„Manche werden irgendwann hier in Deutschland heimisch werden“

Er war der erste Politiker, der gesagt hat, der Islam gehöre zu Deutschland. Wie sieht er diesen Satz heute? Stefanie Huschle, Teilnehmerin des Jugendmedienworkshops 2016, hat den deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) interviewt und mit ihm über die Türkei und die aktuelle Situation von Geflüchteten gesprochen.

Stefanie Huschle im Gespräch mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Foto: Stephanie Beutler.
Stefanie Huschle im Gespräch mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Foto: Stephanie Beutler.
Was bedeutet Heimat für Sie?

Für mich ist Heimat zum einen der Ort, an dem ich aufgewachsen bin – obwohl ich da gar nicht mehr oft hinkomme, denn meine Eltern und meine Brüder sind tot. Aber da empfinde ich die Erinnerung an meine Kindheit. Und natürlich ist Heimat auch dort, wo die eigenen Kinder groß geworden sind und wo man lebt. Zwar bin ich momentan mehr in Berlin als in Offenburg, aber Heimat ist und bleibt die Ortenau. Wenn der SC Freiburg aufsteigt, ist das für mich wichtiger, als wenn Union Berlin aufsteigt.

Sie haben vor 10 Jahren als erster Politiker in Deutschland gesagt der Islam ist ein Teil von Deutschland. Erinnern Sie sich?

Ja, sehr gut sogar!

Wie stehen Sie dazu heute?

Naja, das ist unbestreitbar wahr, nicht? Dass der Islam ein Teil von Deutschland ist, war schon 2006 offensichtlich. Deswegen habe ich damals gesagt: Die Menschen aus dem islamischen Kulturkreis machen einen erheblichen Teil unserer Bevölkerung aus. Darauf müssen wir uns einstellen. Wir müssen den Muslimen sagen, wenn ihr in Deutschland lebt, müsst ihr auch die deutsche Ordnung kennenlernen und hier heimisch werden. Und umgekehrt müssen wir dazu stehen, dass die Muslime zu uns gehören. Damals habe ich die Islamkonferenz gegründet. Inzwischen gibt es Ausbildungen in islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Diejenigen, die behaupten, der Islam gehört nicht zu Deutschland, haben genauso wenig Recht, wie diejenigen, die jetzt aus der Türkei eine islamische Rechtsordnung machen wollen.

Wo begegnet Ihnen der Islam im Alltag?

Viele Muslime sind mir gegenüber sehr freundlich. Sie wissen, dass ich mich früh für sie eingesetzt habe und dass ich dafür eintrete, dass sie und vor allem ihre Kinder die deutsche Sprache lernen. Es ist eine Bereicherung für uns, wenn Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland kommen und uns neue Dinge bringen. Schauen Sie nur in die Nachkriegsjahrzehnte: Wenn wir keine Italiener hätten, wenn wir weder Pizza noch Spaghetti kennen würden, das wäre doch furchtbar. Die neuen Migranten bereichern uns auch.

Anfang des Jahres meinten Sie, die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge sollte der Normalfall sein. Soll Deutschland für die Geflüchteten keine neue Heimat werden?

In Syrien ist Krieg, in Afrika gibt es Dürreperioden, wir werden einen Klimawandel erleben. Nicht alle Menschen auf der Welt, die fliehen müssen, werden nach Deutschland oder Europa kommen können. Der Staat kann nicht barmherzig sein, er muss gerecht sein, das ist ein Unterschied. Wir werden mehr Menschen aufnehmen und diese Menschen auch gut behandeln. Doch wir müssen Hilfsbereitschaft und die Aufrechterhaltung der Ordnung miteinander vereinbaren.

Soll nun Deutschland für die Flüchtlinge zur Heimat werden?

Für die Menschen, die dauerhaft hierbleiben können: ja. Denen, die nicht dauerhaft hierbleiben können, wollen wir helfen – auch dabei, dass sie möglichst schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Also: Die Heimat bleibt Syrien?

Ja gut, manche werden irgendwann hier in Deutschland heimisch werden. Wer hier bleiben möchte und sich gut integriert hat, wer auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich ist, der kann auch bleiben. Wir werden ohnedies durch die demographische Entwicklung mehr Zuwanderung und junge Menschen brauchen. Nur muss es alles im Maß gehalten werden.

Sie haben die Aussage Frauke Petrys zum Einsatz von Schusswaffen an der deutschen Grenze stark kritisiert. Wie rechtfertigen Sie die Tatsache, dass die Türkei finanzielle Mittel von der EU erhält, obwohl dort laut Human Rights Watch an der Grenze auf Flüchtlinge geschossen wird?

In der Türkei ist sicherlich nicht alles in Ordnung, aber man muss fair über die Türkei urteilen. Die Türkei hat mindestens 2,5 Millionen Menschen aufgenommen und unternimmt große Anstrengungen, um die Kinder in die Schule zu bringen. Zwischendurch haben sie mal die Grenze geschlossen, weil sie sagen, zu viele können sie auch nicht aufnehmen. Sie befinden sich ja in unmittelbarer Nachbarschaft zu Syrien. Dass sie schießen, ist mir nicht bekannt, und das ist auch keine Rechtfertigung dafür, unverantwortliches Zeug zu reden.

Die Frage bezog sich nicht auf die Aufnahmebereitschaft der Türkei, sondern auf die menschenrechtlichen Probleme, die dort existieren.

Natürlich macht die Türkei Dinge, die gar nicht mit unseren Werten zu vereinbaren sind. Die Einschränkungen der Pressefreiheit und vieles andere mehr sind überhaupt nicht in Ordnung. Trotzdem müssen wir anerkennen, was die Türkei leistet, und ihr die Partnerschaft anbieten, statt sie von oben herab zu kritisieren. Die Türkei hat doppelt so viele Flüchtlinge aufgenommen wie ganz Europa und braucht  sich in der Hinsicht von den Europäern keine Belehrungen anzuhören.

Benötigen wir die Hilfe der Türkei, um die Flüchtlingskrise zu meistern?

Klar, wir müssen mit den Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, und mit deren Nachbarländern kooperieren. Wir werden dafür viel mehr Hilfe leisten müssen, als wir es bisher gewohnt waren. Da kommt einiges an Aufgaben auf uns zu. Wir können nicht auf einer Insel der Seligen leben, alles, was wir produzieren in alle Welt exportieren, und sagen: im Übrigen wollen wir von der Welt nichts wissen.

Sie wissen sicher ganz gut über die Welt Bescheid, schließlich sind Sie der dienstälteste Abgeordnete im Bundestag. Hat sich in Deutschland seit Antritt ihrer Amtszeit 1972 zum Besseren oder zum Schlechteren gewandelt?

Das kann man so nicht sagen. Deutschland war 1972  ganz anders als heute. (Zeigt auf das Diktiergerät) Solche Geräte gab’s damals nicht. Unser Land, wie alles andere auch, wandelt sich wahnsinnig schnell. Wir sind hier in einem Gebäude, das damals das Haus der Ministerien der DDR war. Man kam nur mit Passierschein überhaupt nach Ostberlin, und man konnte sich gar nicht vorstellen, dass Berlin einmal nicht mehr durch eine Mauer geteilt werden wird. (Zeigt aus dem Fenster) Dort drüben ist sie verlaufen, und jetzt können sich viele nicht mehr vorstellen, dass da mal eine Grenze war. Schauen Sie, als ich so jung war wie Sie, bin ich zum ersten Mal zum Skifahren in die Alpen gekommen. Das ist heute auch anders. Meine Kinder waren im Schüleraustausch in Amerika und was alles noch – wie viele junge Leute. Das ist eine andere Welt. Deutschland hat sich sehr entwickelt. Die älteren Menschen meinen immer, es sei früher besser gewesen. Ich glaube das nicht. Wir haben heute mehr Möglichkeiten, als wir jemals hatten. Wir leben nun seit über 60 Jahren in Frieden, in einem im internationalen Vergleich enormen Wohlstand. Worüber klagen?
Das Interview wurde am 27. April 2016 im Bundesfinanzministerium geführt.

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