Neuorientierung ist angesagt. Auch im Vokabular, das wir nutzen. Denn ist euch aufgefallen, dass ich „verkehrt herum“ geschrieben habe? Eine typisch eurozentristisch wertende Aussage.
Viele Menschen, die diese Karte das erste Mal sehen, reagieren auch so: „Die hängt ja falsch herum“. Oft sind es Leute, die sich selbst als weltoffen und politisch interessiert beschreiben – und es meist auch sind. Die oft nach einer kurzen Erklärung begeistert von der Karte sind und selbst eine bestellen wollen. Der Gedanke, dass die Karte falsch herum hängt, geht trotzdem nicht so leicht weg, auch nicht bei mir. Obwohl ich sie jeden Tag sehe.
Ich glaube, dass es nicht nur uns so geht, sondern der „Entwicklungspolitik“ im Allgemeinen. Genau wie ich meine Karte umgedreht habe, hat die Politik das Wort „Entwicklungshilfe“ genommen, umgedreht und das Resultat „Entwicklungszusammenarbeit“ genannt. Universaler Perspektivenwechsel in den Ministerien. Und genau wie meine Karte sieht das gut aus. Dieses Make-over der deutschen Entwicklungspolitik darf uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir 500 Jahre Kolonialgeschichte nicht mit dem Umdrehen einer Karte ungeschehen machen können: Die Entwicklungspolitik ist immer noch von kolonialen Kontinuitäten durchzogen. Nur anders verpackt.
„Compact with Africa“
Wie diese neue Verpackung aussieht, hat uns vor ein paar Wochen Gerd Müller, Minister des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ), präsentiert: Die Entwicklungspolitik-Reform „BMZ 2030“. Von den bisher 85 Ländern, in denen Deutschland bis jetzt direkt entwicklungspolitisch aktiv war, werden knapp 25 Länder gestrichen. Mit der Begründung, dass diese Länder die Reformbedingungen, die an die „Entwicklungsgelder“ geknüpft sind, nicht genügend erfüllt haben.
Welche Bedingungen? Machen wir einen Sprung zurück in das Jahr 2017, welches die Bundesregierung als „Afrika-Jahr“ ausgerufen hat. Deutschland hatte den Vorsitz der G20 inne und lud zahlreiche internationale Delegationen nach Hamburg ein. Dort wurde unter der Beteiligung diverser afrikanischer Regierungschef*innen die neue Afrika-Strategie des Bundeswirtschaftsministeriums „Compact with Africa“ ins Leben gerufen. Bei diesem sogenannten „Marshall-Plan für Afrika“ – namentlich abgeleitet von einem ehemaligen Konjunkturprogramm der USA für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – geht es fast einzig und allein um die Verbesserung der Investitionsbedingungen im jeweiligen Land für private Investoren.
Bevor die afrikanischen Länder dem Abkommen beitreten können, müssen sie mit Vertreter*innen des IWFs oder der Weltbank darüber verhandeln, welche Investitionshürden im Land abgebaut werden, um die Bedingungen für internationale Investoren zu verbessern. Nachdem die afrikanischen Staaten die Reformen in Gesetzesform gegossen haben und dadurch ausreichend soziale und technische Infrastruktur, wie zum Beispiel Krankenhäuser, privatisiert haben, werden die G20 aktiv: Müller kündigte an, sogenannten „Reformchampions“ in Zukunft mehr „Entwicklungsgelder“ zu zahlen. Aber nicht nur das: Jedem afrikanischen Unterzeichner-Land wird ein G20-Staat zugeteilt. Es werden dann in Zusammenarbeit mit IWF und Weltbank internationale Investoren gesucht. Das Ziel ist die Erhöhung der direkten Privatinvestitionen aus dem Ausland.
Wenn die Reformen fehlschlagen, werden die entsprechenden Länder aus der bilateralen staatlichen „Entwicklungszusammenarbeit“ kurzerhand gestrichen. Dies ist mit „BMZ 2030“ passiert. Begründet wurde dies aber nicht mit dem Scheitern der ausgehandelten Reformen im Zuge des „Compact with Africa“. Müller nannte nur das Scheitern bei der Wahrung von Menschenrechten, der Bekämpfung von Korruption und der guten Regierungsführung als Gründe. Was sich hinter „guter Regierungsführung“ versteckt, wissen wir jetzt zumindest: Verbesserung der Investitionsbedingungen und Privatisierung, damit dort Investoren Zinsen erwirtschaften können.
Diese neoliberale Tendenz der „Entwicklungszusammenarbeit“ schaut auf ein langes koloniales Erbe zurück: Viele Kolonialmächte gestatteten ihren Kolonien im Laufe der Zeit immer mehr Unabhängigkeit, mit der Bedingung, dass Freihandelszonen aufrechterhalten bleiben. So wurde vor allem von Großbritannien aus britisches Kapital in den Kolonien investiert, um eine Anlagemöglichkeit für das ganze Geld im globalen Norden zu finden. Das Offenhalten der Märkte wurde mit der Idee der „Entwicklung“ gerechtfertigt. Kritiker*innen sind jedoch der Ansicht, dass durch Investitionen im ehemals kolonisierten Land koloniale Abhängigkeiten weiterbestehen: Während der Kolonialzeit wurden Rohstoffe aus den Kolonien importiert, im Mutterland verarbeitet und von den Kolonien wieder importiert. Heute produzieren die ehemaligen Kolonien arbeitsintensive Produkte auf geringem Technologieniveau, während die ehemaligen Kolonialmächte high-tech Produkte monopolisieren. Dadurch wird in neokolonialer Manier eine Ungleichheit aufrechterhalten, von der der globale Kapitalismus lebt.
Ich blicke wieder meine Weltkarte an.
Es ist eine politische Karte, auf der nur Staaten verzeichnet sind. Ich merke, wie ich Europa böse fixiere – das sich auf meiner Karte im geographischen Süden befindet, in der Realität da draußen jedoch der globale Norden ist. Der globale Norden, der skrupellos den globalen Süden neoliberalisiert, nur um die Märkte dort offen zu halten. Doch meine politische Karte suggeriert, dass die Staaten die einzigen Akteure in der „Entwicklungszusammenarbeit“ sind. Da ist aber noch die Zivilgesellschaft, die sich organisiert oder unorganisiert zwischen Markt und Staat befindet und eine ebenfalls zentrale Rolle spielt. Kann sie ein Korrektiv der Politik sein?
Zivilgesellschaft wird vom Staat gefördert, in Deutschland, wie auch im globalen Süden. Hier allerdings indirekt. Klaus Wardenbach, stellvertretender Leiter des Referats „Grundsatzfragen der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft; private Träger“ im BMZ, erklärt, dass die „Entwicklungszusammenarbeit“ neben den direkten Zahlungen an den jeweiligen Staat auch die Förderung der Zivilgesellschaft im globalen Süden umfasst. Diese laufe jedoch nicht direkt ab: Die Gelder werden erst an deutsche zivilgesellschaftliche Organisationen gezahlt, die wiederum zivilgesellschaftliche Partner im globalen Süden haben, bei denen die Gelder schlussendlich ankommen. Wardenbach macht klar, dass so verhindert werden soll, dass aus den Beamtenbüros in Bonn ohne Ortskenntnisse wahllos Gelder ausgeschüttet werde. Der Umweg über deutsche NGOs soll Expertise und Austausch auf Augenhöhe gewährleisten: „Die deutschen professionalisierten NGOs haben hier durchaus viele Fortschritte gemacht.“
Der Fokus auf die Förderung der Zivilgesellschaft ist auch Teil der Strukturreform BMZ 2030. Der Rückzug der bilateralen Entwicklungspolitik soll durch zunehmende Förderung von lokalen NGOs aber auch von privaten Hilfsstiftungen, wie der Melinda-und-Bill-Gates-Stiftung, kompensiert werden. Dadurch soll auf lange Zeit ein „Capacity-Building“ gewährleistet werden, also der langsame Aufbau einer Zivilgesellschaft im globalen Süden, die autonom funktioniert und gleichzeitig mit der Zivilgesellschaft im globalen Norden vernetzt ist, so Wardenbach.
Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, wie auf meiner Weltkarte ganz viele Punkte auftauchen – kleine und große zivilgesellschaftliche Akteure, lose und professionalisierte NGOs. Sieht gleich viel schöner aus. Doch die Punkte im globalen Norden sind größer und kräftiger.
Kann also die von Wardenbach beschworene Augenhöhe vorhanden sein?
„Ja“, sagt Christine Meissler, Referentin für den Schutz der Zivilgesellschaft des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt, „die Zivilgesellschaft anderer Länder muss auf der internationalen Bühne unterstützt werden. Brot für die Welt funktioniert hier als Türöffner“. Das evangelische Hilfswerk arbeitet mit Partnern im globalen Süden zusammen und wird hierbei auch vom BMZ finanziell unterstützt. Türen öffnen bedeutet für Meissler, den lokalen Partnern dabei zu helfen, auf dem internationalen Parkett Fuß zu fassen. Es werden Gesprächstermine mit internationalen Organisationen, wie der UN, arrangiert oder gemeinsame Veranstaltungen organisiert.
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sollen damit als Gegengewicht zu den jeweiligen Regierungen funktionieren. Jedoch funktioniert dies laut Meissler nicht nur einseitig: „Der Austausch auf Augenhöhe ist uns extrem wichtig. Brot für die Welt nutzt das gemeinsame Zusammenkommen, um voneinander zu lernen. Es ist kein einseitiger Wissenstransfer“. Die Partner im globalen Süden, zu denen auch Kirchen gehören, werden als sog. „Change Agents“ begriffen, also als Akteure, die Demokratisierungsprozesse und Menschenrechte unterstützen. Dabei setzt Brot für die Welt auf langjährige Partnerschaften, um als „kritischer und konstruktiver Begleiter“ zu fungieren. Nicht nur als reiner Geldgeber. Das bedeutet jedoch auch, dass es eine gemeinsame Wertebasis geben muss. Wenn sich die Partnerorganisation zu sehr von den Vorstellungen von Brot für die Welt entfernt, wird die Förderung abgebrochen: „Es gibt natürlich auch rote Linien“ – wenn Partnerorganisation zu Hass und Gewalt aufrufen würden oder es beispielsweise zu Missbrauch der Gelder komme, werde die Förderung unverzüglich eingestellt.
Ich schaue wieder meine Karte an. Nicht darauf verzeichnet sind neben den NGOs auch die Geldströme, die vom globalen Norden in den globalen Süden fließen. Gebunden an staatliche Reform-Bedingungen oder an Werte, wie die von Brot für die Welt.
Sieht nicht so nach Augenhöhe aus.
„Wir müssen die Befreiungsprozesse von den am meisten Ausgegrenzten betrachten“ sagt Werner Rätz, Mitgründer von Attac, einem globalisierungskritischen Netzwerk. Mit „wir“ meint Rätz den privilegierten Teil der Weltbevölkerung, auch bekannt unter dem Begriff „globaler Norden“, der sich nicht auf den geographischen Norden bezieht, sondern auf die sozioökonomischen Lebensbedingungen der Menschen. Nach Rätz sollte die „Entwicklungszusammenarbeit“ die Logik umdrehen: „Die Aufgabe des privilegierten Teils des globalen Nordens bestehe darin, die Befreiungsprozesse vom globalen Süden her zu denken“. Dies hat nach Rätz mehrere Vorteile: Zum einen würden die direkten Bedürfnisse der Gesellschaft im globalen Süden berücksichtigt werden, was in der staatlichen „Entwicklungszusammenarbeit“ häufig nicht passiert. Zum anderen würden marginalisierte Gruppen in Deutschland – der globale Süden befindet sich somit auch in hier – vom Austausch mit den marginalisierten Gruppen des geographischen Südens profitieren: „In Deutschland haben wir das Problem, dass die Organisationsprozesse des globalen Südens (also der ausgegrenzten Gruppen) so gering sind, dass wir sie politisch nicht zur Kenntnis nehmen. Wir sind in unserem globalen-Norden-Sumpf“. Dies könne durch die Kooperation mit Zivilgesellschaft aus anderen Ländern korrigiert werden. Der globale Norden schaffe dies nicht: „Man muss mit einem privilegierten Kopf von den unterprivilegierten her denken, das geht meistens schief“.
Meine Augen zucken unwillkürlich zur Weltkarte. Ist das Umdrehen der Versuch, mit meinen Privilegien die Nicht-Privilegierten Positionen mitzudenken? Ich fühle, dass ich daran scheitere. Immer noch sagt irgendwas in mir, dass die Karte falsch herum hängt.
Wie kann das vermieden werden?
Wardenbach weist darauf hin, dass eine strukturelle Änderung der Entwicklungspolitik notwendig ist, um nachhaltige „Entwicklungserfolge“ zu erreichen. Zum einen müsse die ebenfalls vom BMZ geförderte entwicklungspolitische Bildungsarbeit (z.B. die Finanzierung von Konferenzen wie die der „Eine-Welt-Konferenz NRW“) in Deutschland weiter ausgebaut werden. Zum anderen müsse es Reformen der Strukturen, wie z.B. der Weltwirtschaft geben: „Reicht die Förderung von kleinen Projekten aus, oder sind nicht vielmehr Strukturveränderungen notwendig?“. Vor allem vor dem Hintergrund des Klimawandels stellt Wardenbach das Entwicklungsparadigma in Frage: „Auch Deutschland ist ein Entwicklungsland und nur durch gemeinsame Anstrengungen können wir letztendlich die globalen Probleme lösen.“ Reformen auf beiden Seiten also.
Meissler ist mit dem Ansatz „Voneinander-Lernen“ sehr nahe an dieser Position. Als „kritisch-reflektierter Akteur“ sei Brot für die Welt ein „Promotor für die Zivilgesellschaft“, der gemeinsam mit lokalen NGOs und Projekten versuche, den rechtlich-administrativen Rahmen so zu beeinflussen, dass ein vitaler Raum für die Zivilgesellschaft geschaffen wird. Brot für die Welt kämpft für eine Welt, in der alle am gleichen Strang ziehen – die Zugrichtung wird jedoch aus Deutschland abgesegnet.
Rätz kritisiert genau das, sowie die Position vom BMZ: „Es geht darum, zu schauen, was ist an eigenen Potenzialen und eigenen Bedürfnissen vor Ort vorhanden ist und wie man das stark machen kann“. Viel diskutiert bei Attac wurde der Vorschlag von Medico International, eine medizinisch ausgerichtete Hilfsorganisation. Medico International würde in den jeweiligen Ländern schauen, was es für aktive, selbstorganisierte Projekte gibt, die an Grenzen stoßen, bei denen Medico International dann helfen könnte. Nicht wie bei Brot für die Welt geht es darum, zu schauen, welche Projekte dem eigenen Werte-Empfinden entsprechen, die dann gefördert werden. Vielmehr sollten die Kooperationsinitiativen nicht aus dem globalen Norden kommen, sondern es sollte lediglich auf die Bedürfnisartikulation aus dem globalen Süden gehört werden.
Die globale Zivilgesellschaft als Antwort.
Einig sind sich alle drei, dass die Zivilgesellschaft gestärkt werden müsse. Sie bleibe nötig, damit es ein Korrektiv zu Staat und Markt gäbe und sie ihre „Watchdog-Funktion“ ausführen könne. Zudem müsse die Zivilgesellschaft immer mehr auch global gedacht werden. Politik findet nur noch selten auf nationalem Parkett statt und so müsse auch Zivilgesellschaft international verbunden sein. Rätz sieht hier die größte Aufgabe: „Es gibt keine globale Öffentlichkeit. Diese ist aber die Voraussetzung für Zivilgesellschaft“. Alle drei wollen diese Aufgabe angehen. Das BMZ mit Fördermitteln, Brot für die Welt mit Kooperationen auf Augenhöhe und Attac mit einem offenen Ohr für Bedürfnisse aus dem globalen Süden.
Ich schaue wieder auf meine Karte. Es beruhigt mich, dass Menschen wie Wardenbach, Meissler und Rätz der bilateralen staatlichen Entwicklungspolitik etwas entgegensetzen. Durch die Förderung von Zivilgesellschaft in Deutschland wie auch im globalen Süden wird eine globale Öffentlichkeit geschaffen, die als Korrektiv der internationalen Politik dienen kann – damit die einzigen globalen Akteure nicht nur die Wirtschaft und die Politik bleiben. Allerdings bedarf es auch hier eines kritischen Bewusstseins gegenüber kolonialen Kontinuitäten. Irgendwann macht es dann vielleicht wirklich keinen Unterschied mehr, wie rum ich meine Weltkarte hänge.