Politik macht krank – Eine These, die durch sämtliche Beispiele von Rücktritten und öffentlichen Statements von Abgeordneten getragen wird. Warum ist das so?

Als von ausgewählten Menschen vertretene Demokratie verlangen wir von unseren Politiker*innen, dass sie möglichst schnell und möglichst bald etwas bewirken. Von der Ampel und besonders den Grünen waren viele umweltbewusste, junge Menschen in den letzten Jahren enttäuscht. Dabei blenden wir aus, dass Politik aus Kompromissen und die Ampel nicht nur aus den Grünen bestand.
In der Politik müssen gewählte Vertreter*innen dauerhaft mit der Krux umgehen, dass sie machtloser sind, als sie vor dem Wahlkampf angepriesen haben. Stressfrei geht anders.
Internationale, aber auch nationale Politik hat keinen Feierabend. Die vielen Krisen unserer Zeit kommen wie unendliche Berge aus Akten auf den Schreibtischen der Politiker*innen an. Während eine Aufzählung wie Klimakrise, marode Schulen, Lehrkräftemangel, Überbelastung beim Pflegepersonal, Ukrainekrieg, Welthunger und so weiter bei den meisten von uns Weltschmerz und Verzweiflung verursachen würde, müssen Politiker*innen für all das einen Ausweg finden.
Was ist eine angemessene Bezahlung?
Aber man werde dafür ja unverschämt entlohnt, würden Zyniker*innen nun sagen. Und ja, das ist nicht von der Hand zu weisen. Ohne Nebeneinkünfte und steuerfrei wird eine*r von den 736 Bundestags-Abgeordneten, die wir mit unseren Steuern finanzieren, laut offizieller Bundestag-Webseite mit monatlich 11.227,20 Euro nach Hause geschickt. Das klingt vor allem für diejenigen ungerecht, die selbst unter Dauerstress in Krisenarbeitsfeldern wie der Pflege tätig sind und darauf warten, dass sich der untragbaren Überbelastung und Unterbezahlung des Personals politisch angenommen wird.
Im Gespräch mit politikorange kritisiert Antje Kapek von den Grünen allerdings das Unverständnis über den Lohn der Politikschaffenden. Sie meint, würde man alle Stunden – 24 pro Tag, 7 Tage die Woche – an denen sie erreichbar und arbeitsfähig sein muss, zusammenzählen, käme man „auf einen Stundenlohn von 2€“. Politik sei, wie andere Berufe auch, von unschaffbaren Arbeitsbedingungen geprägt und für die Menschen burnoutgefährdend. Politik beinhalte wie der Pflegeberuf zwar Nachtschichten, biete aber einen großen Raum, die eigenen Visionen zu verwirklichen, und auch sonst mehr Macht, räumte sie ein.
Das Universum der Arbeitstiere
Ricarda Lang trat im vergangenen Jahr vom Vorstand der Grünen zurück und gab an, ihre öffentliche Persona hätte sich zu weit von ihr als Mensch, aber auch von allen Menschen entfernt. „Ich hatte meine Unbekümmertheit verloren, sprach schablonenhaft“, sagte sie in einem Interview mit der Bunten und betonte dabei, dass eben auch Politiker*innen Menschen sind.
Wir sehen: Es kann niemand perfekt sein, der oder die auch einmal die menschlichen Grundbedürfnisse erfüllen möchte und solange wir uns keine Roboter, sondern Menschen im Amt wünschen, sollten wir vielleicht darauf achten, dass diese nicht den Bezug zur Außenwelt und sich selbst durch ein immenses Arbeits- und Öffentlichkeitsarbeitspensum verlieren.
In einem Interview mit dem SZ-Podcast „Auf den Punkt“ sprach Michel Roth als Bundestagsabgeordneter der SPD auch über das „dicke Fell“, das viele in der Politik versucht hätten, aufzubauen. Er wünschte sich mehr Ehrlichkeit, auch zu sich selbst und einen offeneren und gesünderen Umgang mit Stress. Roth spricht von einer „Hektik“ im Politikwesen, von der man sich leicht anstecken lasse. Er skizziert ein Universum der Arbeitstiere, die schon längst keinen gesunden Schlaf- oder Lebensrhythmus haben.
Roth plädiert dafür, dass eben die Menschen, die kein „dickes Fell“ haben und sensibel sind, trotzdem in die Politik gehen und dort authentisch und achtsam wirken sollen. Er ist der Auffassung, dass die Politik, wenn nur diejenigen übrig bleiben, die nächtelang auf Schlaf und alle anderen Bedürfnisse wie Freizeit verzichten können, ihre Beziehung zum Volk endgültig verliert.
Kaum Frauen im 24-Stunden-Business
Die wöchentlichen Arbeitszeiten Abgeordneter sind teils dreistellig. Neben parlamentarischen Tätigkeiten, Talkshows, Besuchen bei Veranstaltungen, öffentlichen Reden und nie endenden Konferenzen, können Familie und Privatleben schnell zu kurz kommen. Das wiederum kann sich nicht jede*r leisten und die ‘Altherrenriege’ im Bundestag entsteht schnell. Denn: Wenn Politik mehr als ein Vollzeitjob ist, fällt es schwer, eine Frauenquote einzuhalten und ein Geschlechtergleichstand scheint weit entfernt.
Frauen, die ohnehin durch häufigere Elternzeit und Care-Arbeit weniger Kapazitäten und mehr Stress haben, werden bei durchschnittlich 80-Stunden Wochen immer rarer im Bundestag. Wir suchen nach mehr Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen, aber unser System bestraft die, die es sich nicht erlauben können, den Beruf vor die Familie zu stellen. Vielleicht, weil sie alleinerziehend sind oder gesellschaftlich mehr Investition in die Familie gefordert und erwartet wird.
Der Fall Anne Spiegel zeigte 2021: Eine Ministerin muss erreichbar sein. Immer. Zehn Tage nach der Flutkatastrophe im Juli ist sie mit Mann und Kindern in den Urlaub gefahren. Und weil sie nicht irgendeinen Job, sondern den der Ministerin innehatte, war das nicht in Ordnung. Sogar so verheerend für ihren Ruf, dass sie schlussendlich zurücktrat. Es spielte keine Rolle, dass ihre Kinder und ihr Mann das laut eigenen Aussagen dringend gebraucht hatten. Privates war zweitrangig. Gerade als Familienministerin wurde von ihr verlangt, Kinder und Politik mit einem Positivbeispiel unter einen Hut zu bringen. Juli 2021 dann ein privater Schicksalsschlag und ihre vier Kinder waren ihr einmal wichtiger gewesen als ein Kabinett. In ihrer darauffolgenden Rede bat sie um Entschuldigung „für diesen Fehler“.
Zeitlich begrenztes Mandat? Es ist kompliziert.
Carola Rackete – Ex-Kapitänin, Aktivistin und Spitzenkandidatin der Linken bei der Europawahl – hatte im Interview mit web.de vorgeschlagen, ein Mandat zeitlich zu begrenzen, wie in den USA den Präsident*innenposten. Racketes Idee könnte das Problem der teils zu zeit- und ressourcenintensiven Arbeit lösen, da weniger Durststrecken entstehen, auf denen Politiker*innen mit Schuldgefühlen einem unerreichbaren Ideal hinterherlaufen. Um wirklich Burnouts zu vermeiden, dürfte die Zeitspanne aber nicht besonders viele Legislaturperioden umfassen. Jedoch würde so niemand der Politiker*innen lang genug im Amt bleiben, um sich in das Geschehen einzuarbeiten, und diese Unerfahrenheit könnte schnell zum Verhängnis werden. Abstimmungen würden sehr wahrscheinlich häufig scheitern, da dienstältere Politiker*innen oft kompromisserprobter und -bereiter sind.
Schlussendlich gibt es noch keine ideale Lösung für das Problem. Die Demokratie ist durch ihre Vielfalt und den Versuch der größtmöglichen Gerechtigkeit für alle zwar nicht die effizienteste Form der Entscheidungsfindung, aber es ist die beste, die wir haben. Und genauso wie es keine Alternative zu ihr als Konzept gibt, gibt es keine Alternative zu menschlichen Politiker*innen.
Menschen sind fehlbar und haben Bedürfnisse. Natürlich hat es eine Berufspolitikerin besser als ein Krankenpfleger, monetär gesehen. Politikschaffende haben viel Macht und sollten ihrer Verantwortung definitiv gerecht werden. Aber nur weil eine Verantwortung mit Privilegien einhergeht, kann sie nicht das Unmenschliche von Personen verlangen.
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